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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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Theramenes. die politische litteratur Athens.
läumderisch war, sah derselbe an Solon, und da rügte er es. aber über
Themistokles und Perikles hat er ihm glauben geschenkt. diese in-
consequenz zu erklären, müssen wir noch zwei factoren in rechnung
setzen, den hass des Aristoteles selbst gegen den demos und seine un-
fähigkeit, die attische Reichspolitik zu verstehn. das geht nur den
Aristoteles an und gehört an einen anderen platz: hier kann ich nicht
umhin, auszuführen, was meines erachtens geeignet ist, das buch des
Theramenes begreiflich zu machen. meine vermutung hat es doch erst
hervorgezogen; wenn sie falsch sein sollte, hat sie es erfunden. ich
will angeben, an welche stelle der litterarischen entwickelung und der
politischen kritik es gehört: ich will wenigstens stilgerecht erfunden
haben.

Die prosa ist in Ionien an die stelle des epos getreten. an dieDie
politische
litteratur
Athens.

stelle des heldenliedes trat die prosaische bearbeitung des sagenstoffes,
wie im Norden die saga, bei uns das volksbuch. an die stelle der
epischen dichtung über himmel und schöpfung, ferne länder und sitten,
lebensführung und lebensziel tritt das prosabuch über dieselben gegen-
stände. der epischen form bedient sich die nautike astrologia des
s. g. Thales und dann Kleostratos, episch sind die Arimaspeia, die
gnomai des Phokylides, die aletheia des Parmenides. die physik des
Anaximandros und seiner genossen, die istorie des Hekataios, der logos
des Herakleitos sind ihre prosaischen nachfolger. die prosa Ioniens
arbeitet sich zu einer kunstform durch70) und gewinnt wie das epos (im
mutterlande auch die chorische lyrik) panhellenische geltung. es hätte
sich gewiss auch die prosaische politische rede und schrift an stelle der
politischen paraenese individueller art, wie sie Archilochos und Kallinos
geübt hatten, nicht ohne bedeutendere nachfolger im mutterlande zu
finden, entwickelt, wenn es bei den Ioniern noch ein politisches leben
gegeben hätte. aber Ionien war tot, oder vielmehr es erhielt sein leben
wo anders her, aus Athen, und deshalb ist in Athen die elegie des Solon
durch die politische schriftstellerei der Antiphon Theramenes Kritias
ersetzt worden.

Unsere tradition über den ursprung der beredsamkeit ist von Aristo-
teles begründet, und ganz derselbe fehler, der ihn der attischen politik
gegenüber ungerecht gemacht hat, hat ihn die bedeutung der politischen

70) Eine sehr wichigte beobachtung ist die von Kaibel, dass die Ionier selbst
auf den grabsteinen und in den dedicationen die verse durch kunstmässige prosa
ersetzen, nicht etwa durch die schlichte tatsächlichkeit, wie in Athen oder in dem
Rom der republik.

Theramenes. die politische litteratur Athens.
läumderisch war, sah derselbe an Solon, und da rügte er es. aber über
Themistokles und Perikles hat er ihm glauben geschenkt. diese in-
consequenz zu erklären, müssen wir noch zwei factoren in rechnung
setzen, den haſs des Aristoteles selbst gegen den demos und seine un-
fähigkeit, die attische Reichspolitik zu verstehn. das geht nur den
Aristoteles an und gehört an einen anderen platz: hier kann ich nicht
umhin, auszuführen, was meines erachtens geeignet ist, das buch des
Theramenes begreiflich zu machen. meine vermutung hat es doch erst
hervorgezogen; wenn sie falsch sein sollte, hat sie es erfunden. ich
will angeben, an welche stelle der litterarischen entwickelung und der
politischen kritik es gehört: ich will wenigstens stilgerecht erfunden
haben.

Die prosa ist in Ionien an die stelle des epos getreten. an dieDie
politische
litteratur
Athens.

stelle des heldenliedes trat die prosaische bearbeitung des sagenstoffes,
wie im Norden die saga, bei uns das volksbuch. an die stelle der
epischen dichtung über himmel und schöpfung, ferne länder und sitten,
lebensführung und lebensziel tritt das prosabuch über dieselben gegen-
stände. der epischen form bedient sich die ναυτικὴ ἀστϱολογία des
s. g. Thales und dann Kleostratos, episch sind die Ἀϱιμάσπεια, die
γνῶμαι des Phokylides, die ἀλήϑεια des Parmenides. die physik des
Anaximandros und seiner genossen, die ἱστοϱίη des Hekataios, der λόγος
des Herakleitos sind ihre prosaischen nachfolger. die prosa Ioniens
arbeitet sich zu einer kunstform durch70) und gewinnt wie das epos (im
mutterlande auch die chorische lyrik) panhellenische geltung. es hätte
sich gewiſs auch die prosaische politische rede und schrift an stelle der
politischen paraenese individueller art, wie sie Archilochos und Kallinos
geübt hatten, nicht ohne bedeutendere nachfolger im mutterlande zu
finden, entwickelt, wenn es bei den Ioniern noch ein politisches leben
gegeben hätte. aber Ionien war tot, oder vielmehr es erhielt sein leben
wo anders her, aus Athen, und deshalb ist in Athen die elegie des Solon
durch die politische schriftstellerei der Antiphon Theramenes Kritias
ersetzt worden.

Unsere tradition über den ursprung der beredsamkeit ist von Aristo-
teles begründet, und ganz derselbe fehler, der ihn der attischen politik
gegenüber ungerecht gemacht hat, hat ihn die bedeutung der politischen

70) Eine sehr wichigte beobachtung ist die von Kaibel, daſs die Ionier selbst
auf den grabsteinen und in den dedicationen die verse durch kunstmäſsige prosa
ersetzen, nicht etwa durch die schlichte tatsächlichkeit, wie in Athen oder in dem
Rom der republik.
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[169/0183] Theramenes. die politische litteratur Athens. läumderisch war, sah derselbe an Solon, und da rügte er es. aber über Themistokles und Perikles hat er ihm glauben geschenkt. diese in- consequenz zu erklären, müssen wir noch zwei factoren in rechnung setzen, den haſs des Aristoteles selbst gegen den demos und seine un- fähigkeit, die attische Reichspolitik zu verstehn. das geht nur den Aristoteles an und gehört an einen anderen platz: hier kann ich nicht umhin, auszuführen, was meines erachtens geeignet ist, das buch des Theramenes begreiflich zu machen. meine vermutung hat es doch erst hervorgezogen; wenn sie falsch sein sollte, hat sie es erfunden. ich will angeben, an welche stelle der litterarischen entwickelung und der politischen kritik es gehört: ich will wenigstens stilgerecht erfunden haben. Die prosa ist in Ionien an die stelle des epos getreten. an die stelle des heldenliedes trat die prosaische bearbeitung des sagenstoffes, wie im Norden die saga, bei uns das volksbuch. an die stelle der epischen dichtung über himmel und schöpfung, ferne länder und sitten, lebensführung und lebensziel tritt das prosabuch über dieselben gegen- stände. der epischen form bedient sich die ναυτικὴ ἀστϱολογία des s. g. Thales und dann Kleostratos, episch sind die Ἀϱιμάσπεια, die γνῶμαι des Phokylides, die ἀλήϑεια des Parmenides. die physik des Anaximandros und seiner genossen, die ἱστοϱίη des Hekataios, der λόγος des Herakleitos sind ihre prosaischen nachfolger. die prosa Ioniens arbeitet sich zu einer kunstform durch 70) und gewinnt wie das epos (im mutterlande auch die chorische lyrik) panhellenische geltung. es hätte sich gewiſs auch die prosaische politische rede und schrift an stelle der politischen paraenese individueller art, wie sie Archilochos und Kallinos geübt hatten, nicht ohne bedeutendere nachfolger im mutterlande zu finden, entwickelt, wenn es bei den Ioniern noch ein politisches leben gegeben hätte. aber Ionien war tot, oder vielmehr es erhielt sein leben wo anders her, aus Athen, und deshalb ist in Athen die elegie des Solon durch die politische schriftstellerei der Antiphon Theramenes Kritias ersetzt worden. Die politische litteratur Athens. Unsere tradition über den ursprung der beredsamkeit ist von Aristo- teles begründet, und ganz derselbe fehler, der ihn der attischen politik gegenüber ungerecht gemacht hat, hat ihn die bedeutung der politischen 70) Eine sehr wichigte beobachtung ist die von Kaibel, daſs die Ionier selbst auf den grabsteinen und in den dedicationen die verse durch kunstmäſsige prosa ersetzen, nicht etwa durch die schlichte tatsächlichkeit, wie in Athen oder in dem Rom der republik.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 169. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/183>, abgerufen am 26.04.2024.