Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

Bild:
<< vorherige Seite

I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
ist, dass die schliessliche entscheidung in allen sachen bei dem ge-
schwornengerichte liegt, zu dem alle bürger qualificirt sind. und diese
wurzel ist solonisch, er hat diesen heillosen zustand selbst beabsichtigt,
hat er doch sogar die gesetze absichtlich zweideutig gemacht, damit die
leute mehr prozessirten, z. b. die testirfreiheit durch eine menge captiöser
ausnahmen beschränkt. wie sollte es anders sein, als dass dem herren,
dem in den gerichten ohne verantwortlichkeit schaltenden demos, zu liebe
immer gewissenlosere demagogen seine gelüste befriedigten? da ist
Themistokles, den sie wegen Salamis verherrlichen; nun um Salamis hat
das eigentliche verdienst der Areopag, und eben den hat Ephialtes auf
den antrieb des Themistokles gestürzt. der aufschwung Athens in jener
zeit hatte in wahrheit den grund, dass der demos dem Areopage still-
schweigend das regiment liess: hätte man es ihm nur nicht genommen;
nun, den urhebern der änderung ist's schlecht genug bekommen,
Themistokles ist landflüchtig bei den Persern gestorben, Ephialtes
durch einen Tanagraeer meuchlings ermordet. da loben sie den Ari-
steides als den gerechtesten der Hellenen: aber diese gerechtigkeit läuft
darauf hinaus, dass jetzt 20000 bummler auf kosten der bündner futter
bekommen. natürlich passt das den bündnern nicht, und wir haben
den krieg. schliesslich hat Perikles (übrigens ein mensch ohne eigne
gedanken, so dass sie ihm Damonides einblasen musste) das mass voll-
gemacht und den richtern für ihre staatsverderbende tätigkeit sold be-
zahlt. es war das unglück, dass die anständigen leute in der kritischen
zeit keinen führer hatten 67); dem Kimon fehlte es am besten, um diese
stellung mehr als dem namen nach auszufüllen. nach Perikles, der immerhin
noch ein mann aus anständiger familie war, müssen wir die lohgerber
und lichtzieher in hemdsärmeln auf der tribüne schreien und schimpfen
hören. so geht das nicht weiter. die arge wurzel muss ausgerodet werden.
das ist mit nichten ein abfall von den traditionen der väter, das ist im
gegenteil eine rückkehr zur patrios politeia. wie war es zu Drakons
zeit? da beschränkte sich die teilnahme am staate auf die zum hopliten-
dienste befähigten: so muss das wieder werden. damals waren die wich-
tigsten ämter an einen hohen census geknüpft; das wollen wir in
diesen schlechten zeiten nicht wieder einführen. damals fehlte eine
beschwerdeinstanz für jeden übergriff eines beamten keinesweges: nur

demokratie Athens in bewegung zu setzen drohten, war es besonders angezeigt, diese
männer zu discreditiren.
67) Jetzt ist das anders, musste der hörer sich sagen, und an den redner
denken, der diese scharfe kritik vortrug.

I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
ist, daſs die schlieſsliche entscheidung in allen sachen bei dem ge-
schwornengerichte liegt, zu dem alle bürger qualificirt sind. und diese
wurzel ist solonisch, er hat diesen heillosen zustand selbst beabsichtigt,
hat er doch sogar die gesetze absichtlich zweideutig gemacht, damit die
leute mehr prozessirten, z. b. die testirfreiheit durch eine menge captiöser
ausnahmen beschränkt. wie sollte es anders sein, als daſs dem herren,
dem in den gerichten ohne verantwortlichkeit schaltenden demos, zu liebe
immer gewissenlosere demagogen seine gelüste befriedigten? da ist
Themistokles, den sie wegen Salamis verherrlichen; nun um Salamis hat
das eigentliche verdienst der Areopag, und eben den hat Ephialtes auf
den antrieb des Themistokles gestürzt. der aufschwung Athens in jener
zeit hatte in wahrheit den grund, daſs der demos dem Areopage still-
schweigend das regiment lieſs: hätte man es ihm nur nicht genommen;
nun, den urhebern der änderung ist’s schlecht genug bekommen,
Themistokles ist landflüchtig bei den Persern gestorben, Ephialtes
durch einen Tanagraeer meuchlings ermordet. da loben sie den Ari-
steides als den gerechtesten der Hellenen: aber diese gerechtigkeit läuft
darauf hinaus, daſs jetzt 20000 bummler auf kosten der bündner futter
bekommen. natürlich paſst das den bündnern nicht, und wir haben
den krieg. schlieſslich hat Perikles (übrigens ein mensch ohne eigne
gedanken, so daſs sie ihm Damonides einblasen muſste) das maſs voll-
gemacht und den richtern für ihre staatsverderbende tätigkeit sold be-
zahlt. es war das unglück, daſs die anständigen leute in der kritischen
zeit keinen führer hatten 67); dem Kimon fehlte es am besten, um diese
stellung mehr als dem namen nach auszufüllen. nach Perikles, der immerhin
noch ein mann aus anständiger familie war, müssen wir die lohgerber
und lichtzieher in hemdsärmeln auf der tribüne schreien und schimpfen
hören. so geht das nicht weiter. die arge wurzel muſs ausgerodet werden.
das ist mit nichten ein abfall von den traditionen der väter, das ist im
gegenteil eine rückkehr zur πάτϱιος πολιτεία. wie war es zu Drakons
zeit? da beschränkte sich die teilnahme am staate auf die zum hopliten-
dienste befähigten: so muſs das wieder werden. damals waren die wich-
tigsten ämter an einen hohen census geknüpft; das wollen wir in
diesen schlechten zeiten nicht wieder einführen. damals fehlte eine
beschwerdeinstanz für jeden übergriff eines beamten keinesweges: nur

demokratie Athens in bewegung zu setzen drohten, war es besonders angezeigt, diese
männer zu discreditiren.
67) Jetzt ist das anders, muſste der hörer sich sagen, und an den redner
denken, der diese scharfe kritik vortrug.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0176" n="162"/><fw place="top" type="header">I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.</fw><lb/>
ist, da&#x017F;s die schlie&#x017F;sliche entscheidung in allen sachen bei dem ge-<lb/>
schwornengerichte liegt, zu dem alle bürger qualificirt sind. und diese<lb/>
wurzel ist solonisch, er hat diesen heillosen zustand selbst beabsichtigt,<lb/>
hat er doch sogar die gesetze absichtlich zweideutig gemacht, damit die<lb/>
leute mehr prozessirten, z. b. die testirfreiheit durch eine menge captiöser<lb/>
ausnahmen beschränkt. wie sollte es anders sein, als da&#x017F;s dem herren,<lb/>
dem in den gerichten ohne verantwortlichkeit schaltenden demos, zu liebe<lb/>
immer gewissenlosere demagogen seine gelüste befriedigten? da ist<lb/>
Themistokles, den sie wegen Salamis verherrlichen; nun um Salamis hat<lb/>
das eigentliche verdienst der Areopag, und eben den hat Ephialtes auf<lb/>
den antrieb des Themistokles gestürzt. der aufschwung Athens in jener<lb/>
zeit hatte in wahrheit den grund, da&#x017F;s der demos dem Areopage still-<lb/>
schweigend das regiment lie&#x017F;s: hätte man es ihm nur nicht genommen;<lb/>
nun, den urhebern der änderung ist&#x2019;s schlecht genug bekommen,<lb/>
Themistokles ist landflüchtig bei den Persern gestorben, Ephialtes<lb/>
durch einen Tanagraeer meuchlings ermordet. da loben sie den Ari-<lb/>
steides als den gerechtesten der Hellenen: aber diese gerechtigkeit läuft<lb/>
darauf hinaus, da&#x017F;s jetzt 20000 bummler auf kosten der bündner futter<lb/>
bekommen. natürlich pa&#x017F;st das den bündnern nicht, und wir haben<lb/>
den krieg. schlie&#x017F;slich hat Perikles (übrigens ein mensch ohne eigne<lb/>
gedanken, so da&#x017F;s sie ihm Damonides einblasen mu&#x017F;ste) das ma&#x017F;s voll-<lb/>
gemacht und den richtern für ihre staatsverderbende tätigkeit sold be-<lb/>
zahlt. es war das unglück, da&#x017F;s die anständigen leute in der kritischen<lb/>
zeit keinen führer hatten <note place="foot" n="67)">Jetzt ist das anders, mu&#x017F;ste der hörer sich sagen, und an den redner<lb/>
denken, der diese scharfe kritik vortrug.</note>; dem Kimon fehlte es am besten, um diese<lb/>
stellung mehr als dem namen nach auszufüllen. nach Perikles, der immerhin<lb/>
noch ein mann aus anständiger familie war, müssen wir die lohgerber<lb/>
und lichtzieher in hemdsärmeln auf der tribüne schreien und schimpfen<lb/>
hören. so geht das nicht weiter. die arge wurzel mu&#x017F;s ausgerodet werden.<lb/>
das ist mit nichten ein abfall von den traditionen der väter, das ist im<lb/>
gegenteil eine rückkehr zur &#x03C0;&#x03AC;&#x03C4;&#x03F1;&#x03B9;&#x03BF;&#x03C2; &#x03C0;&#x03BF;&#x03BB;&#x03B9;&#x03C4;&#x03B5;&#x03AF;&#x03B1;. wie war es zu Drakons<lb/>
zeit? da beschränkte sich die teilnahme am staate auf die zum hopliten-<lb/>
dienste befähigten: so mu&#x017F;s das wieder werden. damals waren die wich-<lb/>
tigsten ämter an einen hohen census geknüpft; das wollen wir in<lb/>
diesen schlechten zeiten nicht wieder einführen. damals fehlte eine<lb/>
beschwerdeinstanz für jeden übergriff eines beamten keinesweges: nur<lb/><note xml:id="note-0176" prev="#note-0175a" place="foot" n="66)">demokratie Athens in bewegung zu setzen drohten, war es besonders angezeigt, diese<lb/>
männer zu discreditiren.</note><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[162/0176] I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts. ist, daſs die schlieſsliche entscheidung in allen sachen bei dem ge- schwornengerichte liegt, zu dem alle bürger qualificirt sind. und diese wurzel ist solonisch, er hat diesen heillosen zustand selbst beabsichtigt, hat er doch sogar die gesetze absichtlich zweideutig gemacht, damit die leute mehr prozessirten, z. b. die testirfreiheit durch eine menge captiöser ausnahmen beschränkt. wie sollte es anders sein, als daſs dem herren, dem in den gerichten ohne verantwortlichkeit schaltenden demos, zu liebe immer gewissenlosere demagogen seine gelüste befriedigten? da ist Themistokles, den sie wegen Salamis verherrlichen; nun um Salamis hat das eigentliche verdienst der Areopag, und eben den hat Ephialtes auf den antrieb des Themistokles gestürzt. der aufschwung Athens in jener zeit hatte in wahrheit den grund, daſs der demos dem Areopage still- schweigend das regiment lieſs: hätte man es ihm nur nicht genommen; nun, den urhebern der änderung ist’s schlecht genug bekommen, Themistokles ist landflüchtig bei den Persern gestorben, Ephialtes durch einen Tanagraeer meuchlings ermordet. da loben sie den Ari- steides als den gerechtesten der Hellenen: aber diese gerechtigkeit läuft darauf hinaus, daſs jetzt 20000 bummler auf kosten der bündner futter bekommen. natürlich paſst das den bündnern nicht, und wir haben den krieg. schlieſslich hat Perikles (übrigens ein mensch ohne eigne gedanken, so daſs sie ihm Damonides einblasen muſste) das maſs voll- gemacht und den richtern für ihre staatsverderbende tätigkeit sold be- zahlt. es war das unglück, daſs die anständigen leute in der kritischen zeit keinen führer hatten 67); dem Kimon fehlte es am besten, um diese stellung mehr als dem namen nach auszufüllen. nach Perikles, der immerhin noch ein mann aus anständiger familie war, müssen wir die lohgerber und lichtzieher in hemdsärmeln auf der tribüne schreien und schimpfen hören. so geht das nicht weiter. die arge wurzel muſs ausgerodet werden. das ist mit nichten ein abfall von den traditionen der väter, das ist im gegenteil eine rückkehr zur πάτϱιος πολιτεία. wie war es zu Drakons zeit? da beschränkte sich die teilnahme am staate auf die zum hopliten- dienste befähigten: so muſs das wieder werden. damals waren die wich- tigsten ämter an einen hohen census geknüpft; das wollen wir in diesen schlechten zeiten nicht wieder einführen. damals fehlte eine beschwerdeinstanz für jeden übergriff eines beamten keinesweges: nur 66) 67) Jetzt ist das anders, muſste der hörer sich sagen, und an den redner denken, der diese scharfe kritik vortrug. 66) demokratie Athens in bewegung zu setzen drohten, war es besonders angezeigt, diese männer zu discreditiren.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/176
Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/176>, abgerufen am 26.04.2024.