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Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893.

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I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
teles kein wort von seinen militärischen erfolgen am Hellespont, in
Thrakien, Pamphylien, Kypros, es heisst vielmehr, dass zu jener zeit "die
bürgerschaft ungeheure verluste erlitt, weil leute ohne jede kriegs-
erfahrung lediglich um des ruhmes ihrer väter willen zu feldherrn ge-
wählt wurden." das ist auch gegen Myronides und Tolmides sehr un-
billig, aber seine spitze kehrt es gegen den sohn des siegers von Mara-
thon. endlich die boshafte formulirung des gesammturteils "die anständigen
leute hatten überhaupt keinen führer, sondern an ihrer spitze stand Kimon,
der ziemlich schwerfällig (nothroteros) und erst spät in die politische
laufbahn eingetreten war." das letztere stimmt gut zu der ganzen er-
zählung; wenn Kimon erst gegen Ephialtes aufgetreten ist (28, 2), so
war die partei der gnorimoi seit dem tode seines vaters allerdings
führerlos, da Aristeides nicht minder als demokrat aufgefasst wird denn
Themistokles. indessen objectiv ist es falsch. Kimon war feldherr schon
unter Timosthenes 478/77 (Plut. Ar. 23) und bleibt es dann jahre lang;
aber schon vor der schlacht von Plataiai geht er als gesandter nach
Sparta neben Aristeides und Myronides (Krateros bei Plut. Ar. 20).25)
dass die charakteristik nothroteros zutrifft, ist allerdings meine meinung;
nur ist es, so stark der comparativ mildert, ein grobes wort und von
dem euphemismus der attischen eleganz weit entfernt. Aristoteles hat
über philosophen der vorzeit sich nicht gescheut rund heraus seine meinung
zu sagen; deshalb hat er auch dieses wort nicht verschmäht: aber wahr-
lich nicht selbst geprägt, denn ihm fehlt hier, was ihn in der philosophie
zu eignem urteile berechtigt, das eigene studium. aber nothroteros ist
nicht überliefert, sondern der unsinn neoteros. die verbesserung ist
von vielen sofort gefunden und würde evident sein, auch wenn nicht in
der rhetorik stünde, dass die söhne von genial angelegten männern excen-
trische tollköpfe, die von gesetzten charakteren beschränkt und träge
würden, existatai ta euphua eis manikotera ethe, ta de stathera
eis abelterian kai nothroteta (II 1390 b). für den ersten satz sind
die söhne Alkibiades und Dionysios belege, für den zweiten oi apo

25) Auf die anekdote vom auszuge nach Salamis (Plut. Kim. 5) will ich nicht
bauen, obwol sie mir ganz glaublich scheint. denn dass der ritter vor der aus-
wanderung nach Salamis der göttin den zaum seines pferdes darbringt und dafür
einen heiligen schild nimmt, ist ganz im stile der attischen religiosität, und es war
in der tat eine demonstration, die dem volke mut machen konnte und dem sohne
des Miltiades zustand. es lässt sich nur die herkunft der geschichte nicht weiter
ermitteln als dass sie zu dem grundstocke der vita gehört, die Plutarch durch die
einlagen aus Ion, Stesimbrotos u. a. erweitert.

I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts.
teles kein wort von seinen militärischen erfolgen am Hellespont, in
Thrakien, Pamphylien, Kypros, es heiſst vielmehr, daſs zu jener zeit “die
bürgerschaft ungeheure verluste erlitt, weil leute ohne jede kriegs-
erfahrung lediglich um des ruhmes ihrer väter willen zu feldherrn ge-
wählt wurden.” das ist auch gegen Myronides und Tolmides sehr un-
billig, aber seine spitze kehrt es gegen den sohn des siegers von Mara-
thon. endlich die boshafte formulirung des gesammturteils “die anständigen
leute hatten überhaupt keinen führer, sondern an ihrer spitze stand Kimon,
der ziemlich schwerfällig (νωϑϱότεϱος) und erst spät in die politische
laufbahn eingetreten war.” das letztere stimmt gut zu der ganzen er-
zählung; wenn Kimon erst gegen Ephialtes aufgetreten ist (28, 2), so
war die partei der γνώϱιμοι seit dem tode seines vaters allerdings
führerlos, da Aristeides nicht minder als demokrat aufgefaſst wird denn
Themistokles. indessen objectiv ist es falsch. Kimon war feldherr schon
unter Timosthenes 478/77 (Plut. Ar. 23) und bleibt es dann jahre lang;
aber schon vor der schlacht von Plataiai geht er als gesandter nach
Sparta neben Aristeides und Myronides (Krateros bei Plut. Ar. 20).25)
daſs die charakteristik νωϑϱότεϱος zutrifft, ist allerdings meine meinung;
nur ist es, so stark der comparativ mildert, ein grobes wort und von
dem euphemismus der attischen eleganz weit entfernt. Aristoteles hat
über philosophen der vorzeit sich nicht gescheut rund heraus seine meinung
zu sagen; deshalb hat er auch dieses wort nicht verschmäht: aber wahr-
lich nicht selbst geprägt, denn ihm fehlt hier, was ihn in der philosophie
zu eignem urteile berechtigt, das eigene studium. aber νωϑϱότεϱος ist
nicht überliefert, sondern der unsinn νεώτεϱος. die verbesserung ist
von vielen sofort gefunden und würde evident sein, auch wenn nicht in
der rhetorik stünde, daſs die söhne von genial angelegten männern excen-
trische tollköpfe, die von gesetzten charakteren beschränkt und träge
würden, ἐξίσταται τὰ εὐφυᾶ εἰς μανικώτεϱα ἤϑη, τὰ δὲ σταϑεϱὰ
εἰς ἀβελτεϱίαν καὶ νωϑϱότητα (II 1390 b). für den ersten satz sind
die söhne Alkibiades und Dionysios belege, für den zweiten οἱ ἀπὸ

25) Auf die anekdote vom auszuge nach Salamis (Plut. Kim. 5) will ich nicht
bauen, obwol sie mir ganz glaublich scheint. denn daſs der ritter vor der aus-
wanderung nach Salamis der göttin den zaum seines pferdes darbringt und dafür
einen heiligen schild nimmt, ist ganz im stile der attischen religiosität, und es war
in der tat eine demonstration, die dem volke mut machen konnte und dem sohne
des Miltiades zustand. es läſst sich nur die herkunft der geschichte nicht weiter
ermitteln als daſs sie zu dem grundstocke der vita gehört, die Plutarch durch die
einlagen aus Ion, Stesimbrotos u. a. erweitert.
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[136/0150] I. 6. Die demagogen des fünften jahrhunderts. teles kein wort von seinen militärischen erfolgen am Hellespont, in Thrakien, Pamphylien, Kypros, es heiſst vielmehr, daſs zu jener zeit “die bürgerschaft ungeheure verluste erlitt, weil leute ohne jede kriegs- erfahrung lediglich um des ruhmes ihrer väter willen zu feldherrn ge- wählt wurden.” das ist auch gegen Myronides und Tolmides sehr un- billig, aber seine spitze kehrt es gegen den sohn des siegers von Mara- thon. endlich die boshafte formulirung des gesammturteils “die anständigen leute hatten überhaupt keinen führer, sondern an ihrer spitze stand Kimon, der ziemlich schwerfällig (νωϑϱότεϱος) und erst spät in die politische laufbahn eingetreten war.” das letztere stimmt gut zu der ganzen er- zählung; wenn Kimon erst gegen Ephialtes aufgetreten ist (28, 2), so war die partei der γνώϱιμοι seit dem tode seines vaters allerdings führerlos, da Aristeides nicht minder als demokrat aufgefaſst wird denn Themistokles. indessen objectiv ist es falsch. Kimon war feldherr schon unter Timosthenes 478/77 (Plut. Ar. 23) und bleibt es dann jahre lang; aber schon vor der schlacht von Plataiai geht er als gesandter nach Sparta neben Aristeides und Myronides (Krateros bei Plut. Ar. 20). 25) daſs die charakteristik νωϑϱότεϱος zutrifft, ist allerdings meine meinung; nur ist es, so stark der comparativ mildert, ein grobes wort und von dem euphemismus der attischen eleganz weit entfernt. Aristoteles hat über philosophen der vorzeit sich nicht gescheut rund heraus seine meinung zu sagen; deshalb hat er auch dieses wort nicht verschmäht: aber wahr- lich nicht selbst geprägt, denn ihm fehlt hier, was ihn in der philosophie zu eignem urteile berechtigt, das eigene studium. aber νωϑϱότεϱος ist nicht überliefert, sondern der unsinn νεώτεϱος. die verbesserung ist von vielen sofort gefunden und würde evident sein, auch wenn nicht in der rhetorik stünde, daſs die söhne von genial angelegten männern excen- trische tollköpfe, die von gesetzten charakteren beschränkt und träge würden, ἐξίσταται τὰ εὐφυᾶ εἰς μανικώτεϱα ἤϑη, τὰ δὲ σταϑεϱὰ εἰς ἀβελτεϱίαν καὶ νωϑϱότητα (II 1390 b). für den ersten satz sind die söhne Alkibiades und Dionysios belege, für den zweiten οἱ ἀπὸ 25) Auf die anekdote vom auszuge nach Salamis (Plut. Kim. 5) will ich nicht bauen, obwol sie mir ganz glaublich scheint. denn daſs der ritter vor der aus- wanderung nach Salamis der göttin den zaum seines pferdes darbringt und dafür einen heiligen schild nimmt, ist ganz im stile der attischen religiosität, und es war in der tat eine demonstration, die dem volke mut machen konnte und dem sohne des Miltiades zustand. es läſst sich nur die herkunft der geschichte nicht weiter ermitteln als daſs sie zu dem grundstocke der vita gehört, die Plutarch durch die einlagen aus Ion, Stesimbrotos u. a. erweitert.

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Zitationshilfe: Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von: Aristoteles und Athen. Bd. 1. Berlin, 1893, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wilamowitz_aristoteles01_1893/150>, abgerufen am 27.04.2024.