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Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834.

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auf den früheren Zusammenhang orientalischer und
europäischer Bildung werfen. Die Natur, das ist
unsere Ueberzeugung, kennt keine Widersprüche,
keine schreiende Dissonanzen, sie arbeitet sich durch
tausend Mittelglieder hindurch und verbindet die
Enden der Welt mit einem unsichtbaren Zauber¬
bande, das im Dunkel des Mythos und der Ge¬
schichte flattert, und nur vom Auge des Geistes
erkannt wird. Alle die Töne der Weltenlyra klin¬
gen zusammen in einen einzigen ungeheuren Ak¬
kord, in dem nichts Einzelnes mehr unterscheidbar
ist und so haben alle Sprachen und Sagen aller
Völker, so fremd und dissonirend sie klingen, einige
Grundlaute mit einander gemein, die eben den
geistigen Urlaut des menschlichen Daseins bilden.
Aber durch allen Sinn und Unsinn der Geschichte,
durch den Wirrwarr aller Völkerstimmen geht die¬
ser rein menschliche Ton, diese Stimme der Na¬
tur, welche ihre Kinder, die Schwarzen und die
Weißen und die Olivenfarbigen und die tausend¬
jährigen Todten und die Lebendigen heutigen Tags
um den einen gemeinschaftlichen Urborn des leib¬
lichen und geistigen Lebens der Menschheit ver¬
sammelt.

Europäer sind Asiaten, das lehrt die Ge¬
schichte: Europa ist ein Stück von Asien, lehrt
die Geographie. Die europäische Bildung hat ihre

auf den fruͤheren Zuſammenhang orientaliſcher und
europaͤiſcher Bildung werfen. Die Natur, das iſt
unſere Ueberzeugung, kennt keine Widerſpruͤche,
keine ſchreiende Diſſonanzen, ſie arbeitet ſich durch
tauſend Mittelglieder hindurch und verbindet die
Enden der Welt mit einem unſichtbaren Zauber¬
bande, das im Dunkel des Mythos und der Ge¬
ſchichte flattert, und nur vom Auge des Geiſtes
erkannt wird. Alle die Toͤne der Weltenlyra klin¬
gen zuſammen in einen einzigen ungeheuren Ak¬
kord, in dem nichts Einzelnes mehr unterſcheidbar
iſt und ſo haben alle Sprachen und Sagen aller
Voͤlker, ſo fremd und diſſonirend ſie klingen, einige
Grundlaute mit einander gemein, die eben den
geiſtigen Urlaut des menſchlichen Daſeins bilden.
Aber durch allen Sinn und Unſinn der Geſchichte,
durch den Wirrwarr aller Voͤlkerſtimmen geht die¬
ſer rein menſchliche Ton, dieſe Stimme der Na¬
tur, welche ihre Kinder, die Schwarzen und die
Weißen und die Olivenfarbigen und die tauſend¬
jaͤhrigen Todten und die Lebendigen heutigen Tags
um den einen gemeinſchaftlichen Urborn des leib¬
lichen und geiſtigen Lebens der Menſchheit ver¬
ſammelt.

Europaͤer ſind Aſiaten, das lehrt die Ge¬
ſchichte: Europa iſt ein Stuͤck von Aſien, lehrt
die Geographie. Die europaͤiſche Bildung hat ihre

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[102/0116] auf den fruͤheren Zuſammenhang orientaliſcher und europaͤiſcher Bildung werfen. Die Natur, das iſt unſere Ueberzeugung, kennt keine Widerſpruͤche, keine ſchreiende Diſſonanzen, ſie arbeitet ſich durch tauſend Mittelglieder hindurch und verbindet die Enden der Welt mit einem unſichtbaren Zauber¬ bande, das im Dunkel des Mythos und der Ge¬ ſchichte flattert, und nur vom Auge des Geiſtes erkannt wird. Alle die Toͤne der Weltenlyra klin¬ gen zuſammen in einen einzigen ungeheuren Ak¬ kord, in dem nichts Einzelnes mehr unterſcheidbar iſt und ſo haben alle Sprachen und Sagen aller Voͤlker, ſo fremd und diſſonirend ſie klingen, einige Grundlaute mit einander gemein, die eben den geiſtigen Urlaut des menſchlichen Daſeins bilden. Aber durch allen Sinn und Unſinn der Geſchichte, durch den Wirrwarr aller Voͤlkerſtimmen geht die¬ ſer rein menſchliche Ton, dieſe Stimme der Na¬ tur, welche ihre Kinder, die Schwarzen und die Weißen und die Olivenfarbigen und die tauſend¬ jaͤhrigen Todten und die Lebendigen heutigen Tags um den einen gemeinſchaftlichen Urborn des leib¬ lichen und geiſtigen Lebens der Menſchheit ver¬ ſammelt. Europaͤer ſind Aſiaten, das lehrt die Ge¬ ſchichte: Europa iſt ein Stuͤck von Aſien, lehrt die Geographie. Die europaͤiſche Bildung hat ihre

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Zitationshilfe: Wienbarg, Ludolf: Aesthetische Feldzüge. Dem jungen Deutschland gewidmet. Hamburg, 1834, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wienbarg_feldzuege_1834/116>, abgerufen am 26.04.2024.