Der Autor der alten Handschrift, aus welcher wir den grössesten Theil dieser Geschichte gezogen zu haben gestehen, triumphiert, wie man gesehen hat, darüber, daß er seinen Helden mit seiner ganzen Tugend von ei- nem Hofe hinweggebracht habe. Es würde allerdings etwas seyn, daß einem Wunder ganz nahe käme, wenn es sich würklich so verhielte; aber wir besorgen, daß er mehr gesagt habe, als er der Schärfe nach zu bewei- sen im Stande wäre. Wenn es nicht etwan moralische Amulete giebt, welche der anstekenden Beschaffenheit der Hofluft auf eben die Art widerstehen, wie der Kröten- stein dem Gift, so däucht uns ein wenig unbegreiflich, daß das Getümmel des beschäftigten Lebens, die schäd- lichen Dünste der Schmeicheley, welche ein Günstling, er wolle oder wolle nicht, unaufhörlich einsaugt -- die Nothwendigkeit, von den Forderungen der Weisheit und Tugend immer etwas nachzulassen, um nicht alles zu verliehren -- und was noch schädlicher als dieses alles ist, die unzählichen Zerstreuungen, wodurch die Seele aus sich selbst herausgezogen wird, und über der Auf-
merk-
Zehentes Buch, viertes Capitel.
Verfaſſer neun und dreiſſig Urſachen angegeben habe; und wir geſtehen, daß wir begierig waͤren, dieſe neun und dreiſſig Urſachen zu wiſſen.
Der Autor der alten Handſchrift, aus welcher wir den groͤſſeſten Theil dieſer Geſchichte gezogen zu haben geſtehen, triumphiert, wie man geſehen hat, daruͤber, daß er ſeinen Helden mit ſeiner ganzen Tugend von ei- nem Hofe hinweggebracht habe. Es wuͤrde allerdings etwas ſeyn, daß einem Wunder ganz nahe kaͤme, wenn es ſich wuͤrklich ſo verhielte; aber wir beſorgen, daß er mehr geſagt habe, als er der Schaͤrfe nach zu bewei- ſen im Stande waͤre. Wenn es nicht etwan moraliſche Amulete giebt, welche der anſtekenden Beſchaffenheit der Hofluft auf eben die Art widerſtehen, wie der Kroͤten- ſtein dem Gift, ſo daͤucht uns ein wenig unbegreiflich, daß das Getuͤmmel des beſchaͤftigten Lebens, die ſchaͤd- lichen Duͤnſte der Schmeicheley, welche ein Guͤnſtling, er wolle oder wolle nicht, unaufhoͤrlich einſaugt ‒‒ die Nothwendigkeit, von den Forderungen der Weisheit und Tugend immer etwas nachzulaſſen, um nicht alles zu verliehren ‒‒ und was noch ſchaͤdlicher als dieſes alles iſt, die unzaͤhlichen Zerſtreuungen, wodurch die Seele aus ſich ſelbſt herausgezogen wird, und uͤber der Auf-
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Zehentes Buch, viertes Capitel.
Verfaſſer neun und dreiſſig Urſachen angegeben habe;
und wir geſtehen, daß wir begierig waͤren, dieſe neun
und dreiſſig Urſachen zu wiſſen.
Fuͤnftes Capitel.
Moraliſcher Zuſtand unſers Helden.
Der Autor der alten Handſchrift, aus welcher wir
den groͤſſeſten Theil dieſer Geſchichte gezogen zu haben
geſtehen, triumphiert, wie man geſehen hat, daruͤber,
daß er ſeinen Helden mit ſeiner ganzen Tugend von ei-
nem Hofe hinweggebracht habe. Es wuͤrde allerdings
etwas ſeyn, daß einem Wunder ganz nahe kaͤme, wenn
es ſich wuͤrklich ſo verhielte; aber wir beſorgen, daß
er mehr geſagt habe, als er der Schaͤrfe nach zu bewei-
ſen im Stande waͤre. Wenn es nicht etwan moraliſche
Amulete giebt, welche der anſtekenden Beſchaffenheit der
Hofluft auf eben die Art widerſtehen, wie der Kroͤten-
ſtein dem Gift, ſo daͤucht uns ein wenig unbegreiflich,
daß das Getuͤmmel des beſchaͤftigten Lebens, die ſchaͤd-
lichen Duͤnſte der Schmeicheley, welche ein Guͤnſtling,
er wolle oder wolle nicht, unaufhoͤrlich einſaugt ‒‒ die
Nothwendigkeit, von den Forderungen der Weisheit und
Tugend immer etwas nachzulaſſen, um nicht alles zu
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Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 2. Frankfurt (Main) u. a., 1767, S. 269. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon02_1767/271>, abgerufen am 16.07.2024.
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