Die aufgehende Sonne, die von der rosensingrichten Aurora angekündiget, das Jonische Meer mit ihren er- sten Stralen vergoldete, faud alle diejeuigen, mit dem Virgil zu reden, von Wein und Schlaf begraben, welche die Nacht durch dem Bacchus und seiner Göttin Schwester geopfert hatten. Nur Agathon, der ge- wohnt war mit der Morgenröthe zu erwachen, wurde von den ersten Stralen gewekt, die in horizontalen Li- nien an seiner Stirne hinschlüpften. Jndem er die Au- gen aufschlug, sah er einen jungen Menschen in einer Sclaven-Kleidung vor sich stehen, der ihn mit großer Aufmerksamkeit betrachtete. So schön als Agathon war, so schien er doch von diesem liebenswürdigen Jüngling an Feinheit der Gestalt und Farbe übertrof- fen zu werden; in der That hatte er in seiner Gesichts- bildung und in seiner ganzen Figur etwas so jungfräu- liches, daß er, gleich dem schönen Liebling des Horaz, in weiblicher Kleidung unter einer Schaar von Mädchen gemischt, gar leicht das Auge des schärfsten Kenners betrogen haben würde. Agathon erwiederte den An- blik dieses jungen Sclaven mit einer Aufmerksamkeit, in welcher ein angenehmes Erstaunen nach und nach sich bis zur Entzükung erhob. Eben diese Bewegungen enthüll- ten sich auch in dem anmuthigen Gesichte des jungen
Sclaven;
Agathon,
Fuͤnftes Capitel. Eine Entdeckung.
Die aufgehende Sonne, die von der roſenſingrichten Aurora angekuͤndiget, das Joniſche Meer mit ihren er- ſten Stralen vergoldete, faud alle diejeuigen, mit dem Virgil zu reden, von Wein und Schlaf begraben, welche die Nacht durch dem Bacchus und ſeiner Goͤttin Schweſter geopfert hatten. Nur Agathon, der ge- wohnt war mit der Morgenroͤthe zu erwachen, wurde von den erſten Stralen gewekt, die in horizontalen Li- nien an ſeiner Stirne hinſchluͤpften. Jndem er die Au- gen aufſchlug, ſah er einen jungen Menſchen in einer Sclaven-Kleidung vor ſich ſtehen, der ihn mit großer Aufmerkſamkeit betrachtete. So ſchoͤn als Agathon war, ſo ſchien er doch von dieſem liebenswuͤrdigen Juͤngling an Feinheit der Geſtalt und Farbe uͤbertrof- fen zu werden; in der That hatte er in ſeiner Geſichts- bildung und in ſeiner ganzen Figur etwas ſo jungfraͤu- liches, daß er, gleich dem ſchoͤnen Liebling des Horaz, in weiblicher Kleidung unter einer Schaar von Maͤdchen gemiſcht, gar leicht das Auge des ſchaͤrfſten Kenners betrogen haben wuͤrde. Agathon erwiederte den An- blik dieſes jungen Sclaven mit einer Aufmerkſamkeit, in welcher ein angenehmes Erſtaunen nach und nach ſich bis zur Entzuͤkung erhob. Eben dieſe Bewegungen enthuͤll- ten ſich auch in dem anmuthigen Geſichte des jungen
Sclaven;
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0036"n="14"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#g">Agathon,</hi></hi></fw><lb/><divn="3"><head><hirendition="#b"><hirendition="#g">Fuͤnftes Capitel.</hi><lb/>
Eine Entdeckung.</hi></head><lb/><p><hirendition="#in">D</hi>ie aufgehende Sonne, die von der roſenſingrichten<lb/>
Aurora angekuͤndiget, das Joniſche Meer mit ihren er-<lb/>ſten Stralen vergoldete, faud alle diejeuigen, mit dem<lb/>
Virgil zu reden, von Wein und Schlaf begraben,<lb/>
welche die Nacht durch dem Bacchus und ſeiner Goͤttin<lb/>
Schweſter geopfert hatten. Nur Agathon, der ge-<lb/>
wohnt war mit der Morgenroͤthe zu erwachen, wurde<lb/>
von den erſten Stralen gewekt, die in horizontalen Li-<lb/>
nien an ſeiner Stirne hinſchluͤpften. Jndem er die Au-<lb/>
gen aufſchlug, ſah er einen jungen Menſchen in einer<lb/>
Sclaven-Kleidung vor ſich ſtehen, der ihn mit großer<lb/>
Aufmerkſamkeit betrachtete. So ſchoͤn als Agathon<lb/>
war, ſo ſchien er doch von dieſem liebenswuͤrdigen<lb/>
Juͤngling an Feinheit der Geſtalt und Farbe uͤbertrof-<lb/>
fen zu werden; in der That hatte er in ſeiner Geſichts-<lb/>
bildung und in ſeiner ganzen Figur etwas ſo jungfraͤu-<lb/>
liches, daß er, gleich dem ſchoͤnen Liebling des Horaz,<lb/>
in weiblicher Kleidung unter einer Schaar von Maͤdchen<lb/>
gemiſcht, gar leicht das Auge des ſchaͤrfſten Kenners<lb/>
betrogen haben wuͤrde. Agathon erwiederte den An-<lb/>
blik dieſes jungen Sclaven mit einer Aufmerkſamkeit, in<lb/>
welcher ein angenehmes Erſtaunen nach und nach ſich<lb/>
bis zur Entzuͤkung erhob. Eben dieſe Bewegungen enthuͤll-<lb/>
ten ſich auch in dem anmuthigen Geſichte des jungen<lb/><fwplace="bottom"type="catch">Sclaven;</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[14/0036]
Agathon,
Fuͤnftes Capitel.
Eine Entdeckung.
Die aufgehende Sonne, die von der roſenſingrichten
Aurora angekuͤndiget, das Joniſche Meer mit ihren er-
ſten Stralen vergoldete, faud alle diejeuigen, mit dem
Virgil zu reden, von Wein und Schlaf begraben,
welche die Nacht durch dem Bacchus und ſeiner Goͤttin
Schweſter geopfert hatten. Nur Agathon, der ge-
wohnt war mit der Morgenroͤthe zu erwachen, wurde
von den erſten Stralen gewekt, die in horizontalen Li-
nien an ſeiner Stirne hinſchluͤpften. Jndem er die Au-
gen aufſchlug, ſah er einen jungen Menſchen in einer
Sclaven-Kleidung vor ſich ſtehen, der ihn mit großer
Aufmerkſamkeit betrachtete. So ſchoͤn als Agathon
war, ſo ſchien er doch von dieſem liebenswuͤrdigen
Juͤngling an Feinheit der Geſtalt und Farbe uͤbertrof-
fen zu werden; in der That hatte er in ſeiner Geſichts-
bildung und in ſeiner ganzen Figur etwas ſo jungfraͤu-
liches, daß er, gleich dem ſchoͤnen Liebling des Horaz,
in weiblicher Kleidung unter einer Schaar von Maͤdchen
gemiſcht, gar leicht das Auge des ſchaͤrfſten Kenners
betrogen haben wuͤrde. Agathon erwiederte den An-
blik dieſes jungen Sclaven mit einer Aufmerkſamkeit, in
welcher ein angenehmes Erſtaunen nach und nach ſich
bis zur Entzuͤkung erhob. Eben dieſe Bewegungen enthuͤll-
ten ſich auch in dem anmuthigen Geſichte des jungen
Sclaven;
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/36>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.