Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

Bild:
<< vorherige Seite
Agathon,
Fünftes Capitel.
Eine Entdeckung.

Die aufgehende Sonne, die von der rosensingrichten
Aurora angekündiget, das Jonische Meer mit ihren er-
sten Stralen vergoldete, faud alle diejeuigen, mit dem
Virgil zu reden, von Wein und Schlaf begraben,
welche die Nacht durch dem Bacchus und seiner Göttin
Schwester geopfert hatten. Nur Agathon, der ge-
wohnt war mit der Morgenröthe zu erwachen, wurde
von den ersten Stralen gewekt, die in horizontalen Li-
nien an seiner Stirne hinschlüpften. Jndem er die Au-
gen aufschlug, sah er einen jungen Menschen in einer
Sclaven-Kleidung vor sich stehen, der ihn mit großer
Aufmerksamkeit betrachtete. So schön als Agathon
war, so schien er doch von diesem liebenswürdigen
Jüngling an Feinheit der Gestalt und Farbe übertrof-
fen zu werden; in der That hatte er in seiner Gesichts-
bildung und in seiner ganzen Figur etwas so jungfräu-
liches, daß er, gleich dem schönen Liebling des Horaz,
in weiblicher Kleidung unter einer Schaar von Mädchen
gemischt, gar leicht das Auge des schärfsten Kenners
betrogen haben würde. Agathon erwiederte den An-
blik dieses jungen Sclaven mit einer Aufmerksamkeit, in
welcher ein angenehmes Erstaunen nach und nach sich
bis zur Entzükung erhob. Eben diese Bewegungen enthüll-
ten sich auch in dem anmuthigen Gesichte des jungen

Sclaven;
Agathon,
Fuͤnftes Capitel.
Eine Entdeckung.

Die aufgehende Sonne, die von der roſenſingrichten
Aurora angekuͤndiget, das Joniſche Meer mit ihren er-
ſten Stralen vergoldete, faud alle diejeuigen, mit dem
Virgil zu reden, von Wein und Schlaf begraben,
welche die Nacht durch dem Bacchus und ſeiner Goͤttin
Schweſter geopfert hatten. Nur Agathon, der ge-
wohnt war mit der Morgenroͤthe zu erwachen, wurde
von den erſten Stralen gewekt, die in horizontalen Li-
nien an ſeiner Stirne hinſchluͤpften. Jndem er die Au-
gen aufſchlug, ſah er einen jungen Menſchen in einer
Sclaven-Kleidung vor ſich ſtehen, der ihn mit großer
Aufmerkſamkeit betrachtete. So ſchoͤn als Agathon
war, ſo ſchien er doch von dieſem liebenswuͤrdigen
Juͤngling an Feinheit der Geſtalt und Farbe uͤbertrof-
fen zu werden; in der That hatte er in ſeiner Geſichts-
bildung und in ſeiner ganzen Figur etwas ſo jungfraͤu-
liches, daß er, gleich dem ſchoͤnen Liebling des Horaz,
in weiblicher Kleidung unter einer Schaar von Maͤdchen
gemiſcht, gar leicht das Auge des ſchaͤrfſten Kenners
betrogen haben wuͤrde. Agathon erwiederte den An-
blik dieſes jungen Sclaven mit einer Aufmerkſamkeit, in
welcher ein angenehmes Erſtaunen nach und nach ſich
bis zur Entzuͤkung erhob. Eben dieſe Bewegungen enthuͤll-
ten ſich auch in dem anmuthigen Geſichte des jungen

Sclaven;
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0036" n="14"/>
          <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#g">Agathon,</hi> </hi> </fw><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Fu&#x0364;nftes Capitel.</hi><lb/>
Eine Entdeckung.</hi> </head><lb/>
            <p><hi rendition="#in">D</hi>ie aufgehende Sonne, die von der ro&#x017F;en&#x017F;ingrichten<lb/>
Aurora angeku&#x0364;ndiget, das Joni&#x017F;che Meer mit ihren er-<lb/>
&#x017F;ten Stralen vergoldete, faud alle diejeuigen, mit dem<lb/>
Virgil zu reden, von Wein und Schlaf begraben,<lb/>
welche die Nacht durch dem Bacchus und &#x017F;einer Go&#x0364;ttin<lb/>
Schwe&#x017F;ter geopfert hatten. Nur Agathon, der ge-<lb/>
wohnt war mit der Morgenro&#x0364;the zu erwachen, wurde<lb/>
von den er&#x017F;ten Stralen gewekt, die in horizontalen Li-<lb/>
nien an &#x017F;einer Stirne hin&#x017F;chlu&#x0364;pften. Jndem er die Au-<lb/>
gen auf&#x017F;chlug, &#x017F;ah er einen jungen Men&#x017F;chen in einer<lb/>
Sclaven-Kleidung vor &#x017F;ich &#x017F;tehen, der ihn mit großer<lb/>
Aufmerk&#x017F;amkeit betrachtete. So &#x017F;cho&#x0364;n als Agathon<lb/>
war, &#x017F;o &#x017F;chien er doch von die&#x017F;em liebenswu&#x0364;rdigen<lb/>
Ju&#x0364;ngling an Feinheit der Ge&#x017F;talt und Farbe u&#x0364;bertrof-<lb/>
fen zu werden; in der That hatte er in &#x017F;einer Ge&#x017F;ichts-<lb/>
bildung und in &#x017F;einer ganzen Figur etwas &#x017F;o jungfra&#x0364;u-<lb/>
liches, daß er, gleich dem &#x017F;cho&#x0364;nen Liebling des Horaz,<lb/>
in weiblicher Kleidung unter einer Schaar von Ma&#x0364;dchen<lb/>
gemi&#x017F;cht, gar leicht das Auge des &#x017F;cha&#x0364;rf&#x017F;ten Kenners<lb/>
betrogen haben wu&#x0364;rde. Agathon erwiederte den An-<lb/>
blik die&#x017F;es jungen Sclaven mit einer Aufmerk&#x017F;amkeit, in<lb/>
welcher ein angenehmes Er&#x017F;taunen nach und nach &#x017F;ich<lb/>
bis zur Entzu&#x0364;kung erhob. Eben die&#x017F;e Bewegungen enthu&#x0364;ll-<lb/>
ten &#x017F;ich auch in dem anmuthigen Ge&#x017F;ichte des jungen<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Sclaven;</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[14/0036] Agathon, Fuͤnftes Capitel. Eine Entdeckung. Die aufgehende Sonne, die von der roſenſingrichten Aurora angekuͤndiget, das Joniſche Meer mit ihren er- ſten Stralen vergoldete, faud alle diejeuigen, mit dem Virgil zu reden, von Wein und Schlaf begraben, welche die Nacht durch dem Bacchus und ſeiner Goͤttin Schweſter geopfert hatten. Nur Agathon, der ge- wohnt war mit der Morgenroͤthe zu erwachen, wurde von den erſten Stralen gewekt, die in horizontalen Li- nien an ſeiner Stirne hinſchluͤpften. Jndem er die Au- gen aufſchlug, ſah er einen jungen Menſchen in einer Sclaven-Kleidung vor ſich ſtehen, der ihn mit großer Aufmerkſamkeit betrachtete. So ſchoͤn als Agathon war, ſo ſchien er doch von dieſem liebenswuͤrdigen Juͤngling an Feinheit der Geſtalt und Farbe uͤbertrof- fen zu werden; in der That hatte er in ſeiner Geſichts- bildung und in ſeiner ganzen Figur etwas ſo jungfraͤu- liches, daß er, gleich dem ſchoͤnen Liebling des Horaz, in weiblicher Kleidung unter einer Schaar von Maͤdchen gemiſcht, gar leicht das Auge des ſchaͤrfſten Kenners betrogen haben wuͤrde. Agathon erwiederte den An- blik dieſes jungen Sclaven mit einer Aufmerkſamkeit, in welcher ein angenehmes Erſtaunen nach und nach ſich bis zur Entzuͤkung erhob. Eben dieſe Bewegungen enthuͤll- ten ſich auch in dem anmuthigen Geſichte des jungen Sclaven;

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/36
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/36>, abgerufen am 30.12.2024.