Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

Bild:
<< vorherige Seite
Agathon.
Sechstes Capitel.
Agathon kommt nach Athen, und widmet sich
der Republik. Eine Probe der besondern
Natur desjenigen Windes, welcher
vom Horaz aura popularis
genennet wird.

Mein Vater hielt sich nur so lange zu Corinth auf,
als es seine Geschäfte erfoderten, und eilte selbst, mich
so bald es nur möglich war, in dieses Athen zu verse-
zen, welches sich meiner verschönernden Einbildung in
einem so herrlichen Lichte darstellte. Jch gestehe dir,
Danae, (und hoffe, die fromme Pflicht gegen meine
Vaterstadt nicht dadurch zu beleidigen) daß der erste
Anblik mit dem was ich erwartete einen starken Absaz
machte. Mein Geschmak war zu sehr verwöhnt, um
das Mittelmäßige, worinn es auch seyn möchte, erträg-
lich zu finden; er wollte gleichsam alles in diese feine
Linie eingeschlossen sehen, in welcher das Erhabene mit
dem Schönen zusammenfließt; und wenn er diese Voll-
kommenheit an einzelnen Theilen gewahr wurde, so
wollte er, daß alle zusammenstimmen, und ein sich selbst
durchaus ähnliches, symmetrisches Ganzes ausmachen
sollten. Von diesem Grade der Schönheit war Athen,
so wie vielleicht eine jede andere Stadt in der Welt, noch
weit entfernt; indessen hatte sie doch der gute Geschmak

und
Agathon.
Sechſtes Capitel.
Agathon kommt nach Athen, und widmet ſich
der Republik. Eine Probe der beſondern
Natur desjenigen Windes, welcher
vom Horaz aura popularis
genennet wird.

Mein Vater hielt ſich nur ſo lange zu Corinth auf,
als es ſeine Geſchaͤfte erfoderten, und eilte ſelbſt, mich
ſo bald es nur moͤglich war, in dieſes Athen zu verſe-
zen, welches ſich meiner verſchoͤnernden Einbildung in
einem ſo herrlichen Lichte darſtellte. Jch geſtehe dir,
Danae, (und hoffe, die fromme Pflicht gegen meine
Vaterſtadt nicht dadurch zu beleidigen) daß der erſte
Anblik mit dem was ich erwartete einen ſtarken Abſaz
machte. Mein Geſchmak war zu ſehr verwoͤhnt, um
das Mittelmaͤßige, worinn es auch ſeyn moͤchte, ertraͤg-
lich zu finden; er wollte gleichſam alles in dieſe feine
Linie eingeſchloſſen ſehen, in welcher das Erhabene mit
dem Schoͤnen zuſammenfließt; und wenn er dieſe Voll-
kommenheit an einzelnen Theilen gewahr wurde, ſo
wollte er, daß alle zuſammenſtimmen, und ein ſich ſelbſt
durchaus aͤhnliches, ſymmetriſches Ganzes ausmachen
ſollten. Von dieſem Grade der Schoͤnheit war Athen,
ſo wie vielleicht eine jede andere Stadt in der Welt, noch
weit entfernt; indeſſen hatte ſie doch der gute Geſchmak

und
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0352" n="330"/>
          <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#g">Agathon.</hi> </hi> </fw><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Sech&#x017F;tes Capitel.</hi><lb/>
Agathon kommt nach Athen, und widmet &#x017F;ich<lb/>
der Republik. Eine Probe der be&#x017F;ondern<lb/>
Natur desjenigen Windes, welcher<lb/>
vom Horaz <hi rendition="#aq">aura popularis</hi><lb/>
genennet wird.</hi> </head><lb/>
            <p><hi rendition="#in">M</hi>ein Vater hielt &#x017F;ich nur &#x017F;o lange zu Corinth auf,<lb/>
als es &#x017F;eine Ge&#x017F;cha&#x0364;fte erfoderten, und eilte &#x017F;elb&#x017F;t, mich<lb/>
&#x017F;o bald es nur mo&#x0364;glich war, in die&#x017F;es Athen zu ver&#x017F;e-<lb/>
zen, welches &#x017F;ich meiner ver&#x017F;cho&#x0364;nernden Einbildung in<lb/>
einem &#x017F;o herrlichen Lichte dar&#x017F;tellte. Jch ge&#x017F;tehe dir,<lb/>
Danae, (und hoffe, die fromme Pflicht gegen meine<lb/>
Vater&#x017F;tadt nicht dadurch zu beleidigen) daß der er&#x017F;te<lb/>
Anblik mit dem was ich erwartete einen &#x017F;tarken Ab&#x017F;az<lb/>
machte. Mein Ge&#x017F;chmak war zu &#x017F;ehr verwo&#x0364;hnt, um<lb/>
das Mittelma&#x0364;ßige, worinn es auch &#x017F;eyn mo&#x0364;chte, ertra&#x0364;g-<lb/>
lich zu finden; er wollte gleich&#x017F;am alles in die&#x017F;e feine<lb/>
Linie einge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ehen, in welcher das Erhabene mit<lb/>
dem Scho&#x0364;nen zu&#x017F;ammenfließt; und wenn er die&#x017F;e Voll-<lb/>
kommenheit an einzelnen Theilen gewahr wurde, &#x017F;o<lb/>
wollte er, daß alle zu&#x017F;ammen&#x017F;timmen, und ein &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
durchaus a&#x0364;hnliches, &#x017F;ymmetri&#x017F;ches Ganzes ausmachen<lb/>
&#x017F;ollten. Von die&#x017F;em Grade der Scho&#x0364;nheit war Athen,<lb/>
&#x017F;o wie vielleicht eine jede andere Stadt in der Welt, noch<lb/>
weit entfernt; inde&#x017F;&#x017F;en hatte &#x017F;ie doch der gute Ge&#x017F;chmak<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">und</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[330/0352] Agathon. Sechſtes Capitel. Agathon kommt nach Athen, und widmet ſich der Republik. Eine Probe der beſondern Natur desjenigen Windes, welcher vom Horaz aura popularis genennet wird. Mein Vater hielt ſich nur ſo lange zu Corinth auf, als es ſeine Geſchaͤfte erfoderten, und eilte ſelbſt, mich ſo bald es nur moͤglich war, in dieſes Athen zu verſe- zen, welches ſich meiner verſchoͤnernden Einbildung in einem ſo herrlichen Lichte darſtellte. Jch geſtehe dir, Danae, (und hoffe, die fromme Pflicht gegen meine Vaterſtadt nicht dadurch zu beleidigen) daß der erſte Anblik mit dem was ich erwartete einen ſtarken Abſaz machte. Mein Geſchmak war zu ſehr verwoͤhnt, um das Mittelmaͤßige, worinn es auch ſeyn moͤchte, ertraͤg- lich zu finden; er wollte gleichſam alles in dieſe feine Linie eingeſchloſſen ſehen, in welcher das Erhabene mit dem Schoͤnen zuſammenfließt; und wenn er dieſe Voll- kommenheit an einzelnen Theilen gewahr wurde, ſo wollte er, daß alle zuſammenſtimmen, und ein ſich ſelbſt durchaus aͤhnliches, ſymmetriſches Ganzes ausmachen ſollten. Von dieſem Grade der Schoͤnheit war Athen, ſo wie vielleicht eine jede andere Stadt in der Welt, noch weit entfernt; indeſſen hatte ſie doch der gute Geſchmak und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/352
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 330. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/352>, abgerufen am 21.11.2024.