zu entdeken, und das der Blumen-Kranz ein Kunstgrif von ihrer Erfindung gewesen war. Nach dieser Nie- derträchtigkeit war keine Boßheit so ungeheuer, deren ich diese Elende nicht fähig gehalten hätte. Jch besorgte nichts für mich selbst, aber alles für die arme Psyche, welche ich der Gewalt einer Nebenbuhlerin überlassen mußte, ohne daß mir alle meine Zärtlichkeit für sie das Vermögen geben konnte, sie davon zu befreyen.
Fünftes Capitel. Agathon entfliehet von Delphi, und findet seinen Vater.
Nachdem ich etliche Tage in der grausamen Ungewiß- heit, was aus meiner Geliebten geworden seyn möchte, zugebracht hatte, erfuhr ich endlich von einer Sclavin der Pythia, welche ihre Freundin gewesen war, daß sie nicht mehr in Delphi sey. Dieses war alle Nach- richt, die ich von ihr ziehen konnte; aber es war ge- nug, mir den Aufenthalt von Delphi unerträglich zu machen. Nunmehr bedacht' ich mich keinen Augenblik, was ich thun wollte. Jch stahl mich in der nächsten Nacht hinweg, ohne um die Folgen eines so unbeson- nenen Schrittes bekümmert zu seyn; oder richtiger zu sagen, in einem Gemüths-Zustande, worinn ich unfä- hig war, einige vernünftige Ueberlegung zu machen. Jch irrte eine Zeitlang an allen Orten herum, wo ich
eine
Agathon.
zu entdeken, und das der Blumen-Kranz ein Kunſtgrif von ihrer Erfindung geweſen war. Nach dieſer Nie- dertraͤchtigkeit war keine Boßheit ſo ungeheuer, deren ich dieſe Elende nicht faͤhig gehalten haͤtte. Jch beſorgte nichts fuͤr mich ſelbſt, aber alles fuͤr die arme Pſyche, welche ich der Gewalt einer Nebenbuhlerin uͤberlaſſen mußte, ohne daß mir alle meine Zaͤrtlichkeit fuͤr ſie das Vermoͤgen geben konnte, ſie davon zu befreyen.
Fuͤnftes Capitel. Agathon entfliehet von Delphi, und findet ſeinen Vater.
Nachdem ich etliche Tage in der grauſamen Ungewiß- heit, was aus meiner Geliebten geworden ſeyn moͤchte, zugebracht hatte, erfuhr ich endlich von einer Sclavin der Pythia, welche ihre Freundin geweſen war, daß ſie nicht mehr in Delphi ſey. Dieſes war alle Nach- richt, die ich von ihr ziehen konnte; aber es war ge- nug, mir den Aufenthalt von Delphi unertraͤglich zu machen. Nunmehr bedacht’ ich mich keinen Augenblik, was ich thun wollte. Jch ſtahl mich in der naͤchſten Nacht hinweg, ohne um die Folgen eines ſo unbeſon- nenen Schrittes bekuͤmmert zu ſeyn; oder richtiger zu ſagen, in einem Gemuͤths-Zuſtande, worinn ich unfaͤ- hig war, einige vernuͤnftige Ueberlegung zu machen. Jch irrte eine Zeitlang an allen Orten herum, wo ich
eine
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0334"n="312"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#g">Agathon.</hi></hi></fw><lb/>
zu entdeken, und das der Blumen-Kranz ein Kunſtgrif<lb/>
von ihrer Erfindung geweſen war. Nach dieſer Nie-<lb/>
dertraͤchtigkeit war keine Boßheit ſo ungeheuer, deren<lb/>
ich dieſe Elende nicht faͤhig gehalten haͤtte. Jch beſorgte<lb/>
nichts fuͤr mich ſelbſt, aber alles fuͤr die arme Pſyche,<lb/>
welche ich der Gewalt einer Nebenbuhlerin uͤberlaſſen<lb/>
mußte, ohne daß mir alle meine Zaͤrtlichkeit fuͤr ſie das<lb/>
Vermoͤgen geben konnte, ſie davon zu befreyen.</p></div><lb/><divn="3"><head><hirendition="#b"><hirendition="#g">Fuͤnftes Capitel.</hi><lb/>
Agathon entfliehet von Delphi, und<lb/>
findet ſeinen Vater.</hi></head><lb/><p><hirendition="#in">N</hi>achdem ich etliche Tage in der grauſamen Ungewiß-<lb/>
heit, was aus meiner Geliebten geworden ſeyn moͤchte,<lb/>
zugebracht hatte, erfuhr ich endlich von einer Sclavin<lb/>
der Pythia, welche ihre Freundin geweſen war, daß<lb/>ſie nicht mehr in Delphi ſey. Dieſes war alle Nach-<lb/>
richt, die ich von ihr ziehen konnte; aber es war ge-<lb/>
nug, mir den Aufenthalt von Delphi unertraͤglich zu<lb/>
machen. Nunmehr bedacht’ ich mich keinen Augenblik,<lb/>
was ich thun wollte. Jch ſtahl mich in der naͤchſten<lb/>
Nacht hinweg, ohne um die Folgen eines ſo unbeſon-<lb/>
nenen Schrittes bekuͤmmert zu ſeyn; oder richtiger zu<lb/>ſagen, in einem Gemuͤths-Zuſtande, worinn ich unfaͤ-<lb/>
hig war, einige vernuͤnftige Ueberlegung zu machen.<lb/>
Jch irrte eine Zeitlang an allen Orten herum, wo ich<lb/><fwplace="bottom"type="catch">eine</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[312/0334]
Agathon.
zu entdeken, und das der Blumen-Kranz ein Kunſtgrif
von ihrer Erfindung geweſen war. Nach dieſer Nie-
dertraͤchtigkeit war keine Boßheit ſo ungeheuer, deren
ich dieſe Elende nicht faͤhig gehalten haͤtte. Jch beſorgte
nichts fuͤr mich ſelbſt, aber alles fuͤr die arme Pſyche,
welche ich der Gewalt einer Nebenbuhlerin uͤberlaſſen
mußte, ohne daß mir alle meine Zaͤrtlichkeit fuͤr ſie das
Vermoͤgen geben konnte, ſie davon zu befreyen.
Fuͤnftes Capitel.
Agathon entfliehet von Delphi, und
findet ſeinen Vater.
Nachdem ich etliche Tage in der grauſamen Ungewiß-
heit, was aus meiner Geliebten geworden ſeyn moͤchte,
zugebracht hatte, erfuhr ich endlich von einer Sclavin
der Pythia, welche ihre Freundin geweſen war, daß
ſie nicht mehr in Delphi ſey. Dieſes war alle Nach-
richt, die ich von ihr ziehen konnte; aber es war ge-
nug, mir den Aufenthalt von Delphi unertraͤglich zu
machen. Nunmehr bedacht’ ich mich keinen Augenblik,
was ich thun wollte. Jch ſtahl mich in der naͤchſten
Nacht hinweg, ohne um die Folgen eines ſo unbeſon-
nenen Schrittes bekuͤmmert zu ſeyn; oder richtiger zu
ſagen, in einem Gemuͤths-Zuſtande, worinn ich unfaͤ-
hig war, einige vernuͤnftige Ueberlegung zu machen.
Jch irrte eine Zeitlang an allen Orten herum, wo ich
eine
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 312. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/334>, abgerufen am 24.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.