Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766.

Bild:
<< vorherige Seite
Agathon.
Zweytes Capitel.
Eine kleine metaphysische Abschweiffung.

Es giebt so verschiedne Gattungen von Liebe, daß es,
wie uns ein Kenner derselben versichert hat, nicht un-
möglich wäre, drey oder vier Personen zu gleicher
Zeit zu lieben, ohne daß sich eine derselben über Un-
treue zu beklagen hätte. Agathon hatte in einem Al-
ter von siebzehn Jahren für die Priesterin zu Delphi
etwas zu empfinden angefangen, das derjenigen Art
von Liebe gleich, die, nach dem Ausdruk des Fieldings,
ein wolzubereiteter Rostbeef einem Menschen einflößt,
der guten Appetit hat. Diese Liebe hatte, ehe er
selbst noch wußte, was daraus werden könnte, der
Zärtlichkeit weichen müssen, welche ihm Psyche ein-
flößte. Die Zuneigung, die er zu diesem liebenswür-
digen Geschöpfe trug, war eine Liebe der Sympathie,
eine Harmonie der Herzen, eine geheime Verwand-
schaft der Seelen, die sich denen, so sie nicht aus Er-
fahrung kennen, unmöglich beschreiben läßt; eine Liebe
an der das Herz und der Geist mehr Antheil nimmt
als die Sinnen, und die vielleicht die einzige Art von
Verbindung ist, welche, (wofern sie allgemein seyn
könnte) den Sterblichen einigen Begriff von den Ver-
bindungen und Vergnügen himmlischer Geister zu
geben fähig wäre. Wir sehen voraus, daß unsre mei-
sten Leser bey dieser Stelle die Nase rümpfen, und

zweifeln
Agathon.
Zweytes Capitel.
Eine kleine metaphyſiſche Abſchweiffung.

Es giebt ſo verſchiedne Gattungen von Liebe, daß es,
wie uns ein Kenner derſelben verſichert hat, nicht un-
moͤglich waͤre, drey oder vier Perſonen zu gleicher
Zeit zu lieben, ohne daß ſich eine derſelben uͤber Un-
treue zu beklagen haͤtte. Agathon hatte in einem Al-
ter von ſiebzehn Jahren fuͤr die Prieſterin zu Delphi
etwas zu empfinden angefangen, das derjenigen Art
von Liebe gleich, die, nach dem Ausdruk des Fieldings,
ein wolzubereiteter Roſtbeef einem Menſchen einfloͤßt,
der guten Appetit hat. Dieſe Liebe hatte, ehe er
ſelbſt noch wußte, was daraus werden koͤnnte, der
Zaͤrtlichkeit weichen muͤſſen, welche ihm Pſyche ein-
floͤßte. Die Zuneigung, die er zu dieſem liebenswuͤr-
digen Geſchoͤpfe trug, war eine Liebe der Sympathie,
eine Harmonie der Herzen, eine geheime Verwand-
ſchaft der Seelen, die ſich denen, ſo ſie nicht aus Er-
fahrung kennen, unmoͤglich beſchreiben laͤßt; eine Liebe
an der das Herz und der Geiſt mehr Antheil nimmt
als die Sinnen, und die vielleicht die einzige Art von
Verbindung iſt, welche, (wofern ſie allgemein ſeyn
koͤnnte) den Sterblichen einigen Begriff von den Ver-
bindungen und Vergnuͤgen himmliſcher Geiſter zu
geben faͤhig waͤre. Wir ſehen voraus, daß unſre mei-
ſten Leſer bey dieſer Stelle die Naſe ruͤmpfen, und

zweifeln
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0192" n="170"/>
          <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#g">Agathon.</hi> </hi> </fw><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Zweytes Capitel.</hi><lb/>
Eine kleine metaphy&#x017F;i&#x017F;che Ab&#x017F;chweiffung.</hi> </head><lb/>
            <p><hi rendition="#in">E</hi>s giebt &#x017F;o ver&#x017F;chiedne Gattungen von Liebe, daß es,<lb/>
wie uns ein Kenner der&#x017F;elben ver&#x017F;ichert hat, nicht un-<lb/>
mo&#x0364;glich wa&#x0364;re, drey oder vier Per&#x017F;onen zu gleicher<lb/>
Zeit zu lieben, ohne daß &#x017F;ich eine der&#x017F;elben u&#x0364;ber Un-<lb/>
treue zu beklagen ha&#x0364;tte. Agathon hatte in einem Al-<lb/>
ter von &#x017F;iebzehn Jahren fu&#x0364;r die Prie&#x017F;terin zu Delphi<lb/>
etwas zu empfinden angefangen, das derjenigen Art<lb/>
von Liebe gleich, die, nach dem Ausdruk des Fieldings,<lb/>
ein wolzubereiteter <hi rendition="#fr">Ro&#x017F;tbeef</hi> einem Men&#x017F;chen einflo&#x0364;ßt,<lb/>
der guten Appetit hat. Die&#x017F;e Liebe hatte, ehe er<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t noch wußte, was daraus werden ko&#x0364;nnte, der<lb/>
Za&#x0364;rtlichkeit weichen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en, welche ihm P&#x017F;yche ein-<lb/>
flo&#x0364;ßte. Die Zuneigung, die er zu die&#x017F;em liebenswu&#x0364;r-<lb/>
digen Ge&#x017F;cho&#x0364;pfe trug, war eine Liebe der Sympathie,<lb/>
eine Harmonie der Herzen, eine geheime Verwand-<lb/>
&#x017F;chaft der Seelen, die &#x017F;ich denen, &#x017F;o &#x017F;ie nicht aus Er-<lb/>
fahrung kennen, unmo&#x0364;glich be&#x017F;chreiben la&#x0364;ßt; eine Liebe<lb/>
an der das Herz und der Gei&#x017F;t mehr Antheil nimmt<lb/>
als die Sinnen, und die vielleicht die einzige Art von<lb/>
Verbindung i&#x017F;t, welche, (wofern &#x017F;ie allgemein &#x017F;eyn<lb/>
ko&#x0364;nnte) den Sterblichen einigen Begriff von den Ver-<lb/>
bindungen und Vergnu&#x0364;gen himmli&#x017F;cher Gei&#x017F;ter zu<lb/>
geben fa&#x0364;hig wa&#x0364;re. Wir &#x017F;ehen voraus, daß un&#x017F;re mei-<lb/>
&#x017F;ten Le&#x017F;er bey die&#x017F;er Stelle die Na&#x017F;e ru&#x0364;mpfen, und<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">zweifeln</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[170/0192] Agathon. Zweytes Capitel. Eine kleine metaphyſiſche Abſchweiffung. Es giebt ſo verſchiedne Gattungen von Liebe, daß es, wie uns ein Kenner derſelben verſichert hat, nicht un- moͤglich waͤre, drey oder vier Perſonen zu gleicher Zeit zu lieben, ohne daß ſich eine derſelben uͤber Un- treue zu beklagen haͤtte. Agathon hatte in einem Al- ter von ſiebzehn Jahren fuͤr die Prieſterin zu Delphi etwas zu empfinden angefangen, das derjenigen Art von Liebe gleich, die, nach dem Ausdruk des Fieldings, ein wolzubereiteter Roſtbeef einem Menſchen einfloͤßt, der guten Appetit hat. Dieſe Liebe hatte, ehe er ſelbſt noch wußte, was daraus werden koͤnnte, der Zaͤrtlichkeit weichen muͤſſen, welche ihm Pſyche ein- floͤßte. Die Zuneigung, die er zu dieſem liebenswuͤr- digen Geſchoͤpfe trug, war eine Liebe der Sympathie, eine Harmonie der Herzen, eine geheime Verwand- ſchaft der Seelen, die ſich denen, ſo ſie nicht aus Er- fahrung kennen, unmoͤglich beſchreiben laͤßt; eine Liebe an der das Herz und der Geiſt mehr Antheil nimmt als die Sinnen, und die vielleicht die einzige Art von Verbindung iſt, welche, (wofern ſie allgemein ſeyn koͤnnte) den Sterblichen einigen Begriff von den Ver- bindungen und Vergnuͤgen himmliſcher Geiſter zu geben faͤhig waͤre. Wir ſehen voraus, daß unſre mei- ſten Leſer bey dieſer Stelle die Naſe ruͤmpfen, und zweifeln

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/192
Zitationshilfe: Wieland, Christoph Martin: Geschichte des Agathon. Bd. 1. Frankfurt (Main) u. a., 1766, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wieland_agathon01_1766/192>, abgerufen am 03.12.2024.