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Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874.

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Tage in die medicinische Klinik aufgenommen, wo mir seine Be-
obachtung durch Herrn Geheimrath Lebert gütigst freigestellt
wurde.

Am 15. Mai war folgender Status: Kräftig gebauter Mann,
mit wenig Altersveränderungen, bei voller Besinnung im Bette
liegend. Schlechtes Aussehen, gelbliche Gesichtsfarbe. Arterien
geschlängelt, aber durchweg elastisch. Herzdämpfung nach links
verbreitert, an der Herzspitze ein systolisches Geräusch. Arythmie.
In Ruhelage sind in der rechten Gesichtshälfte die Falten ver-
strichen, links die Lippen geöffnet; beim Sprechen bleibt die rechte
Mundhälfte in den Bewegungen zurück. Der rechte Arm wird
spontan wenig benützt, die Bewegungen desselben werden lang-
sam und mit sichtlicher Anstrengung ausgeführt, der Händedruck
ist rechts äusserst schwach. Der rechte Arm ist kühler, die Hand
etwas cyanotisch. Die Bewegungsstörung des rechten Beines ist
beim Gang wenig auffallend, nur schleppt er es nach. Dagegen kann
er, wie er ins Bett zurück will, das Bein nicht hineinbringen und
muss die Hände zu Hilfe nehmen. Die Sensibilität, durch Nadel-
stiche geprüft, ist rechts nicht merklich verschieden.

Psychisch ist er etwas stumpf und theilnahmslos, er isst mit
gutem Appetit, spricht spontan den ganzen Tag über nichts, und
antwortet nur auf Fragen Ja oder Nein. Er findet sich in der
Krankenstube schlecht zurecht, kann sich den Abort nicht merken,
verwechselt Gegenstände; so kommt es vor, dass er seinen Urin
erst in das nebenstehende Wasserglas, und dann erst, da dieses
nicht ausreicht, in das Uringlas lässt.

Er versteht alle einfacheren, seinem Gesichtskreise Rechnung
tragenden Mittheilungen, antwortet richtig ja und nein und führt
jeden Auftrag richtig aus. Er kann aber spontan nur ja und
nein sprechen; was er sonst auf Fragen antwortet, ist meist ganz
unverständlich, obwohl einige Articulation darin zu merken ist.
Dagegen kann er Alles richtig nachsagen, zwar mit einiger An-
arthrie, aber in den Vocalen, im Tonfalle der Sylben etc. deutlich
erkennbar. Bei näherer Prüfung stellt sich heraus, dass ihm nur
die Consonanten c, d, t, z und nächstdem das k Schwierigkeiten
machen. Aufgefordert die Zunge zu zeigen, öffnet er nur den
Mund; auch wenn es ihm vorgezeigt wird, kein besserer Erfolg.
Nach rechts und links hin kann er sie nur schwerfällig und ruck-
weise bewegen, umdrehen kann er sie nicht. Die Beweglichkeit
der Zunge ist also sehr bedeutend beeinträchtigt.

Tage in die medicinische Klinik aufgenommen, wo mir seine Be-
obachtung durch Herrn Geheimrath Lebert gütigst freigestellt
wurde.

Am 15. Mai war folgender Status: Kräftig gebauter Mann,
mit wenig Altersveränderungen, bei voller Besinnung im Bette
liegend. Schlechtes Aussehen, gelbliche Gesichtsfarbe. Arterien
geschlängelt, aber durchweg elastisch. Herzdämpfung nach links
verbreitert, an der Herzspitze ein systolisches Geräusch. Arythmie.
In Ruhelage sind in der rechten Gesichtshälfte die Falten ver-
strichen, links die Lippen geöffnet; beim Sprechen bleibt die rechte
Mundhälfte in den Bewegungen zurück. Der rechte Arm wird
spontan wenig benützt, die Bewegungen desselben werden lang-
sam und mit sichtlicher Anstrengung ausgeführt, der Händedruck
ist rechts äusserst schwach. Der rechte Arm ist kühler, die Hand
etwas cyanotisch. Die Bewegungsstörung des rechten Beines ist
beim Gang wenig auffallend, nur schleppt er es nach. Dagegen kann
er, wie er ins Bett zurück will, das Bein nicht hineinbringen und
muss die Hände zu Hilfe nehmen. Die Sensibilität, durch Nadel-
stiche geprüft, ist rechts nicht merklich verschieden.

Psychisch ist er etwas stumpf und theilnahmslos, er isst mit
gutem Appetit, spricht spontan den ganzen Tag über nichts, und
antwortet nur auf Fragen Ja oder Nein. Er findet sich in der
Krankenstube schlecht zurecht, kann sich den Abort nicht merken,
verwechselt Gegenstände; so kommt es vor, dass er seinen Urin
erst in das nebenstehende Wasserglas, und dann erst, da dieses
nicht ausreicht, in das Uringlas lässt.

Er versteht alle einfacheren, seinem Gesichtskreise Rechnung
tragenden Mittheilungen, antwortet richtig ja und nein und führt
jeden Auftrag richtig aus. Er kann aber spontan nur ja und
nein sprechen; was er sonst auf Fragen antwortet, ist meist ganz
unverständlich, obwohl einige Articulation darin zu merken ist.
Dagegen kann er Alles richtig nachsagen, zwar mit einiger An-
arthrie, aber in den Vocalen, im Tonfalle der Sylben etc. deutlich
erkennbar. Bei näherer Prüfung stellt sich heraus, dass ihm nur
die Consonanten c, d, t, z und nächstdem das k Schwierigkeiten
machen. Aufgefordert die Zunge zu zeigen, öffnet er nur den
Mund; auch wenn es ihm vorgezeigt wird, kein besserer Erfolg.
Nach rechts und links hin kann er sie nur schwerfällig und ruck-
weise bewegen, umdrehen kann er sie nicht. Die Beweglichkeit
der Zunge ist also sehr bedeutend beeinträchtigt.

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[60/0064] Tage in die medicinische Klinik aufgenommen, wo mir seine Be- obachtung durch Herrn Geheimrath Lebert gütigst freigestellt wurde. Am 15. Mai war folgender Status: Kräftig gebauter Mann, mit wenig Altersveränderungen, bei voller Besinnung im Bette liegend. Schlechtes Aussehen, gelbliche Gesichtsfarbe. Arterien geschlängelt, aber durchweg elastisch. Herzdämpfung nach links verbreitert, an der Herzspitze ein systolisches Geräusch. Arythmie. In Ruhelage sind in der rechten Gesichtshälfte die Falten ver- strichen, links die Lippen geöffnet; beim Sprechen bleibt die rechte Mundhälfte in den Bewegungen zurück. Der rechte Arm wird spontan wenig benützt, die Bewegungen desselben werden lang- sam und mit sichtlicher Anstrengung ausgeführt, der Händedruck ist rechts äusserst schwach. Der rechte Arm ist kühler, die Hand etwas cyanotisch. Die Bewegungsstörung des rechten Beines ist beim Gang wenig auffallend, nur schleppt er es nach. Dagegen kann er, wie er ins Bett zurück will, das Bein nicht hineinbringen und muss die Hände zu Hilfe nehmen. Die Sensibilität, durch Nadel- stiche geprüft, ist rechts nicht merklich verschieden. Psychisch ist er etwas stumpf und theilnahmslos, er isst mit gutem Appetit, spricht spontan den ganzen Tag über nichts, und antwortet nur auf Fragen Ja oder Nein. Er findet sich in der Krankenstube schlecht zurecht, kann sich den Abort nicht merken, verwechselt Gegenstände; so kommt es vor, dass er seinen Urin erst in das nebenstehende Wasserglas, und dann erst, da dieses nicht ausreicht, in das Uringlas lässt. Er versteht alle einfacheren, seinem Gesichtskreise Rechnung tragenden Mittheilungen, antwortet richtig ja und nein und führt jeden Auftrag richtig aus. Er kann aber spontan nur ja und nein sprechen; was er sonst auf Fragen antwortet, ist meist ganz unverständlich, obwohl einige Articulation darin zu merken ist. Dagegen kann er Alles richtig nachsagen, zwar mit einiger An- arthrie, aber in den Vocalen, im Tonfalle der Sylben etc. deutlich erkennbar. Bei näherer Prüfung stellt sich heraus, dass ihm nur die Consonanten c, d, t, z und nächstdem das k Schwierigkeiten machen. Aufgefordert die Zunge zu zeigen, öffnet er nur den Mund; auch wenn es ihm vorgezeigt wird, kein besserer Erfolg. Nach rechts und links hin kann er sie nur schwerfällig und ruck- weise bewegen, umdrehen kann er sie nicht. Die Beweglichkeit der Zunge ist also sehr bedeutend beeinträchtigt.

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Zitationshilfe: Wernicke, Carl: Der aphasische Symptomencomplex. Breslau, 1874, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wernicke_symptomencomplex_1874/64>, abgerufen am 26.04.2024.