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Weber, Max: Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik. Freiburg (Breisgau) u. a., 1895.

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der Pandektisten beginnt es hie und da leise ökonomisch zu spuken;
und in den Urteilen der Gerichte finden wir nicht selten, wo
die juristischen Begriffe zu Ende gingen, sogenannte "wirtschaft-
liche Gesichtspunkte" an die Stelle gesetzt, - kurz, um das halb
vorwurfsvolle Wort eines juristischen Kollegen zu gebrauchen:
wir sind "in die Mode gekommen". - Eine Betrachtungs-
weise, welche sich so selbstbewußt Bahn bricht, geräth in die
Gefahr gewisser Jllusionen und einer Ueberschätzung der Trag-
weite der eigenen Gesichtspunkte, - einer Ueberschätzung zumal
in einer ganz bestimmten Richtung. Wie die Verbreiterung des
Stoffes der philosophischen Betrachtung, - welche sich schon
äußerlich darin kenntlich macht, daß wir heute vielfach die alten
Lehrstühle der Philosophie den Händen z. B. hervorragender Physio-
logen anvertraut finden, - unter uns Laien vielfach zu der
Meinung geführt hat, als seien die alten Fragen nach dem Wesen
des menschlichen Erkennens nicht mehr die letzten und centralen Pro-
bleme der Philosophie, so hat sich in den Köpfen der aufwach-
senden Generation auch die Vorstellung gebildet, als sei Dank
der Arbeit der nationalökonomischen Wissenschaft nicht nur die
Erkenntnis des Wesens der menschlichen Gemeinschaften gewaltig
erweitert, sondern auch der Maßstab, an welchem wir in letzter
Linie die Erscheinungen bewerten, ein völlig neuer geworden,
als sei die politische Oekonomie in der Lage, ihrem eigenen
Stoff eigenartige Jdeale zu entnehmen. Die optische Täuschung,
als gäbe es selbständige ökonomische oder "sozialpolitische"
Jdeale, wird freilich als solche klar, sobald man an der Hand
der Litteratur unserer Wissenschaft diese "eigenen" Grundlagen der
Bewertung zu ermitteln sucht. Ein Chaos von Wertmaßstäben
teils eudämonistischer, teils ethischer Art, oft beider in unklarer

der Pandektiſten beginnt es hie und da leiſe ökonomiſch zu ſpuken;
und in den Urteilen der Gerichte finden wir nicht ſelten, wo
die juriſtiſchen Begriffe zu Ende gingen, ſogenannte „wirtſchaft-
liche Geſichtspunkte“ an die Stelle geſetzt, – kurz, um das halb
vorwurfsvolle Wort eines juriſtiſchen Kollegen zu gebrauchen:
wir ſind „in die Mode gekommen“. – Eine Betrachtungs-
weiſe, welche ſich ſo ſelbſtbewußt Bahn bricht, geräth in die
Gefahr gewiſſer Jlluſionen und einer Ueberſchätzung der Trag-
weite der eigenen Geſichtspunkte, – einer Ueberſchätzung zumal
in einer ganz beſtimmten Richtung. Wie die Verbreiterung des
Stoffes der philoſophiſchen Betrachtung, – welche ſich ſchon
äußerlich darin kenntlich macht, daß wir heute vielfach die alten
Lehrſtühle der Philoſophie den Händen z. B. hervorragender Phyſio-
logen anvertraut finden, – unter uns Laien vielfach zu der
Meinung geführt hat, als ſeien die alten Fragen nach dem Weſen
des menſchlichen Erkennens nicht mehr die letzten und centralen Pro-
bleme der Philoſophie, ſo hat ſich in den Köpfen der aufwach-
ſenden Generation auch die Vorſtellung gebildet, als ſei Dank
der Arbeit der nationalökonomiſchen Wiſſenſchaft nicht nur die
Erkenntnis des Weſens der menſchlichen Gemeinſchaften gewaltig
erweitert, ſondern auch der Maßſtab, an welchem wir in letzter
Linie die Erſcheinungen bewerten, ein völlig neuer geworden,
als ſei die politiſche Oekonomie in der Lage, ihrem eigenen
Stoff eigenartige Jdeale zu entnehmen. Die optiſche Täuſchung,
als gäbe es ſelbſtändige ökonomiſche oder „sozialpolitiſche“
Jdeale, wird freilich als ſolche klar, ſobald man an der Hand
der Litteratur unſerer Wiſſenſchaft dieſe „eigenen“ Grundlagen der
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[21/0027] der Pandektiſten beginnt es hie und da leiſe ökonomiſch zu ſpuken; und in den Urteilen der Gerichte finden wir nicht ſelten, wo die juriſtiſchen Begriffe zu Ende gingen, ſogenannte „wirtſchaft- liche Geſichtspunkte“ an die Stelle geſetzt, – kurz, um das halb vorwurfsvolle Wort eines juriſtiſchen Kollegen zu gebrauchen: wir ſind „in die Mode gekommen“. – Eine Betrachtungs- weiſe, welche ſich ſo ſelbſtbewußt Bahn bricht, geräth in die Gefahr gewiſſer Jlluſionen und einer Ueberſchätzung der Trag- weite der eigenen Geſichtspunkte, – einer Ueberſchätzung zumal in einer ganz beſtimmten Richtung. Wie die Verbreiterung des Stoffes der philoſophiſchen Betrachtung, – welche ſich ſchon äußerlich darin kenntlich macht, daß wir heute vielfach die alten Lehrſtühle der Philoſophie den Händen z. B. hervorragender Phyſio- logen anvertraut finden, – unter uns Laien vielfach zu der Meinung geführt hat, als ſeien die alten Fragen nach dem Weſen des menſchlichen Erkennens nicht mehr die letzten und centralen Pro- bleme der Philoſophie, ſo hat ſich in den Köpfen der aufwach- ſenden Generation auch die Vorſtellung gebildet, als ſei Dank der Arbeit der nationalökonomiſchen Wiſſenſchaft nicht nur die Erkenntnis des Weſens der menſchlichen Gemeinſchaften gewaltig erweitert, ſondern auch der Maßſtab, an welchem wir in letzter Linie die Erſcheinungen bewerten, ein völlig neuer geworden, als ſei die politiſche Oekonomie in der Lage, ihrem eigenen Stoff eigenartige Jdeale zu entnehmen. Die optiſche Täuſchung, als gäbe es ſelbſtändige ökonomiſche oder „sozialpolitiſche“ Jdeale, wird freilich als ſolche klar, ſobald man an der Hand der Litteratur unſerer Wiſſenſchaft dieſe „eigenen“ Grundlagen der Bewertung zu ermitteln ſucht. Ein Chaos von Wertmaßſtäben teils eudämoniſtiſcher, teils ethiſcher Art, oft beider in unklarer

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Zitationshilfe: Weber, Max: Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik. Freiburg (Breisgau) u. a., 1895, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/weber_nationalstaat_1895/27>, abgerufen am 26.04.2024.