Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.
Mittelpuncte, der lebendigen Idee des Dichtwerks stehen; so können ganz §. 843. Vor diesen Mitteln und diesem Geiste der Poesie fallen die Schranken, Die Mittel, wodurch die Malerei befähigt ist, Häßliches ästhetisch auf-
Mittelpuncte, der lebendigen Idee des Dichtwerks ſtehen; ſo können ganz §. 843. Vor dieſen Mitteln und dieſem Geiſte der Poeſie fallen die Schranken, Die Mittel, wodurch die Malerei befähigt iſt, Häßliches äſthetiſch auf- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0051" n="1187"/> Mittelpuncte, der lebendigen Idee des Dichtwerks ſtehen; ſo können ganz<lb/> proſaiſche Verhältniſſe, z. B. Rechtsfragen, die furchtbarſten Leidenſchaften,<lb/> Probleme des Wiſſens die ſchwerſten Gemüthskämpfe hervorrufen, umge-<lb/> kehrt ſittliche Kräfte ſich darin äußern, daß ſie Thaten ausführen, Lebens-<lb/> formen begründen, welche weſentlich proſaiſche Beſtandtheile mit ſich führen,<lb/> die vom Dichter auseinandergeſetzt werden müſſen, ſie können ihre Fülle<lb/> und Tiefe im Ausſprechen von allgemeinen Wahrheiten, Sätzen der Weis-<lb/> heit offenbaren, wie der ſchlimme Charakter ſeine Verkehrtheit durch Lüge<lb/> und Widerſpruch. Ja alles dieß iſt vielmehr nothwendig, wo die Kunſt<lb/> mit dem Mittel der Sprache das Leben in der Geſammtheit ſeiner Erſchei-<lb/> nungsſeiten darſtellt, und es iſt abermals zu erinnern, was die bildende<lb/> Kunſt entbehrt, indem ſie alle dieſe Vermittlungen nicht nennen kann. Um-<lb/> faſſende Kunſtwerke der Poeſie werden, indem ihnen ſo der Dichter unbe-<lb/> ſchadet der Objectivität und Concretion ihres äſthetiſchen Lebensſitzes Gedanken<lb/> in reiner Gedankenform einflechten darf, zu einem Schatze tiefer Wahrheiten;<lb/> Shakespeare’s und Göthe’s Werke ſind ganz durchſättigt mit dem Salze der<lb/> Lebensweisheit. — Wir haben dieſen Punct ſchon berührt in der Lehre<lb/> vom Erhabenen des Subjects, §. 103; hier, im Gebiete der Poeſie, tritt<lb/> er erſt in volles und richtiges Licht.</hi> </p> </div><lb/> <div n="4"> <head>§. 843.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Vor dieſen Mitteln und dieſem Geiſte der Poeſie fallen die Schranken,<lb/> welche der Einführung des <hi rendition="#g">Häßlichen</hi> auch im Gebiete der Malerei noch<lb/> geſetzt ſind, und es bleibt nur die allgemeine äſthetiſche Bedingung übrig, daß<lb/> ſich daſſelbe in ein <hi rendition="#g">Erhabenes</hi> oder <hi rendition="#g">Komiſches</hi> auflöſe. Sie erſchöpft nicht<lb/> nur dieſe widerſtreitenden Formen, ſondern auch das einfach Schöne in einer<lb/> Weite und Tiefe wie keine andere Kunſt.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">Die Mittel, wodurch die Malerei befähigt iſt, Häßliches äſthetiſch auf-<lb/> zulöſen, erkannten wir in der Vielheit von Erſcheinungen, die ſie in Einem<lb/> Bilde zu vereinigen vermag und durch die es ihr möglich wird, den an<lb/> ſich abſtoßenden Eindruck einer Form im Fortgang zu andern, ſchöneren,<lb/> aufzuheben, ferner in dem fortleitenden, dämpfenden Charakter der Farbe<lb/> und endlich überhaupt in der Herrſchaft des Ausdrucks über die Form. Die<lb/> Poeſie beſitzt nicht nur dieſe Mittel, ſondern ungleich mehr. Sie ſchwächt<lb/> überhaupt und vor Allem die Graßheit der unmittelbaren Erſcheinung des<lb/> Häßlichen ſchon dadurch, daß ſie es nur der innern Anſchauung vorführt.<lb/> Mit dem Satze in §. 837 Anm., daß das nur vorgeſtellte Furchtbare un-<lb/> endlich ſtärker wirke, als das wirklich geſchaute („Schrecken der Einbildung<lb/> ſind furchtbarer, als wirkliche“ ſagt Makbeth), ſteht dieſe Wahrheit in keinem<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1187/0051]
Mittelpuncte, der lebendigen Idee des Dichtwerks ſtehen; ſo können ganz
proſaiſche Verhältniſſe, z. B. Rechtsfragen, die furchtbarſten Leidenſchaften,
Probleme des Wiſſens die ſchwerſten Gemüthskämpfe hervorrufen, umge-
kehrt ſittliche Kräfte ſich darin äußern, daß ſie Thaten ausführen, Lebens-
formen begründen, welche weſentlich proſaiſche Beſtandtheile mit ſich führen,
die vom Dichter auseinandergeſetzt werden müſſen, ſie können ihre Fülle
und Tiefe im Ausſprechen von allgemeinen Wahrheiten, Sätzen der Weis-
heit offenbaren, wie der ſchlimme Charakter ſeine Verkehrtheit durch Lüge
und Widerſpruch. Ja alles dieß iſt vielmehr nothwendig, wo die Kunſt
mit dem Mittel der Sprache das Leben in der Geſammtheit ſeiner Erſchei-
nungsſeiten darſtellt, und es iſt abermals zu erinnern, was die bildende
Kunſt entbehrt, indem ſie alle dieſe Vermittlungen nicht nennen kann. Um-
faſſende Kunſtwerke der Poeſie werden, indem ihnen ſo der Dichter unbe-
ſchadet der Objectivität und Concretion ihres äſthetiſchen Lebensſitzes Gedanken
in reiner Gedankenform einflechten darf, zu einem Schatze tiefer Wahrheiten;
Shakespeare’s und Göthe’s Werke ſind ganz durchſättigt mit dem Salze der
Lebensweisheit. — Wir haben dieſen Punct ſchon berührt in der Lehre
vom Erhabenen des Subjects, §. 103; hier, im Gebiete der Poeſie, tritt
er erſt in volles und richtiges Licht.
§. 843.
Vor dieſen Mitteln und dieſem Geiſte der Poeſie fallen die Schranken,
welche der Einführung des Häßlichen auch im Gebiete der Malerei noch
geſetzt ſind, und es bleibt nur die allgemeine äſthetiſche Bedingung übrig, daß
ſich daſſelbe in ein Erhabenes oder Komiſches auflöſe. Sie erſchöpft nicht
nur dieſe widerſtreitenden Formen, ſondern auch das einfach Schöne in einer
Weite und Tiefe wie keine andere Kunſt.
Die Mittel, wodurch die Malerei befähigt iſt, Häßliches äſthetiſch auf-
zulöſen, erkannten wir in der Vielheit von Erſcheinungen, die ſie in Einem
Bilde zu vereinigen vermag und durch die es ihr möglich wird, den an
ſich abſtoßenden Eindruck einer Form im Fortgang zu andern, ſchöneren,
aufzuheben, ferner in dem fortleitenden, dämpfenden Charakter der Farbe
und endlich überhaupt in der Herrſchaft des Ausdrucks über die Form. Die
Poeſie beſitzt nicht nur dieſe Mittel, ſondern ungleich mehr. Sie ſchwächt
überhaupt und vor Allem die Graßheit der unmittelbaren Erſcheinung des
Häßlichen ſchon dadurch, daß ſie es nur der innern Anſchauung vorführt.
Mit dem Satze in §. 837 Anm., daß das nur vorgeſtellte Furchtbare un-
endlich ſtärker wirke, als das wirklich geſchaute („Schrecken der Einbildung
ſind furchtbarer, als wirkliche“ ſagt Makbeth), ſteht dieſe Wahrheit in keinem
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |