unserer Cultur allzufern liegende Collisionen statt tiefwurzelnder behandelt werden. -- Die Tragödie des engeren Privatlebens endlich kann sich doch auch zur Hervorstellung des Prinzipiellen hinneigen, wenn z. B. in Collisionen wie zwischen Liebe und Ehre, Liebe und Kindespflicht das Gewicht von der be- sondern Färbung der Charaktere mehr auf das allgemein Sittliche verlegt ist.
§. 913.
Die classisch ideale Stylrichtung steht in natürlichem Anziehungsver- hältniß zu den sagenhaft heroischen und historisch politischen Stoffen, die natu- ralistische und individualisirende zu denen des bürgerlichen und Privat-Lebens. Allein auch dieß Verhältniß ist kein ausschließliches; insbesondere ist im letzteren Styl eine dem idealen Schwunge des ersteren bei allem Gegensatze tief ver- wandte oder durch Aneignung desselben erhöhte Form von einer im engeren Sinne naturalistischen zu unterscheiden, die sich zu den Stoffgebieten so ver- halten, daß jene auch den großen Gegenständen der zwei ersten, diese nur den weniger erhabenen der andern Sphären angemessen ist.
Die Stylfrage, deren geschichtliche Beleuchtung wir vorangeschickt haben, tritt also jetzt als ein Moment in der Eintheilung der Formen ein. Der erste Satz des §. bedarf keiner Erörterung und wir wenden uns sogleich zu dem tiefen Unterschiede innerhalb des charakteristischen Styls, den der Schlußsatz zugleich mit seiner Beziehung zu den Stoffgebieten hervorhebt. Es ist klar, daß unter der Gestalt dieses Styls, die als eine bei allem Ge- gensatze doch dem classisch idealen tief verwandte bezeichnet wird, der Sha- kespeare'sche verstanden ist. Er steht auf schroff gegenüberliegendem Gipfel und trägt doch einen Kothurn, der ihn den Griechen ganz ebenbürtig macht. Er kann und soll sich aber, wie wir gesehen haben, mit dem Formgefühle des classischen verbinden, noch inniger, als bei Schiller und Göthe. Dieser geläuterte germanisch charakteristische Styl gehört nun ganz den historisch- politischen Stoffen; er kann sich aber auch den Stoffen des bürgerlichen und Privatlebens zuwenden, wie wir an dem reinen Sittenbilde, Göthe's Tasso, sehen, worin der Umstand, daß der Schauplatz ein Hof ist, an dem Begriffe der Sphäre nichts verändert, denn mit der politischen Seite des fürstlichen Standes hat dieß Drama nichts zu schaffen, nur mit der mensch- lich sozialen. Im Großen und Ganzen aber, namentlich wenn es nicht durch solchen Hintergrund der edelsten Blüthe der Humanität auf den Höhen der Gesellschaft gehoben ist, führt dieß Gebiet allerdings so viel Nöthigung mit sich, in die realen, harten, selbst prosaischen Lebensbedingungen tief ein- zugehen, daß hiedurch der charakteristische Styl im engeren Sinne der Na- turwahrheit bedingt ist und hiemit auch die prosaische Sprache.
unſerer Cultur allzufern liegende Colliſionen ſtatt tiefwurzelnder behandelt werden. — Die Tragödie des engeren Privatlebens endlich kann ſich doch auch zur Hervorſtellung des Prinzipiellen hinneigen, wenn z. B. in Colliſionen wie zwiſchen Liebe und Ehre, Liebe und Kindespflicht das Gewicht von der be- ſondern Färbung der Charaktere mehr auf das allgemein Sittliche verlegt iſt.
§. 913.
Die claſſiſch ideale Stylrichtung ſteht in natürlichem Anziehungsver- hältniß zu den ſagenhaft heroiſchen und hiſtoriſch politiſchen Stoffen, die natu- raliſtiſche und individualiſirende zu denen des bürgerlichen und Privat-Lebens. Allein auch dieß Verhältniß iſt kein ausſchließliches; insbeſondere iſt im letzteren Styl eine dem idealen Schwunge des erſteren bei allem Gegenſatze tief ver- wandte oder durch Aneignung deſſelben erhöhte Form von einer im engeren Sinne naturaliſtiſchen zu unterſcheiden, die ſich zu den Stoffgebieten ſo ver- halten, daß jene auch den großen Gegenſtänden der zwei erſten, dieſe nur den weniger erhabenen der andern Sphären angemeſſen iſt.
Die Stylfrage, deren geſchichtliche Beleuchtung wir vorangeſchickt haben, tritt alſo jetzt als ein Moment in der Eintheilung der Formen ein. Der erſte Satz des §. bedarf keiner Erörterung und wir wenden uns ſogleich zu dem tiefen Unterſchiede innerhalb des charakteriſtiſchen Styls, den der Schlußſatz zugleich mit ſeiner Beziehung zu den Stoffgebieten hervorhebt. Es iſt klar, daß unter der Geſtalt dieſes Styls, die als eine bei allem Ge- genſatze doch dem claſſiſch idealen tief verwandte bezeichnet wird, der Sha- kespeare’ſche verſtanden iſt. Er ſteht auf ſchroff gegenüberliegendem Gipfel und trägt doch einen Kothurn, der ihn den Griechen ganz ebenbürtig macht. Er kann und ſoll ſich aber, wie wir geſehen haben, mit dem Formgefühle des claſſiſchen verbinden, noch inniger, als bei Schiller und Göthe. Dieſer geläuterte germaniſch charakteriſtiſche Styl gehört nun ganz den hiſtoriſch- politiſchen Stoffen; er kann ſich aber auch den Stoffen des bürgerlichen und Privatlebens zuwenden, wie wir an dem reinen Sittenbilde, Göthe’s Taſſo, ſehen, worin der Umſtand, daß der Schauplatz ein Hof iſt, an dem Begriffe der Sphäre nichts verändert, denn mit der politiſchen Seite des fürſtlichen Standes hat dieß Drama nichts zu ſchaffen, nur mit der menſch- lich ſozialen. Im Großen und Ganzen aber, namentlich wenn es nicht durch ſolchen Hintergrund der edelſten Blüthe der Humanität auf den Höhen der Geſellſchaft gehoben iſt, führt dieß Gebiet allerdings ſo viel Nöthigung mit ſich, in die realen, harten, ſelbſt proſaiſchen Lebensbedingungen tief ein- zugehen, daß hiedurch der charakteriſtiſche Styl im engeren Sinne der Na- turwahrheit bedingt iſt und hiemit auch die proſaiſche Sprache.
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unſerer Cultur allzufern liegende Colliſionen ſtatt tiefwurzelnder behandelt
werden. — Die Tragödie des engeren Privatlebens endlich kann ſich doch auch
zur Hervorſtellung des Prinzipiellen hinneigen, wenn z. B. in Colliſionen wie
zwiſchen Liebe und Ehre, Liebe und Kindespflicht das Gewicht von der be-
ſondern Färbung der Charaktere mehr auf das allgemein Sittliche verlegt iſt.
§. 913.
Die claſſiſch ideale Stylrichtung ſteht in natürlichem Anziehungsver-
hältniß zu den ſagenhaft heroiſchen und hiſtoriſch politiſchen Stoffen, die natu-
raliſtiſche und individualiſirende zu denen des bürgerlichen und Privat-Lebens.
Allein auch dieß Verhältniß iſt kein ausſchließliches; insbeſondere iſt im letzteren
Styl eine dem idealen Schwunge des erſteren bei allem Gegenſatze tief ver-
wandte oder durch Aneignung deſſelben erhöhte Form von einer im engeren
Sinne naturaliſtiſchen zu unterſcheiden, die ſich zu den Stoffgebieten ſo ver-
halten, daß jene auch den großen Gegenſtänden der zwei erſten, dieſe nur den
weniger erhabenen der andern Sphären angemeſſen iſt.
Die Stylfrage, deren geſchichtliche Beleuchtung wir vorangeſchickt haben,
tritt alſo jetzt als ein Moment in der Eintheilung der Formen ein. Der
erſte Satz des §. bedarf keiner Erörterung und wir wenden uns ſogleich
zu dem tiefen Unterſchiede innerhalb des charakteriſtiſchen Styls, den der
Schlußſatz zugleich mit ſeiner Beziehung zu den Stoffgebieten hervorhebt.
Es iſt klar, daß unter der Geſtalt dieſes Styls, die als eine bei allem Ge-
genſatze doch dem claſſiſch idealen tief verwandte bezeichnet wird, der Sha-
kespeare’ſche verſtanden iſt. Er ſteht auf ſchroff gegenüberliegendem Gipfel
und trägt doch einen Kothurn, der ihn den Griechen ganz ebenbürtig macht.
Er kann und ſoll ſich aber, wie wir geſehen haben, mit dem Formgefühle
des claſſiſchen verbinden, noch inniger, als bei Schiller und Göthe. Dieſer
geläuterte germaniſch charakteriſtiſche Styl gehört nun ganz den hiſtoriſch-
politiſchen Stoffen; er kann ſich aber auch den Stoffen des bürgerlichen
und Privatlebens zuwenden, wie wir an dem reinen Sittenbilde, Göthe’s
Taſſo, ſehen, worin der Umſtand, daß der Schauplatz ein Hof iſt, an dem
Begriffe der Sphäre nichts verändert, denn mit der politiſchen Seite des
fürſtlichen Standes hat dieß Drama nichts zu ſchaffen, nur mit der menſch-
lich ſozialen. Im Großen und Ganzen aber, namentlich wenn es nicht
durch ſolchen Hintergrund der edelſten Blüthe der Humanität auf den Höhen
der Geſellſchaft gehoben iſt, führt dieß Gebiet allerdings ſo viel Nöthigung
mit ſich, in die realen, harten, ſelbſt proſaiſchen Lebensbedingungen tief ein-
zugehen, daß hiedurch der charakteriſtiſche Styl im engeren Sinne der Na-
turwahrheit bedingt iſt und hiemit auch die proſaiſche Sprache.
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1428. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/292>, abgerufen am 22.02.2025.
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