Für die Tragödie bildet den nächsten Eintheilungsgrund der Unterschied des Stoffes. Derselbe ist entweder sagenhaft heroisch oder historisch politisch, wo denn prinzipielle Umwälzungen des Bestehenden durch gewaltige Charaktere den der Dichtungsart entsprechendsten Inhalt darbieten, oder er gehört dem bürgerlichen und Privat-Leben an. Historisch politischer Hintergrund hebt die letztere Sphäre in die Nähe der ersteren.
Es versteht sich, daß die Eintheilung nach dem Stoffe nicht erschöpfend ist; die Eintheilungsgründe sind nacheinander aufzustellen und dann ihre Convergenzen und Divergenzen aufzuzeigen. -- Wir haben schon in §. 907 gesagt und in der Anm. weiter ausgeführt, daß das moderne Drama die sagenhaft heroischen Stoffe mit dem oft von uns hervorgehobenen großen Vortheile, den sie bringen, nicht aufzugeben hat. Es bedarf also keines weiteren Wortes, um zu rechtfertigen, daß wir diese Sphäre als Glied einer bleibenden Eintheilung aufführen. Der eigentliche, heimische Boden des modernen Drama's sind aber natürlich die hellen Epochen der Geschichte; die Arbeit ist unendlich schwerer, der Fehlgriff der Stoffwahl, die Ueberwäl- tigung durch den massenhaften, von der Sage nicht vereinfachten Gegenstand, daher die Verirrung in die Breite des Epischen liegt nahe genug, allein alle moderne Kunst hat die Aufgabe, zur ursprünglichen Stoffwelt sich zurückzuwenden und den schweren Kampf ohne die hülfreiche Vorarbeit der allgemeinen Phantasie auf sich zu nehmen. Von der einen Seite betrachtet sind Stoffe aus der alten Geschichte günstiger. Die Welt ist eine einfachere, klarere, schon durch die größere Ferne der Zeit mehr idealisirte. Der alte Orient enthält noch manchen ungehobenen Schatz, namentlich ist Herodot noch zu wenig benützt. Ganz modernes Bewußtsein, tiefe und raffinirte Conflicte des Herzens und Weltschmerz in alttestamentliche Stoffe zwängen ist eine der Verkehrtheiten unserer Zeit. Einen größeren Reich- thum ächt dramatischer Stoffe bringt natürlich die classische, die grie- chische und römische Geschichte dem Dichter entgegen. Er findet hier neben solchen Zuständen, Begebenheiten, Charakteren, die unzweifelhaft mehr epischer Stoff sind, die prinzipiellen Kämpfe, die das Drama verlangt, die radi- calen Charaktere, welche mit hellem Bewußtsein eine bestehende Ord- nung stürzen und tragisch untergehen. Wie glücklich hat Shakespeare im Coriolan, im Cäsar gegriffen! Dagegen haben die antiken Stoffe den Nach- theil, daß die Charaktere und Culturformen für das Drama zu typisch einfach sind. Im Mittelalter ist es umgekehrt; diese sind colorirt, aber die sittlichen Kräfte handeln zu dunkel und unbewußt. Dieß ist besonders der Fall in dem wilden und blutigen Auflösungskampfe des Feudalstaats, wie er
§. 910.
Für die Tragödie bildet den nächſten Eintheilungsgrund der Unterſchied des Stoffes. Derſelbe iſt entweder ſagenhaft heroiſch oder hiſtoriſch politiſch, wo denn prinzipielle Umwälzungen des Beſtehenden durch gewaltige Charaktere den der Dichtungsart entſprechendſten Inhalt darbieten, oder er gehört dem bürgerlichen und Privat-Leben an. Hiſtoriſch politiſcher Hintergrund hebt die letztere Sphäre in die Nähe der erſteren.
Es verſteht ſich, daß die Eintheilung nach dem Stoffe nicht erſchöpfend iſt; die Eintheilungsgründe ſind nacheinander aufzuſtellen und dann ihre Convergenzen und Divergenzen aufzuzeigen. — Wir haben ſchon in §. 907 geſagt und in der Anm. weiter ausgeführt, daß das moderne Drama die ſagenhaft heroiſchen Stoffe mit dem oft von uns hervorgehobenen großen Vortheile, den ſie bringen, nicht aufzugeben hat. Es bedarf alſo keines weiteren Wortes, um zu rechtfertigen, daß wir dieſe Sphäre als Glied einer bleibenden Eintheilung aufführen. Der eigentliche, heimiſche Boden des modernen Drama’s ſind aber natürlich die hellen Epochen der Geſchichte; die Arbeit iſt unendlich ſchwerer, der Fehlgriff der Stoffwahl, die Ueberwäl- tigung durch den maſſenhaften, von der Sage nicht vereinfachten Gegenſtand, daher die Verirrung in die Breite des Epiſchen liegt nahe genug, allein alle moderne Kunſt hat die Aufgabe, zur urſprünglichen Stoffwelt ſich zurückzuwenden und den ſchweren Kampf ohne die hülfreiche Vorarbeit der allgemeinen Phantaſie auf ſich zu nehmen. Von der einen Seite betrachtet ſind Stoffe aus der alten Geſchichte günſtiger. Die Welt iſt eine einfachere, klarere, ſchon durch die größere Ferne der Zeit mehr idealiſirte. Der alte Orient enthält noch manchen ungehobenen Schatz, namentlich iſt Herodot noch zu wenig benützt. Ganz modernes Bewußtſein, tiefe und raffinirte Conflicte des Herzens und Weltſchmerz in altteſtamentliche Stoffe zwängen iſt eine der Verkehrtheiten unſerer Zeit. Einen größeren Reich- thum ächt dramatiſcher Stoffe bringt natürlich die claſſiſche, die grie- chiſche und römiſche Geſchichte dem Dichter entgegen. Er findet hier neben ſolchen Zuſtänden, Begebenheiten, Charakteren, die unzweifelhaft mehr epiſcher Stoff ſind, die prinzipiellen Kämpfe, die das Drama verlangt, die radi- calen Charaktere, welche mit hellem Bewußtſein eine beſtehende Ord- nung ſtürzen und tragiſch untergehen. Wie glücklich hat Shakespeare im Coriolan, im Cäſar gegriffen! Dagegen haben die antiken Stoffe den Nach- theil, daß die Charaktere und Culturformen für das Drama zu typiſch einfach ſind. Im Mittelalter iſt es umgekehrt; dieſe ſind colorirt, aber die ſittlichen Kräfte handeln zu dunkel und unbewußt. Dieß iſt beſonders der Fall in dem wilden und blutigen Auflöſungskampfe des Feudalſtaats, wie er
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§. 910.
Für die Tragödie bildet den nächſten Eintheilungsgrund der Unterſchied
des Stoffes. Derſelbe iſt entweder ſagenhaft heroiſch oder hiſtoriſch
politiſch, wo denn prinzipielle Umwälzungen des Beſtehenden durch gewaltige
Charaktere den der Dichtungsart entſprechendſten Inhalt darbieten, oder er
gehört dem bürgerlichen und Privat-Leben an. Hiſtoriſch politiſcher
Hintergrund hebt die letztere Sphäre in die Nähe der erſteren.
Es verſteht ſich, daß die Eintheilung nach dem Stoffe nicht erſchöpfend
iſt; die Eintheilungsgründe ſind nacheinander aufzuſtellen und dann ihre
Convergenzen und Divergenzen aufzuzeigen. — Wir haben ſchon in §. 907
geſagt und in der Anm. weiter ausgeführt, daß das moderne Drama
die ſagenhaft heroiſchen Stoffe mit dem oft von uns hervorgehobenen großen
Vortheile, den ſie bringen, nicht aufzugeben hat. Es bedarf alſo keines
weiteren Wortes, um zu rechtfertigen, daß wir dieſe Sphäre als Glied
einer bleibenden Eintheilung aufführen. Der eigentliche, heimiſche Boden
des modernen Drama’s ſind aber natürlich die hellen Epochen der Geſchichte;
die Arbeit iſt unendlich ſchwerer, der Fehlgriff der Stoffwahl, die Ueberwäl-
tigung durch den maſſenhaften, von der Sage nicht vereinfachten Gegenſtand,
daher die Verirrung in die Breite des Epiſchen liegt nahe genug, allein
alle moderne Kunſt hat die Aufgabe, zur urſprünglichen Stoffwelt ſich
zurückzuwenden und den ſchweren Kampf ohne die hülfreiche Vorarbeit der
allgemeinen Phantaſie auf ſich zu nehmen. Von der einen Seite betrachtet
ſind Stoffe aus der alten Geſchichte günſtiger. Die Welt iſt eine
einfachere, klarere, ſchon durch die größere Ferne der Zeit mehr idealiſirte.
Der alte Orient enthält noch manchen ungehobenen Schatz, namentlich iſt
Herodot noch zu wenig benützt. Ganz modernes Bewußtſein, tiefe und
raffinirte Conflicte des Herzens und Weltſchmerz in altteſtamentliche Stoffe
zwängen iſt eine der Verkehrtheiten unſerer Zeit. Einen größeren Reich-
thum ächt dramatiſcher Stoffe bringt natürlich die claſſiſche, die grie-
chiſche und römiſche Geſchichte dem Dichter entgegen. Er findet hier neben
ſolchen Zuſtänden, Begebenheiten, Charakteren, die unzweifelhaft mehr epiſcher
Stoff ſind, die prinzipiellen Kämpfe, die das Drama verlangt, die radi-
calen Charaktere, welche mit hellem Bewußtſein eine beſtehende Ord-
nung ſtürzen und tragiſch untergehen. Wie glücklich hat Shakespeare im
Coriolan, im Cäſar gegriffen! Dagegen haben die antiken Stoffe den Nach-
theil, daß die Charaktere und Culturformen für das Drama zu typiſch
einfach ſind. Im Mittelalter iſt es umgekehrt; dieſe ſind colorirt, aber die
ſittlichen Kräfte handeln zu dunkel und unbewußt. Dieß iſt beſonders der
Fall in dem wilden und blutigen Auflöſungskampfe des Feudalſtaats, wie er
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1421. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/285>, abgerufen am 21.11.2024.
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