Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.2. Die Arten der dramatischen Poesie. §. 904. Der Stylgegensatz, der alles Kunstleben beherrscht, tritt nirgends so Der erste Satz bedarf kaum eines Beweises, denn nur bei oberfläch- Da wir die Geschichte der Poesie nicht getrennt behandeln, sondern 2. Die Arten der dramatiſchen Poeſie. §. 904. Der Stylgegenſatz, der alles Kunſtleben beherrſcht, tritt nirgends ſo Der erſte Satz bedarf kaum eines Beweiſes, denn nur bei oberfläch- Da wir die Geſchichte der Poeſie nicht getrennt behandeln, ſondern <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0270" n="1406"/> <div n="4"> <head>2. Die Arten der dramatiſchen Poeſie.</head><lb/> <div n="5"> <head>§. 904.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Der <hi rendition="#g">Stylgegenſatz</hi>, der alles Kunſtleben beherrſcht, tritt nirgends ſo<lb/> durchgreifend zu Tage, als in der dramatiſchen Poeſie. Er theilt dieſelbe<lb/> zunächſt <hi rendition="#g">geſchichtlich</hi> in zwei große Welten, deren Werthverhältnß jedoch ein<lb/> anderes iſt, als in der epiſchen Dichtung, indem das Drama des modernen,<lb/> charakteriſtiſchen Styls dem Weſen der Dichtungsart vollkommener entſpricht,<lb/> als das Drama des antiken, idealen Styls. Doch behält dieſes für alle Zeit<lb/> ſeinen regulativen Werth.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">Der erſte Satz bedarf kaum eines Beweiſes, denn nur bei oberfläch-<lb/> licher Betrachtung könnte es ſcheinen, daß in einer Kunſtform, welche das<lb/> Aeußere auf den ſchmalſten Punct zuſammendrängt, kein tiefer Unterſchied<lb/> eintreten könne in der Behandlung der Züge, die der Pflug des Lebens<lb/> den Erſcheinungen eingräbt und durch die ſich Individuum von Individuum<lb/> unterſcheidet. Alles Aeußere gewinnt ſeine wahre Bedeutung erſt auf dem<lb/> Puncte, wo es vom Charakter verarbeitet wird und zugleich ihm ſeine ſpezi-<lb/> fiſche Farbe verleiht; die unendliche Eigenheit des Individuums hat ihren<lb/> letzten Grund im Innern, wo geheimnißvoll die reine geiſtige Kraft des<lb/> Willens ſich mit dem Angeborenen, mit der ganzen Naturbeſtimmtheit zur<lb/> Einheit bindet. Im Kampfe des Lebens wird dieſer Einheitspunct thätige<lb/> Kraft, nun kommt es auf uns an, welche beſtimmtere, markirende Züge<lb/> ſich dem Bild unſerer Erſcheinung aufprägen; der Charakter iſt ſelbſt der<lb/> Zeichner ſeiner Geſtalt. Eben aus dieſer Wahrheit macht das Drama<lb/> Ernſt, indem es nicht, wie das Epos, der Phantaſie die Erſcheinungen<lb/> vorzeichnet, ſondern den Charakter vor uns ſo handeln und leiden läßt,<lb/> daß wir, noch ohne Hülfe der Schauſpielkunſt, uns ſein äußeres Bild von<lb/> innen heraus, aus ſeinen Willensbewegungen aufbauen. Diejenige Kunſt-<lb/> form, die aus dem Charakter das Schickſal entwickelt, führt alſo gerade<lb/> recht an die Quelle, in den Mittelpunct, wo das individuelle Gepräge der<lb/> Lebenszüge ſeinen Sitz und Ausgang hat, in deſſen verſchiedener Behandlung<lb/> der große Stylgegenſatz beruht. Stellt man Sophokles und Shakespeare oder<lb/> Göthe und Shakespeare nebeneinander, ſo zeigt man klarer, was unter dieſem<lb/> Gegenſatze verſtanden ſei, als wenn man Homer mit einem epiſchen Dichter<lb/> der romantiſchen Zeit oder einem modernen Romandichter zuſammenſtellt, ja<lb/> klarer ſelbſt, als wenn man Raphael und Rembrandt nebeneinander hält.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">Da wir die Geſchichte der Poeſie nicht getrennt behandeln, ſondern<lb/> in die Lehre von den Zweigen verarbeiten, ſo iſt der Stylgegenſatz, wie er<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1406/0270]
2. Die Arten der dramatiſchen Poeſie.
§. 904.
Der Stylgegenſatz, der alles Kunſtleben beherrſcht, tritt nirgends ſo
durchgreifend zu Tage, als in der dramatiſchen Poeſie. Er theilt dieſelbe
zunächſt geſchichtlich in zwei große Welten, deren Werthverhältnß jedoch ein
anderes iſt, als in der epiſchen Dichtung, indem das Drama des modernen,
charakteriſtiſchen Styls dem Weſen der Dichtungsart vollkommener entſpricht,
als das Drama des antiken, idealen Styls. Doch behält dieſes für alle Zeit
ſeinen regulativen Werth.
Der erſte Satz bedarf kaum eines Beweiſes, denn nur bei oberfläch-
licher Betrachtung könnte es ſcheinen, daß in einer Kunſtform, welche das
Aeußere auf den ſchmalſten Punct zuſammendrängt, kein tiefer Unterſchied
eintreten könne in der Behandlung der Züge, die der Pflug des Lebens
den Erſcheinungen eingräbt und durch die ſich Individuum von Individuum
unterſcheidet. Alles Aeußere gewinnt ſeine wahre Bedeutung erſt auf dem
Puncte, wo es vom Charakter verarbeitet wird und zugleich ihm ſeine ſpezi-
fiſche Farbe verleiht; die unendliche Eigenheit des Individuums hat ihren
letzten Grund im Innern, wo geheimnißvoll die reine geiſtige Kraft des
Willens ſich mit dem Angeborenen, mit der ganzen Naturbeſtimmtheit zur
Einheit bindet. Im Kampfe des Lebens wird dieſer Einheitspunct thätige
Kraft, nun kommt es auf uns an, welche beſtimmtere, markirende Züge
ſich dem Bild unſerer Erſcheinung aufprägen; der Charakter iſt ſelbſt der
Zeichner ſeiner Geſtalt. Eben aus dieſer Wahrheit macht das Drama
Ernſt, indem es nicht, wie das Epos, der Phantaſie die Erſcheinungen
vorzeichnet, ſondern den Charakter vor uns ſo handeln und leiden läßt,
daß wir, noch ohne Hülfe der Schauſpielkunſt, uns ſein äußeres Bild von
innen heraus, aus ſeinen Willensbewegungen aufbauen. Diejenige Kunſt-
form, die aus dem Charakter das Schickſal entwickelt, führt alſo gerade
recht an die Quelle, in den Mittelpunct, wo das individuelle Gepräge der
Lebenszüge ſeinen Sitz und Ausgang hat, in deſſen verſchiedener Behandlung
der große Stylgegenſatz beruht. Stellt man Sophokles und Shakespeare oder
Göthe und Shakespeare nebeneinander, ſo zeigt man klarer, was unter dieſem
Gegenſatze verſtanden ſei, als wenn man Homer mit einem epiſchen Dichter
der romantiſchen Zeit oder einem modernen Romandichter zuſammenſtellt, ja
klarer ſelbſt, als wenn man Raphael und Rembrandt nebeneinander hält.
Da wir die Geſchichte der Poeſie nicht getrennt behandeln, ſondern
in die Lehre von den Zweigen verarbeiten, ſo iſt der Stylgegenſatz, wie er
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