Wir dürfen schon hier, obwohl wir diesen Punct an seinem Orte noch ausdrücklich in's Auge fassen müssen, unsern Satz durch die Erscheinung im Gebiete der Komödie beleuchten, daß man so häufig humoristische Cha- rakterschöpfung ohne lebendigen Gang und Wirkung der Fabel oder wohl angelegte Intrigue bei dürftiger Charakterzeichnung findet. Das Talent der Charakterschöpfung ist an sich bedeutender, als das der Fabelschöpfung, aber Angesichts der spezifischen Forderung der Dichtungsart ist das letztere das strenger geforderte und so allerdings das vorzüglichere. Doch wir haben hier zunächst das ernste, das tragische Schicksal im Auge, und bemerken noch zum Schlußsatze des §.: im Drama muß das Tragische darum am vollsten und reinsten zur Darstellung kommen, weil seine ganze Majestät aus dem Gange einer gegenwärtigen Handlung sich entwickelt. Das Schicksalsgefühl ist ein Gefühl des unendlich Drohenden, dann plötzlich Eintretenden, es wird in seiner ganzen Stärke nur da erweckt, wo vor unsern Augen, jetzt, in diesem Augenblick das Ungeheure geschieht.
§. 900.
In derselben Form des gegenwärtigen Entstehens einer Handlung aus den Charakteren durch das geistige Mittel der Sprache, wodurch die dramatische Dicht-Art den tragischen Prozeß in seiner ganzen Tiefe und Straffheit zur Er- scheinung bringt, ist es begründet, daß sie auch sein komisches Gegenbild in einer Vollkommenheit und Selbständigkeit ohne Gleichen zu erzeugen vermag. Das einfach Schöne in seiner ganzen Anmuth kann sie in diese Bewegungen stürmischer verwickeln oder unversehrter in sie einflechten. Sie ist daher der vollendetste Ausdruck der allgemeinen Grundformen des Schönen und auch in diesem Sinne kehrt durch sie das System in sich selbst zurück.
Der §. nimmt seinen ersten Satz aus dem Schlusse der Anm. zum vorh. §. deßwegen auf, weil für das Komische die Form der Gegenwart seine ganz besondere Wichtigkeit hat, und ebenso verhält es sich mit dem Mittel der Sprache, das darum hier ausdrücklich noch einmal betont werden mußte. Das Komische ist diejenige unter den Grundformen des Schönen, in welcher am sichtbarsten der Accent nicht auf dem Factischen liegt, sondern auf dem Bewußtsein, seinen Widersprüchen, ihrer Auflösung. Sein volles, wahres Bild muß also erst da möglich sein, wo es als komischer Charakter vor uns tritt, in Redeform sein Inneres selbst bekennt, so daß wir in die Widersprüche seines Bewußtseins hineinsehen, daß er in seiner unendlichen Naivetät gegenwärtig von uns belauscht wird. Er hat wohl die Lauscher im Stücke um sich, als subjectiv humoristischer Charakter belauscht er sogar sich selbst, aber der Bruch löst sich darin nicht ganz, der völlig durchsichtige
Wir dürfen ſchon hier, obwohl wir dieſen Punct an ſeinem Orte noch ausdrücklich in’s Auge faſſen müſſen, unſern Satz durch die Erſcheinung im Gebiete der Komödie beleuchten, daß man ſo häufig humoriſtiſche Cha- rakterſchöpfung ohne lebendigen Gang und Wirkung der Fabel oder wohl angelegte Intrigue bei dürftiger Charakterzeichnung findet. Das Talent der Charakterſchöpfung iſt an ſich bedeutender, als das der Fabelſchöpfung, aber Angeſichts der ſpezifiſchen Forderung der Dichtungsart iſt das letztere das ſtrenger geforderte und ſo allerdings das vorzüglichere. Doch wir haben hier zunächſt das ernſte, das tragiſche Schickſal im Auge, und bemerken noch zum Schlußſatze des §.: im Drama muß das Tragiſche darum am vollſten und reinſten zur Darſtellung kommen, weil ſeine ganze Majeſtät aus dem Gange einer gegenwärtigen Handlung ſich entwickelt. Das Schickſalsgefühl iſt ein Gefühl des unendlich Drohenden, dann plötzlich Eintretenden, es wird in ſeiner ganzen Stärke nur da erweckt, wo vor unſern Augen, jetzt, in dieſem Augenblick das Ungeheure geſchieht.
§. 900.
In derſelben Form des gegenwärtigen Entſtehens einer Handlung aus den Charakteren durch das geiſtige Mittel der Sprache, wodurch die dramatiſche Dicht-Art den tragiſchen Prozeß in ſeiner ganzen Tiefe und Straffheit zur Er- ſcheinung bringt, iſt es begründet, daß ſie auch ſein komiſches Gegenbild in einer Vollkommenheit und Selbſtändigkeit ohne Gleichen zu erzeugen vermag. Das einfach Schöne in ſeiner ganzen Anmuth kann ſie in dieſe Bewegungen ſtürmiſcher verwickeln oder unverſehrter in ſie einflechten. Sie iſt daher der vollendetſte Ausdruck der allgemeinen Grundformen des Schönen und auch in dieſem Sinne kehrt durch ſie das Syſtem in ſich ſelbſt zurück.
Der §. nimmt ſeinen erſten Satz aus dem Schluſſe der Anm. zum vorh. §. deßwegen auf, weil für das Komiſche die Form der Gegenwart ſeine ganz beſondere Wichtigkeit hat, und ebenſo verhält es ſich mit dem Mittel der Sprache, das darum hier ausdrücklich noch einmal betont werden mußte. Das Komiſche iſt diejenige unter den Grundformen des Schönen, in welcher am ſichtbarſten der Accent nicht auf dem Factiſchen liegt, ſondern auf dem Bewußtſein, ſeinen Widerſprüchen, ihrer Auflöſung. Sein volles, wahres Bild muß alſo erſt da möglich ſein, wo es als komiſcher Charakter vor uns tritt, in Redeform ſein Inneres ſelbſt bekennt, ſo daß wir in die Widerſprüche ſeines Bewußtſeins hineinſehen, daß er in ſeiner unendlichen Naivetät gegenwärtig von uns belauſcht wird. Er hat wohl die Lauſcher im Stücke um ſich, als ſubjectiv humoriſtiſcher Charakter belauſcht er ſogar ſich ſelbſt, aber der Bruch löst ſich darin nicht ganz, der völlig durchſichtige
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[1388/0252]
Wir dürfen ſchon hier, obwohl wir dieſen Punct an ſeinem Orte noch
ausdrücklich in’s Auge faſſen müſſen, unſern Satz durch die Erſcheinung
im Gebiete der Komödie beleuchten, daß man ſo häufig humoriſtiſche Cha-
rakterſchöpfung ohne lebendigen Gang und Wirkung der Fabel oder wohl
angelegte Intrigue bei dürftiger Charakterzeichnung findet. Das Talent
der Charakterſchöpfung iſt an ſich bedeutender, als das der Fabelſchöpfung,
aber Angeſichts der ſpezifiſchen Forderung der Dichtungsart iſt das letztere
das ſtrenger geforderte und ſo allerdings das vorzüglichere. Doch wir haben
hier zunächſt das ernſte, das tragiſche Schickſal im Auge, und bemerken noch
zum Schlußſatze des §.: im Drama muß das Tragiſche darum am vollſten
und reinſten zur Darſtellung kommen, weil ſeine ganze Majeſtät aus dem
Gange einer gegenwärtigen Handlung ſich entwickelt. Das Schickſalsgefühl
iſt ein Gefühl des unendlich Drohenden, dann plötzlich Eintretenden, es
wird in ſeiner ganzen Stärke nur da erweckt, wo vor unſern Augen, jetzt,
in dieſem Augenblick das Ungeheure geſchieht.
§. 900.
In derſelben Form des gegenwärtigen Entſtehens einer Handlung aus
den Charakteren durch das geiſtige Mittel der Sprache, wodurch die dramatiſche
Dicht-Art den tragiſchen Prozeß in ſeiner ganzen Tiefe und Straffheit zur Er-
ſcheinung bringt, iſt es begründet, daß ſie auch ſein komiſches Gegenbild
in einer Vollkommenheit und Selbſtändigkeit ohne Gleichen zu erzeugen vermag.
Das einfach Schöne in ſeiner ganzen Anmuth kann ſie in dieſe Bewegungen
ſtürmiſcher verwickeln oder unverſehrter in ſie einflechten. Sie iſt daher der
vollendetſte Ausdruck der allgemeinen Grundformen des Schönen und auch in
dieſem Sinne kehrt durch ſie das Syſtem in ſich ſelbſt zurück.
Der §. nimmt ſeinen erſten Satz aus dem Schluſſe der Anm. zum
vorh. §. deßwegen auf, weil für das Komiſche die Form der Gegenwart
ſeine ganz beſondere Wichtigkeit hat, und ebenſo verhält es ſich mit dem
Mittel der Sprache, das darum hier ausdrücklich noch einmal betont werden
mußte. Das Komiſche iſt diejenige unter den Grundformen des Schönen,
in welcher am ſichtbarſten der Accent nicht auf dem Factiſchen liegt, ſondern
auf dem Bewußtſein, ſeinen Widerſprüchen, ihrer Auflöſung. Sein volles,
wahres Bild muß alſo erſt da möglich ſein, wo es als komiſcher Charakter
vor uns tritt, in Redeform ſein Inneres ſelbſt bekennt, ſo daß wir in die
Widerſprüche ſeines Bewußtſeins hineinſehen, daß er in ſeiner unendlichen
Naivetät gegenwärtig von uns belauſcht wird. Er hat wohl die Lauſcher
im Stücke um ſich, als ſubjectiv humoriſtiſcher Charakter belauſcht er ſogar
ſich ſelbſt, aber der Bruch löst ſich darin nicht ganz, der völlig durchſichtige
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1388. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/252>, abgerufen am 22.02.2025.
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