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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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heit, für welche nichts existirt, was nicht mittelbar oder unmittelbar vom
Geist als dem Zwecksetzenden, in ein Netz von Zwecken Alles, was ihm
gegenüber blos Natur, blos Masse ist, einspannenden ausgeht oder von
ihm als Grund einer Willensbestimmung approbirt ist. Der frei wollende
Geist denkt seinen Zweck; auch der zweite Theil von §. 842, welcher der
Poesie das Aussprechen allgemeiner Gedanken vindicirt, findet daher hier
seine vollste Anwendung: der Zweck wird im Drama, wie vor dem eigenen
Bewußtsein, so vor dem Freunde, vor dem Gegner gerechtfertigt, es wird
mit Gründen gekämpft, bleibende Wahrheiten, Sentenzen, breitere Ausfüh-
rungen gehen herüber und hinüber und stellen den Kampf der Kräfte in
ein Tageslicht, das ihn nach allen Seiten beleuchtet und ihm den Stempel
eines Kampfes von Ideen aufprägt. Dieß Element ist es, was Aristoteles
(Poet. C. 6) die dianoia nennt, die Rechtfertigung des Strebens durch
Gedanken-Ausdruck, und was wir als das Gnomische bezeichnen. Die
Durchklärung des Stoffs mit diesem Lichte des Bewußtseins hat natürlich
verschiedene Stufen, mehr instinctives Dunkel bleibt in gewissen Formen
des Drama zurück, aber wir ziehen den Grundbegriff billig aus der durch-
sichtigsten. Es gibt auch eine Stufe, wo sie zu weit geht und eine drama-
tische Poesie der Betrachtung hervorbringt, eine Grenze, an welcher Göthe
und Schiller sich hinbewegen. -- Wenn nun so die Welt unter den Stand-
punct des sich durchführenden ethischen Zweckes rückt, so wird durch diese
Adstriction die Breite, wodurch sich das dramatische Bild zwar wesentlich von
der lyrischen Punctualität unterscheidet, in ihrem Umfange doch nothwendig
wieder verengt. Aehnlich wie in der Plastik muß hier das möglichst Wenige
dienen, um die äußere Sphäre und das physische Geschehen anzudeuten, und
diese Sparsamkeit, ganz abgesehen von der Rücksicht auf die scenischen Schwie-
rigkeiten, drückt aus, daß der dramatische Dichter nicht wie der epische am
Naturdasein in seiner Gediegenheit einfach seine Freude hat, sondern daß
es ihm werthlos ist, sofern es nicht in sichtbaren ethischen Zusammenhang
tritt. Im Drama kommt z. B. ein Ankleiden, ein Essen vor, wenn es
für die Handlung und ihre große Kette von Verdienst und Schuld wesentlich
ist, daß dieß oder jenes gerade in einer solchen Situation eintrat; wogegen
das Epos bei diesen Dingen aus reiner Lust weit hinaus über den bedingen-
den Zusammenhang der Handlung verweilt. -- Dieß führt auf die strenge
Ausscheidung des Zufalls. Dieser Punct ist in der Lehre vom Tragischen
§. 117. 130. 133. 135 vollständig erörtet.

§. 898.

Der persönliche Wille ist in concreter Gestalt wesentlich Charakter,
dem sein Zweck zum Pathos geworden. Keine Form der Kunst ist so ganz zur

heit, für welche nichts exiſtirt, was nicht mittelbar oder unmittelbar vom
Geiſt als dem Zweckſetzenden, in ein Netz von Zwecken Alles, was ihm
gegenüber blos Natur, blos Maſſe iſt, einſpannenden ausgeht oder von
ihm als Grund einer Willensbeſtimmung approbirt iſt. Der frei wollende
Geiſt denkt ſeinen Zweck; auch der zweite Theil von §. 842, welcher der
Poeſie das Ausſprechen allgemeiner Gedanken vindicirt, findet daher hier
ſeine vollſte Anwendung: der Zweck wird im Drama, wie vor dem eigenen
Bewußtſein, ſo vor dem Freunde, vor dem Gegner gerechtfertigt, es wird
mit Gründen gekämpft, bleibende Wahrheiten, Sentenzen, breitere Ausfüh-
rungen gehen herüber und hinüber und ſtellen den Kampf der Kräfte in
ein Tageslicht, das ihn nach allen Seiten beleuchtet und ihm den Stempel
eines Kampfes von Ideen aufprägt. Dieß Element iſt es, was Ariſtoteles
(Poet. C. 6) die διανοια nennt, die Rechtfertigung des Strebens durch
Gedanken-Ausdruck, und was wir als das Gnomiſche bezeichnen. Die
Durchklärung des Stoffs mit dieſem Lichte des Bewußtſeins hat natürlich
verſchiedene Stufen, mehr inſtinctives Dunkel bleibt in gewiſſen Formen
des Drama zurück, aber wir ziehen den Grundbegriff billig aus der durch-
ſichtigſten. Es gibt auch eine Stufe, wo ſie zu weit geht und eine drama-
tiſche Poeſie der Betrachtung hervorbringt, eine Grenze, an welcher Göthe
und Schiller ſich hinbewegen. — Wenn nun ſo die Welt unter den Stand-
punct des ſich durchführenden ethiſchen Zweckes rückt, ſo wird durch dieſe
Adſtriction die Breite, wodurch ſich das dramatiſche Bild zwar weſentlich von
der lyriſchen Punctualität unterſcheidet, in ihrem Umfange doch nothwendig
wieder verengt. Aehnlich wie in der Plaſtik muß hier das möglichſt Wenige
dienen, um die äußere Sphäre und das phyſiſche Geſchehen anzudeuten, und
dieſe Sparſamkeit, ganz abgeſehen von der Rückſicht auf die ſceniſchen Schwie-
rigkeiten, drückt aus, daß der dramatiſche Dichter nicht wie der epiſche am
Naturdaſein in ſeiner Gediegenheit einfach ſeine Freude hat, ſondern daß
es ihm werthlos iſt, ſofern es nicht in ſichtbaren ethiſchen Zuſammenhang
tritt. Im Drama kommt z. B. ein Ankleiden, ein Eſſen vor, wenn es
für die Handlung und ihre große Kette von Verdienſt und Schuld weſentlich
iſt, daß dieß oder jenes gerade in einer ſolchen Situation eintrat; wogegen
das Epos bei dieſen Dingen aus reiner Luſt weit hinaus über den bedingen-
den Zuſammenhang der Handlung verweilt. — Dieß führt auf die ſtrenge
Ausſcheidung des Zufalls. Dieſer Punct iſt in der Lehre vom Tragiſchen
§. 117. 130. 133. 135 vollſtändig erörtet.

§. 898.

Der perſönliche Wille iſt in concreter Geſtalt weſentlich Charakter,
dem ſein Zweck zum Pathos geworden. Keine Form der Kunſt iſt ſo ganz zur

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[1382/0246] heit, für welche nichts exiſtirt, was nicht mittelbar oder unmittelbar vom Geiſt als dem Zweckſetzenden, in ein Netz von Zwecken Alles, was ihm gegenüber blos Natur, blos Maſſe iſt, einſpannenden ausgeht oder von ihm als Grund einer Willensbeſtimmung approbirt iſt. Der frei wollende Geiſt denkt ſeinen Zweck; auch der zweite Theil von §. 842, welcher der Poeſie das Ausſprechen allgemeiner Gedanken vindicirt, findet daher hier ſeine vollſte Anwendung: der Zweck wird im Drama, wie vor dem eigenen Bewußtſein, ſo vor dem Freunde, vor dem Gegner gerechtfertigt, es wird mit Gründen gekämpft, bleibende Wahrheiten, Sentenzen, breitere Ausfüh- rungen gehen herüber und hinüber und ſtellen den Kampf der Kräfte in ein Tageslicht, das ihn nach allen Seiten beleuchtet und ihm den Stempel eines Kampfes von Ideen aufprägt. Dieß Element iſt es, was Ariſtoteles (Poet. C. 6) die διανοια nennt, die Rechtfertigung des Strebens durch Gedanken-Ausdruck, und was wir als das Gnomiſche bezeichnen. Die Durchklärung des Stoffs mit dieſem Lichte des Bewußtſeins hat natürlich verſchiedene Stufen, mehr inſtinctives Dunkel bleibt in gewiſſen Formen des Drama zurück, aber wir ziehen den Grundbegriff billig aus der durch- ſichtigſten. Es gibt auch eine Stufe, wo ſie zu weit geht und eine drama- tiſche Poeſie der Betrachtung hervorbringt, eine Grenze, an welcher Göthe und Schiller ſich hinbewegen. — Wenn nun ſo die Welt unter den Stand- punct des ſich durchführenden ethiſchen Zweckes rückt, ſo wird durch dieſe Adſtriction die Breite, wodurch ſich das dramatiſche Bild zwar weſentlich von der lyriſchen Punctualität unterſcheidet, in ihrem Umfange doch nothwendig wieder verengt. Aehnlich wie in der Plaſtik muß hier das möglichſt Wenige dienen, um die äußere Sphäre und das phyſiſche Geſchehen anzudeuten, und dieſe Sparſamkeit, ganz abgeſehen von der Rückſicht auf die ſceniſchen Schwie- rigkeiten, drückt aus, daß der dramatiſche Dichter nicht wie der epiſche am Naturdaſein in ſeiner Gediegenheit einfach ſeine Freude hat, ſondern daß es ihm werthlos iſt, ſofern es nicht in ſichtbaren ethiſchen Zuſammenhang tritt. Im Drama kommt z. B. ein Ankleiden, ein Eſſen vor, wenn es für die Handlung und ihre große Kette von Verdienſt und Schuld weſentlich iſt, daß dieß oder jenes gerade in einer ſolchen Situation eintrat; wogegen das Epos bei dieſen Dingen aus reiner Luſt weit hinaus über den bedingen- den Zuſammenhang der Handlung verweilt. — Dieß führt auf die ſtrenge Ausſcheidung des Zufalls. Dieſer Punct iſt in der Lehre vom Tragiſchen §. 117. 130. 133. 135 vollſtändig erörtet. §. 898. Der perſönliche Wille iſt in concreter Geſtalt weſentlich Charakter, dem ſein Zweck zum Pathos geworden. Keine Form der Kunſt iſt ſo ganz zur

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1382. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/246>, abgerufen am 21.11.2024.