Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.
so kehrt der Kreis der Poesie ganz gefüllt in sich zurück, wie in der Poesie §. 896. Das Lyrische und Epische, Subjective und Objective kann sich nur so ver- Das directe Aussprechen des Innern ist das Lyrische im Drama.
ſo kehrt der Kreis der Poeſie ganz gefüllt in ſich zurück, wie in der Poeſie §. 896. Das Lyriſche und Epiſche, Subjective und Objective kann ſich nur ſo ver- Das directe Ausſprechen des Innern iſt das Lyriſche im Drama. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0240" n="1376"/> ſo kehrt der Kreis der Poeſie ganz gefüllt in ſich zurück, wie in der Poeſie<lb/> überhaupt der Kreis der Kunſt und mit ihm der ganze Kreis des Syſtems<lb/> der Aeſthetik: ein Kreis im Kreiſe, eine Verarbeitung der Welt in die Form,<lb/> die alle Weiſen und Seiten erſchöpft, ihre Linie immer weiter gezogen und,<lb/> was ſie umfaßt, immer tiefer und tiefer gegründet und verarbeitet hat und<lb/> nun beruhigt nicht weiter kann und will, ſondern in ſich ſelbſt zurückläuft.<lb/> Die Poeſie iſt die Kunſt der Künſte; im Epos wiederholt ſich die bildende<lb/> Kunſt und analog das Naturſchöne, in der Lyrik die Muſik und analog<lb/> die Phantaſie, im Drama die Poeſie ſelbſt und analog die Kunſt: das<lb/> Drama iſt die Poeſie der Poeſie.</hi> </p> </div><lb/> <div n="5"> <head>§. 896.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Das Lyriſche und Epiſche, Subjective und Objective kann ſich nur ſo ver-<lb/> einigen, daß es ſich zugleich weſentlich verändert. Der Dichter ſpricht durch<lb/> Perſonen, in die er ſich verwandelt und die er gegenwärtig vor uns auftreten<lb/> läßt, ſein Inneres aus: dieß iſt lyriſch. Der Perſonen ſind mehrere, ſie ver-<lb/> harren nicht auf einem Puncte ihres inneren Lebens, ſondern bewegen ſich in<lb/> der Folge der Zeit, wirken nach außen und bringen durch Wirkung und Ge-<lb/> genwirkung eine Handlung hervor, in welcher ſich mit ihrem Complex von<lb/> äußern Bedingungen ein breiteres Weltbild, ſichtbar für die innere Vorſtellung<lb/> entfaltet: dieß iſt epiſch. Allein an die Stelle der lyriſchen Gemüths-Erregung<lb/> und der epiſchen Zuſtändlichkeit muß in dieſer Verbindung als Inhalt der freie<lb/> Geiſt treten, der mit hellem Bewußtſein ſeinen Willen zur That beſtimmt; die<lb/> lyriſche Gegenwart ſpannt ſich energiſch nach der <hi rendition="#g">Zukunft</hi>, die Form iſt aus-<lb/> ſchließlich <hi rendition="#g">dialogiſch</hi> und das Weltbild als ein ſichtbares erzeugt ſich ohne<lb/> ausdrückliche Schilderung aus dem Bilde des innern Lebens der Charaktere.<lb/> Das Innere des Dichters muß im Subjectiven objectiv, zur Welt und Menſch-<lb/> heit erweitert ſein. Er iſt in ſeinem Werk ebenſo ganz gegenwärtig, als ganz<lb/> abweſend; dieſes beſteht daher ganz ſelbſtändig, losgelöst vom Dichter, denn er<lb/> iſt ganz darin aufgegangen: die vollkommenſte Erfüllung des Begriffes der Kunſt<lb/> (§. 489 und 524), die reifſte und daher <hi rendition="#g">ſpäteſte</hi> Frucht ihres Wachsthums.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">Das directe Ausſprechen des Innern iſt das Lyriſche im Drama.<lb/> Der Dichter ſpricht zwar nicht in eigener Perſon, ſondern aus dem Munde<lb/> Anderer, in deren Zuſtände er ſich verſetzt hat, allein dieß hebt zunächſt den<lb/> lyriſchen Charakter nicht auf, denn wir haben auch dieſe Umwandlung als<lb/> eine Form des Lyriſchen kennen gelernt, die noch ganz in den Grenzen<lb/> dieſes Zweiges bleibt, wiewohl ſie allerdings zugleich den Fortgang zum<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1376/0240]
ſo kehrt der Kreis der Poeſie ganz gefüllt in ſich zurück, wie in der Poeſie
überhaupt der Kreis der Kunſt und mit ihm der ganze Kreis des Syſtems
der Aeſthetik: ein Kreis im Kreiſe, eine Verarbeitung der Welt in die Form,
die alle Weiſen und Seiten erſchöpft, ihre Linie immer weiter gezogen und,
was ſie umfaßt, immer tiefer und tiefer gegründet und verarbeitet hat und
nun beruhigt nicht weiter kann und will, ſondern in ſich ſelbſt zurückläuft.
Die Poeſie iſt die Kunſt der Künſte; im Epos wiederholt ſich die bildende
Kunſt und analog das Naturſchöne, in der Lyrik die Muſik und analog
die Phantaſie, im Drama die Poeſie ſelbſt und analog die Kunſt: das
Drama iſt die Poeſie der Poeſie.
§. 896.
Das Lyriſche und Epiſche, Subjective und Objective kann ſich nur ſo ver-
einigen, daß es ſich zugleich weſentlich verändert. Der Dichter ſpricht durch
Perſonen, in die er ſich verwandelt und die er gegenwärtig vor uns auftreten
läßt, ſein Inneres aus: dieß iſt lyriſch. Der Perſonen ſind mehrere, ſie ver-
harren nicht auf einem Puncte ihres inneren Lebens, ſondern bewegen ſich in
der Folge der Zeit, wirken nach außen und bringen durch Wirkung und Ge-
genwirkung eine Handlung hervor, in welcher ſich mit ihrem Complex von
äußern Bedingungen ein breiteres Weltbild, ſichtbar für die innere Vorſtellung
entfaltet: dieß iſt epiſch. Allein an die Stelle der lyriſchen Gemüths-Erregung
und der epiſchen Zuſtändlichkeit muß in dieſer Verbindung als Inhalt der freie
Geiſt treten, der mit hellem Bewußtſein ſeinen Willen zur That beſtimmt; die
lyriſche Gegenwart ſpannt ſich energiſch nach der Zukunft, die Form iſt aus-
ſchließlich dialogiſch und das Weltbild als ein ſichtbares erzeugt ſich ohne
ausdrückliche Schilderung aus dem Bilde des innern Lebens der Charaktere.
Das Innere des Dichters muß im Subjectiven objectiv, zur Welt und Menſch-
heit erweitert ſein. Er iſt in ſeinem Werk ebenſo ganz gegenwärtig, als ganz
abweſend; dieſes beſteht daher ganz ſelbſtändig, losgelöst vom Dichter, denn er
iſt ganz darin aufgegangen: die vollkommenſte Erfüllung des Begriffes der Kunſt
(§. 489 und 524), die reifſte und daher ſpäteſte Frucht ihres Wachsthums.
Das directe Ausſprechen des Innern iſt das Lyriſche im Drama.
Der Dichter ſpricht zwar nicht in eigener Perſon, ſondern aus dem Munde
Anderer, in deren Zuſtände er ſich verſetzt hat, allein dieß hebt zunächſt den
lyriſchen Charakter nicht auf, denn wir haben auch dieſe Umwandlung als
eine Form des Lyriſchen kennen gelernt, die noch ganz in den Grenzen
dieſes Zweiges bleibt, wiewohl ſie allerdings zugleich den Fortgang zum
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |