Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.Welche Stände am meisten im Liede vertreten sein werden, ergibt sich aus §. 892. 1. Es folgt aus der Stellung des Liedes in der reinen Mitte des Lyrischen, 1. Es ist schon im vorh. §. gesagt, daß die Grundmerkmale des Lyri- Welche Stände am meiſten im Liede vertreten ſein werden, ergibt ſich aus §. 892. 1. Es folgt aus der Stellung des Liedes in der reinen Mitte des Lyriſchen, 1. Es iſt ſchon im vorh. §. geſagt, daß die Grundmerkmale des Lyri- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p> <pb facs="#f0218" n="1354"/> <hi rendition="#et">Welche Stände am meiſten im Liede vertreten ſein werden, ergibt ſich aus<lb/> §. 327, <hi rendition="#sub">3.</hi> und §. 330. Das Lied gewinnt durch dieſe anſchmiegende,<lb/> umfaſſende, vorzüglich ſympathetiſche Natur unabſehliche Bedeutung für das<lb/> Leben, ſchließlich für die Geſchichte einer Nation; es ſpricht Grundgefühle<lb/> aus, die in jeder Bruſt leben, verſtärkt ſie rückwirkend, führt in Schlachten,<lb/> tröſtet in Niederlagen, weckt vom politiſchen Schlummer auf, knüpft ſich an<lb/> Alles, begleitet jede Thätigkeit, jeden Genuß.</hi> </p> </div><lb/> <div n="5"> <head>§. 892.</head><lb/> <note place="left"> <hi rendition="#fr">1.</hi> </note> <p> <hi rendition="#fr">Es folgt aus der Stellung des Liedes in der reinen Mitte des Lyriſchen,<lb/> daß ſein Styl vorzugsweiſe der in §. 887 angegebene iſt. Doch kehrt innerhalb<lb/> dieſes Charakters der Unterſchied eines verhältnißmäßig mehr objectiven dar-<lb/> ſtellenden, offenen und hellen und eines mehr innerlichen, abgebrochenen, dunkeln<lb/> und verſchleierten Styls zurück. Jener gehört der claſſiſchen, beziehungsweiſe<lb/><note place="left">2.</note>der romaniſchen, dieſer der germaniſchen Poeſie an. Derſelbe Styl-Unterſchied<lb/> macht ſich aber noch in anderer, bleibender Weiſe geltend, nämlich in dem<lb/> Verhältniſſe zwiſchen der <hi rendition="#g">Volkspoeſie</hi>, deren eigentliche Lebensform das<lb/> Lied iſt, und der <hi rendition="#g">Kunſtpoeſie</hi>.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">1. Es iſt ſchon im vorh. §. geſagt, daß die Grundmerkmale des Lyri-<lb/> ſchen keiner andern Form in ſo vollem Sinn eignen können, als dem Liede;<lb/> die Anwendung dieſes Satzes auf den Styl wurde ihrer Wichtigkeit wegen<lb/> hieher verſchoben. Es iſt aber der Lieder-Styl eben als ächt lyriſcher mit<lb/> dieſem ſchon geſchildert und ſetzt ſich jetzt nur dadurch näher in’s Licht, daß<lb/> die Unterſchiede beleuchtet werden, die innerhalb dieſes Charakters wieder<lb/> eintreten. Dem Liederartigen entſpricht bei den Griechen das, was im<lb/> engeren Sinne Melos hieß: d. h. der Form nach, was, in gleichen kurzen<lb/> Verszeilen oder leichteren, kürzeren Strophen gedichtet, von einem Einzelnen<lb/> mit der Begleitung der Lyra vorgetragen wurde, dem Inhalte nach, was<lb/> wohl auch politiſch, kriegeriſch und überhaupt ernſt ſein konnte, vorzüglich<lb/> aber der individuellen Erregung durch Wein, Liebe oder irgend einer andern<lb/> Leidenſchaft galt, und dem Tone nach, was ganz und weſentlich Stimmung<lb/> war. Dieſe Form iſt von der Aeoliſchen Lyrik ausgebildet; zu Alcäus und<lb/> Sappho iſt, obwohl Jonier, Anakreon zu ſtellen. Die Innigkeit, die den<lb/> Styl des Liedes bedingt, kann bei den Griechen freilich nicht in jene Tiefe<lb/> gehen, wie bei den neueren Völkern, denen die innere Unendlichkeit ſich<lb/> erſchloſſen hat; das Innerlichſte erſcheint wie eine nach innen geworfene<lb/> Sinnlichkeit, das Seelenvollſte glüht und wallt in einem heißen Elemente<lb/> der Leidenſchaftlichkeit, die ſich ganz und unreflectirt in den Moment verſenkt.<lb/> Bei Anakreon allerdings wird die tiefe Bebung der Leidenſchaft zum leich-<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1354/0218]
Welche Stände am meiſten im Liede vertreten ſein werden, ergibt ſich aus
§. 327, 3. und §. 330. Das Lied gewinnt durch dieſe anſchmiegende,
umfaſſende, vorzüglich ſympathetiſche Natur unabſehliche Bedeutung für das
Leben, ſchließlich für die Geſchichte einer Nation; es ſpricht Grundgefühle
aus, die in jeder Bruſt leben, verſtärkt ſie rückwirkend, führt in Schlachten,
tröſtet in Niederlagen, weckt vom politiſchen Schlummer auf, knüpft ſich an
Alles, begleitet jede Thätigkeit, jeden Genuß.
§. 892.
Es folgt aus der Stellung des Liedes in der reinen Mitte des Lyriſchen,
daß ſein Styl vorzugsweiſe der in §. 887 angegebene iſt. Doch kehrt innerhalb
dieſes Charakters der Unterſchied eines verhältnißmäßig mehr objectiven dar-
ſtellenden, offenen und hellen und eines mehr innerlichen, abgebrochenen, dunkeln
und verſchleierten Styls zurück. Jener gehört der claſſiſchen, beziehungsweiſe
der romaniſchen, dieſer der germaniſchen Poeſie an. Derſelbe Styl-Unterſchied
macht ſich aber noch in anderer, bleibender Weiſe geltend, nämlich in dem
Verhältniſſe zwiſchen der Volkspoeſie, deren eigentliche Lebensform das
Lied iſt, und der Kunſtpoeſie.
1. Es iſt ſchon im vorh. §. geſagt, daß die Grundmerkmale des Lyri-
ſchen keiner andern Form in ſo vollem Sinn eignen können, als dem Liede;
die Anwendung dieſes Satzes auf den Styl wurde ihrer Wichtigkeit wegen
hieher verſchoben. Es iſt aber der Lieder-Styl eben als ächt lyriſcher mit
dieſem ſchon geſchildert und ſetzt ſich jetzt nur dadurch näher in’s Licht, daß
die Unterſchiede beleuchtet werden, die innerhalb dieſes Charakters wieder
eintreten. Dem Liederartigen entſpricht bei den Griechen das, was im
engeren Sinne Melos hieß: d. h. der Form nach, was, in gleichen kurzen
Verszeilen oder leichteren, kürzeren Strophen gedichtet, von einem Einzelnen
mit der Begleitung der Lyra vorgetragen wurde, dem Inhalte nach, was
wohl auch politiſch, kriegeriſch und überhaupt ernſt ſein konnte, vorzüglich
aber der individuellen Erregung durch Wein, Liebe oder irgend einer andern
Leidenſchaft galt, und dem Tone nach, was ganz und weſentlich Stimmung
war. Dieſe Form iſt von der Aeoliſchen Lyrik ausgebildet; zu Alcäus und
Sappho iſt, obwohl Jonier, Anakreon zu ſtellen. Die Innigkeit, die den
Styl des Liedes bedingt, kann bei den Griechen freilich nicht in jene Tiefe
gehen, wie bei den neueren Völkern, denen die innere Unendlichkeit ſich
erſchloſſen hat; das Innerlichſte erſcheint wie eine nach innen geworfene
Sinnlichkeit, das Seelenvollſte glüht und wallt in einem heißen Elemente
der Leidenſchaftlichkeit, die ſich ganz und unreflectirt in den Moment verſenkt.
Bei Anakreon allerdings wird die tiefe Bebung der Leidenſchaft zum leich-
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