Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.
stimmung ist, zeigt die neuere Poesie in "Wanderers Sturmlied" und "Harz- §. 891. Die wahre lyrische Mitte, worin der Inhalt rein im Subject aufgeht, so Hier namentlich ist die Schwierigkeit fühlbar, daß es keine bestimmten Vischer's Aesthetik. 4. Band. 87
ſtimmung iſt, zeigt die neuere Poeſie in „Wanderers Sturmlied“ und „Harz- §. 891. Die wahre lyriſche Mitte, worin der Inhalt rein im Subject aufgeht, ſo Hier namentlich iſt die Schwierigkeit fühlbar, daß es keine beſtimmten Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 87
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0215" n="1351"/> ſtimmung iſt, zeigt die neuere Poeſie in „Wanderers Sturmlied“ und „Harz-<lb/> reiſe im Winter“ von Göthe. Hier ſieht man die Sprünge des Dithyramben,<lb/> wie ſie die Ode künſtlich methodiſirt hat, in wahrhafter Trunkenheit der<lb/> Stimmung. Der moderne Dichter wird hier in der rhythmiſchen Form ſich<lb/> feſſelloſer bewegen, als der antike, der im wilden Wechſel doch die einzelne<lb/> rhythmiſche Gruppe ſtrenger maß. Die Ode nun iſt vielfach und ſchön<lb/> von den Deutſchen nachgebildet, freilich mehr ſo, daß in der Form die<lb/> kürzern alcäiſchen und ſapphiſchen Maaße gebraucht ſind, die wir nur der<lb/> Ode im ungenauen Sinne des Worts zuerkennen, während dagegen der<lb/> Inhalt meiſt hoch geht, wie es die Ode im engeren Sinne will. Klopſtock,<lb/> Hölderlin, Platen haben hierin das Schönſte geleiſtet. Wir haben ſolche<lb/> Erzeugniſſe zu beurtheilen wie moderne Sculpturwerke, welche im claſſiſchen<lb/> Idealſtyle Götter nachbilden, oder richtiger, wie moderne Gemälde, die den<lb/> claſſiſchen Mythus mit ſeinen reinen Formen, aber einem Anhauch moderner<lb/> Seele behandeln: ſie werden den feiner Gebildeten und ihrem Klanggefühle<lb/> immer eine Quelle reinen Genuſſes ſein, aber niemals ſich wahrhaft ein-<lb/> bürgern, niemals der Nation geläufig werden.</hi> </p> </div><lb/> <div n="5"> <head>§. 891.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Die wahre lyriſche Mitte, worin der Inhalt rein im Subject aufgeht, ſo<lb/> daß dieſes ihn ausſpricht, indem es frei und einfach ſich und ſeinen augenblick-<lb/> lichen Stimmungszuſtand ausſpricht, begreift die große Maſſe des <hi rendition="#g">Liederar-<lb/> ligen</hi>. Alle Grundzüge des Lyriſchen (§. 884—886) gelten vorzüglich von<lb/> dieſer Form. Unmittelbarkeit, Schlichtheit, Leichtigkeit, Sangbarkeit iſt ſeine<lb/> Natur. Demnach ſagt ihm menſchlich vertrauter, anmuthender Inhalt zu, doch<lb/> keineswegs iſt es darauf beſchränkt, es kann die höchſten Gegenſtände behandeln,<lb/> die tiefſten Kämpfe des Herzens, die tragiſchen Leiden des Einzelnen und des<lb/> Geſammtlebens ſo gut, als jede Freude und inniges Naturgefühl, wenn ſie<lb/> nur ganz in ſubjective Empfindung eingegangen ſind. Aber auch das Ko-<lb/> miſche gehört in vollerer Ausdehnung nur dieſem lyriſchen Gebiete. Vom<lb/> Individuellen neigt das Lied nothwendig zum Geſelligen.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">Hier namentlich iſt die Schwierigkeit fühlbar, daß es keine beſtimmten<lb/> Formen gibt, von denen man ſagen kann: dieß ſind Lieder. Es iſt der<lb/> Ton, aus dem die Gattung erkannt werden muß, und hiezu gibt den<lb/> nächſten und einfachſten Anhalt die Vergleichung mit dem Hymniſchen.<lb/> Will man den Unterſchied von dieſem recht deutlich wahrnehmen, ſo halte man<lb/> Schiller’s Hymne an die Freude und Göthe’s Tiſchlied: „Mich ergreift, ich<lb/> weiß nicht wie“ zuſammen: jener ſingt die Freude an, bewegt ſich um ſie<lb/> und zählt ihre Wirkungen auf (ob gut oder nicht gut, geht uns hier nicht</hi><lb/> <fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Viſcher’s</hi> Aeſthetik. 4. Band. 87</fw><lb/> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1351/0215]
ſtimmung iſt, zeigt die neuere Poeſie in „Wanderers Sturmlied“ und „Harz-
reiſe im Winter“ von Göthe. Hier ſieht man die Sprünge des Dithyramben,
wie ſie die Ode künſtlich methodiſirt hat, in wahrhafter Trunkenheit der
Stimmung. Der moderne Dichter wird hier in der rhythmiſchen Form ſich
feſſelloſer bewegen, als der antike, der im wilden Wechſel doch die einzelne
rhythmiſche Gruppe ſtrenger maß. Die Ode nun iſt vielfach und ſchön
von den Deutſchen nachgebildet, freilich mehr ſo, daß in der Form die
kürzern alcäiſchen und ſapphiſchen Maaße gebraucht ſind, die wir nur der
Ode im ungenauen Sinne des Worts zuerkennen, während dagegen der
Inhalt meiſt hoch geht, wie es die Ode im engeren Sinne will. Klopſtock,
Hölderlin, Platen haben hierin das Schönſte geleiſtet. Wir haben ſolche
Erzeugniſſe zu beurtheilen wie moderne Sculpturwerke, welche im claſſiſchen
Idealſtyle Götter nachbilden, oder richtiger, wie moderne Gemälde, die den
claſſiſchen Mythus mit ſeinen reinen Formen, aber einem Anhauch moderner
Seele behandeln: ſie werden den feiner Gebildeten und ihrem Klanggefühle
immer eine Quelle reinen Genuſſes ſein, aber niemals ſich wahrhaft ein-
bürgern, niemals der Nation geläufig werden.
§. 891.
Die wahre lyriſche Mitte, worin der Inhalt rein im Subject aufgeht, ſo
daß dieſes ihn ausſpricht, indem es frei und einfach ſich und ſeinen augenblick-
lichen Stimmungszuſtand ausſpricht, begreift die große Maſſe des Liederar-
ligen. Alle Grundzüge des Lyriſchen (§. 884—886) gelten vorzüglich von
dieſer Form. Unmittelbarkeit, Schlichtheit, Leichtigkeit, Sangbarkeit iſt ſeine
Natur. Demnach ſagt ihm menſchlich vertrauter, anmuthender Inhalt zu, doch
keineswegs iſt es darauf beſchränkt, es kann die höchſten Gegenſtände behandeln,
die tiefſten Kämpfe des Herzens, die tragiſchen Leiden des Einzelnen und des
Geſammtlebens ſo gut, als jede Freude und inniges Naturgefühl, wenn ſie
nur ganz in ſubjective Empfindung eingegangen ſind. Aber auch das Ko-
miſche gehört in vollerer Ausdehnung nur dieſem lyriſchen Gebiete. Vom
Individuellen neigt das Lied nothwendig zum Geſelligen.
Hier namentlich iſt die Schwierigkeit fühlbar, daß es keine beſtimmten
Formen gibt, von denen man ſagen kann: dieß ſind Lieder. Es iſt der
Ton, aus dem die Gattung erkannt werden muß, und hiezu gibt den
nächſten und einfachſten Anhalt die Vergleichung mit dem Hymniſchen.
Will man den Unterſchied von dieſem recht deutlich wahrnehmen, ſo halte man
Schiller’s Hymne an die Freude und Göthe’s Tiſchlied: „Mich ergreift, ich
weiß nicht wie“ zuſammen: jener ſingt die Freude an, bewegt ſich um ſie
und zählt ihre Wirkungen auf (ob gut oder nicht gut, geht uns hier nicht
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 87
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