und dieser Prozeß muß auf dem Durchgangspuncte, der sich als lyrische Poesie darstellt, nothwendig mit Verlust an jener Art von Klarheit und Freiheit verbunden sein; die neue, höhere, zu welcher er führt, liegt noch unentwickelt und dunkel in ihm. Aber die Naivetät dieses Dunkels ist den- noch weit über die Naivetät des Epos hinaus: sie ist das Unbewußte des tiefen Verarbeitens, nicht mehr das Unbewußte des Anstaunens. Sie setzt daher auch geschichtlich eine größere Reife voraus. Der Schluß des §. faßt nur in einen Satz zusammen, was zur Rechtfertigung der allgemeinen Ein- theilung schon in §. 863, Anm. 1. ausgeführt ist. Wir haben dort auch auf W. Wackernagel's psychologische und historische Begründung verwiesen und fügen zur letzteren Seite nur noch eine allgemeine Bemerkung hinzu. In Griechenland giengen schwere Erschütterungen voraus, Ringen der Parteien, des Adels und Volks, beider mit Alleinherrschern, ehe der Einzelne sich zu der Concentration und Vielseitigkeit der inneren Erregung zusammenfaßte, woraus die lyrische Poesie sich entwickelte; im Mittel- alter mußte erst durch lange und wilde Kämpfe das Prinzip der christlichen Religion mit dem Bruchstücke heidnischer Objectivität, das den Charakter dieser Weltperiode wesentlich mitbestimmt, zusammengegohren, deutsche, roma- nische und orientalische Elemente mußten in den Kreuzzügen durcheinander- gerüttelt sein, ehe die Knospe sich erschloß und die erfüllte Innerlichkeit ihren Duft im Liede verbreitete. Doch hat erst die moderne Poesie eine wahre und volle Lyrik schaffen können, denn es ist nur der gebildete Geist, der die reichen Negationen durchlaufen und überwunden hat, welche Alles hervor- locken, was im Grunde eines Menschenherzens schlummert. Aber selbst ein sichtbares Aufblühen der Volkspoesie setzt eine Periode voraus, wo das Volk einer früheren Bindung und Dunkelheit der Zustände sich entwachsen fühlt, wie im sechszehnten Jahrhundert. -- Anders verhält es sich mit dem ein- zelnen Dichter: die Muse, welche ganz ein Kind der Stimmung ist, wird der Jugend mehr, als dem reiferen Mannesalter hold sein; wenige Lyriker haben lange fortgesungen, und auch diese mit den Jahren etweder seltener, oder, wenn reichlich, doch weniger rein poetisch, sondern contemplativ, didaktisch.
§. 885.
1.
Da es aber die dichtende Phantasie ist, welche sich auf den Standpunct der empfindenden stellt, so liegt darin zugleich der Unterschied von der Musik: das Gefühl kann in der Dichtkunst nur durch Anknüpfung an das Bewußtsein als Organ und Inhalt einer Kunstform auftreten; das Subject spricht zwar nur sich, seine Stimmung aus, vermag dieß aber blos dadurch, daß es theils Elemente der epischen Anschauung, directe und indirecte Bilder, theils eigentliche Gedanken (gnomische Elemente) und Willensbewegungen in die Stimmungs-
und dieſer Prozeß muß auf dem Durchgangspuncte, der ſich als lyriſche Poeſie darſtellt, nothwendig mit Verluſt an jener Art von Klarheit und Freiheit verbunden ſein; die neue, höhere, zu welcher er führt, liegt noch unentwickelt und dunkel in ihm. Aber die Naivetät dieſes Dunkels iſt den- noch weit über die Naivetät des Epos hinaus: ſie iſt das Unbewußte des tiefen Verarbeitens, nicht mehr das Unbewußte des Anſtaunens. Sie ſetzt daher auch geſchichtlich eine größere Reife voraus. Der Schluß des §. faßt nur in einen Satz zuſammen, was zur Rechtfertigung der allgemeinen Ein- theilung ſchon in §. 863, Anm. 1. ausgeführt iſt. Wir haben dort auch auf W. Wackernagel’s pſychologiſche und hiſtoriſche Begründung verwieſen und fügen zur letzteren Seite nur noch eine allgemeine Bemerkung hinzu. In Griechenland giengen ſchwere Erſchütterungen voraus, Ringen der Parteien, des Adels und Volks, beider mit Alleinherrſchern, ehe der Einzelne ſich zu der Concentration und Vielſeitigkeit der inneren Erregung zuſammenfaßte, woraus die lyriſche Poeſie ſich entwickelte; im Mittel- alter mußte erſt durch lange und wilde Kämpfe das Prinzip der chriſtlichen Religion mit dem Bruchſtücke heidniſcher Objectivität, das den Charakter dieſer Weltperiode weſentlich mitbeſtimmt, zuſammengegohren, deutſche, roma- niſche und orientaliſche Elemente mußten in den Kreuzzügen durcheinander- gerüttelt ſein, ehe die Knoſpe ſich erſchloß und die erfüllte Innerlichkeit ihren Duft im Liede verbreitete. Doch hat erſt die moderne Poeſie eine wahre und volle Lyrik ſchaffen können, denn es iſt nur der gebildete Geiſt, der die reichen Negationen durchlaufen und überwunden hat, welche Alles hervor- locken, was im Grunde eines Menſchenherzens ſchlummert. Aber ſelbſt ein ſichtbares Aufblühen der Volkspoeſie ſetzt eine Periode voraus, wo das Volk einer früheren Bindung und Dunkelheit der Zuſtände ſich entwachſen fühlt, wie im ſechszehnten Jahrhundert. — Anders verhält es ſich mit dem ein- zelnen Dichter: die Muſe, welche ganz ein Kind der Stimmung iſt, wird der Jugend mehr, als dem reiferen Mannesalter hold ſein; wenige Lyriker haben lange fortgeſungen, und auch dieſe mit den Jahren etweder ſeltener, oder, wenn reichlich, doch weniger rein poetiſch, ſondern contemplativ, didaktiſch.
§. 885.
1.
Da es aber die dichtende Phantaſie iſt, welche ſich auf den Standpunct der empfindenden ſtellt, ſo liegt darin zugleich der Unterſchied von der Muſik: das Gefühl kann in der Dichtkunſt nur durch Anknüpfung an das Bewußtſein als Organ und Inhalt einer Kunſtform auftreten; das Subject ſpricht zwar nur ſich, ſeine Stimmung aus, vermag dieß aber blos dadurch, daß es theils Elemente der epiſchen Anſchauung, directe und indirecte Bilder, theils eigentliche Gedanken (gnomiſche Elemente) und Willensbewegungen in die Stimmungs-
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und dieſer Prozeß muß auf dem Durchgangspuncte, der ſich als lyriſche
Poeſie darſtellt, nothwendig mit Verluſt an jener Art von Klarheit und
Freiheit verbunden ſein; die neue, höhere, zu welcher er führt, liegt noch
unentwickelt und dunkel in ihm. Aber die Naivetät dieſes Dunkels iſt den-
noch weit über die Naivetät des Epos hinaus: ſie iſt das Unbewußte des
tiefen Verarbeitens, nicht mehr das Unbewußte des Anſtaunens. Sie ſetzt
daher auch geſchichtlich eine größere Reife voraus. Der Schluß des §. faßt
nur in einen Satz zuſammen, was zur Rechtfertigung der allgemeinen Ein-
theilung ſchon in §. 863, Anm. 1. ausgeführt iſt. Wir haben dort auch
auf W. Wackernagel’s pſychologiſche und hiſtoriſche Begründung verwieſen
und fügen zur letzteren Seite nur noch eine allgemeine Bemerkung hinzu.
In Griechenland giengen ſchwere Erſchütterungen voraus, Ringen der
Parteien, des Adels und Volks, beider mit Alleinherrſchern, ehe der
Einzelne ſich zu der Concentration und Vielſeitigkeit der inneren Erregung
zuſammenfaßte, woraus die lyriſche Poeſie ſich entwickelte; im Mittel-
alter mußte erſt durch lange und wilde Kämpfe das Prinzip der chriſtlichen
Religion mit dem Bruchſtücke heidniſcher Objectivität, das den Charakter
dieſer Weltperiode weſentlich mitbeſtimmt, zuſammengegohren, deutſche, roma-
niſche und orientaliſche Elemente mußten in den Kreuzzügen durcheinander-
gerüttelt ſein, ehe die Knoſpe ſich erſchloß und die erfüllte Innerlichkeit ihren
Duft im Liede verbreitete. Doch hat erſt die moderne Poeſie eine wahre
und volle Lyrik ſchaffen können, denn es iſt nur der gebildete Geiſt, der die
reichen Negationen durchlaufen und überwunden hat, welche Alles hervor-
locken, was im Grunde eines Menſchenherzens ſchlummert. Aber ſelbſt ein
ſichtbares Aufblühen der Volkspoeſie ſetzt eine Periode voraus, wo das Volk
einer früheren Bindung und Dunkelheit der Zuſtände ſich entwachſen fühlt,
wie im ſechszehnten Jahrhundert. — Anders verhält es ſich mit dem ein-
zelnen Dichter: die Muſe, welche ganz ein Kind der Stimmung iſt, wird
der Jugend mehr, als dem reiferen Mannesalter hold ſein; wenige Lyriker
haben lange fortgeſungen, und auch dieſe mit den Jahren etweder ſeltener,
oder, wenn reichlich, doch weniger rein poetiſch, ſondern contemplativ,
didaktiſch.
§. 885.
Da es aber die dichtende Phantaſie iſt, welche ſich auf den Standpunct
der empfindenden ſtellt, ſo liegt darin zugleich der Unterſchied von der Muſik:
das Gefühl kann in der Dichtkunſt nur durch Anknüpfung an das Bewußtſein
als Organ und Inhalt einer Kunſtform auftreten; das Subject ſpricht zwar
nur ſich, ſeine Stimmung aus, vermag dieß aber blos dadurch, daß es theils
Elemente der epiſchen Anſchauung, directe und indirecte Bilder, theils eigentliche
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1324. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/188>, abgerufen am 21.11.2024.
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