der moralischen, socialen, politischen, religiösen Theorieen und Ideen unter dem unruhigen Standpuncte des Sollens auf und vergißt nun abermals, daß das wahrhaft Schöne zwecklos ist. Die Literatur hat Romane erlebt, deren Zweck war, vor der Onanie zu warnen. Das Interesse am Indi- viduum und seinen Schicksalen, namentlich in der Liebe, bringt ferner eine zu stoffartige Spannung der Neugierde mit sich, wie wir dieß schon früher berührt haben. -- Die innern Mängel kommen aber vorzüglich am Schlusse zum Vorschein, denn dieser ist unvermeidlich hinkend. Die Frage ist nämlich einfach: was soll der Held am Ende werden? Zum politischen Heroen erzieht ihn der Roman nicht, unsere Aemter sind eine zu prosaische Form, um das Schiff, das unterwegs mit so vielen Bildungsschätzen ausgestattet worden ist, in diesem Hafen landen zu lassen. Es bleiben Thätigkeiten ohne bestimmte Form übrig, die aber sämmtlich etwas Precäres haben. Wilh. Meister wird Landwirth und ist dabei zugleich als wirkend in mancherlei Formen des Humanen und Schönen vorzustellen, allein der Dichter setzt doch einen gar zu fühlbaren Rest, wenn er, nachdem so viele Anstalten gehäuft waren, einen Menschen zu erziehen, uns ein so unbestimmtes Bild der Thätigkeit des reifen Mannes auf der untergeordneten, wenn auch ehrenwerthen Grundlage der bloßen Nützlichkeit gibt. Künstlerleben ist zu ideal, die Kunst thut nicht gut, die Kunst zum Objecte zu nehmen; geschieht es aber doch, so erscheint das Continuirliche einer bestimmten Thätigkeit, deren ideale Innenseite das Dichterwort doch nicht schildern kann, eben auch prosaisch. Dem Romane fehlt der Schluß durch die That, ebendaher hat er keinen rechten Schluß. Er hat die Stetigkeit des Prosaischen vorneherein anerkannt, muß wieder in sie münden und verläuft sich daher ohne festen Endpunct. Ein Hauptmoment des Roman-Schlusses ist die Beruhigung der Liebe in der Ehe. Hier verhält es sich nicht anders. Die Ehe ist eigentlich mehr, als die Liebe, aber in ihrer Stetigkeit nicht darzustellen, in ihrer Erscheinung prosaisch und so läuft auch diese Seite der gewonnenen Idea- lität in zugestandene Prosa aus. Diesen Charakter, die Prosa nicht gründlich brechen zu können, gesteht nun der Roman auch dadurch zu, daß er in gebundener Sprache ganz undenkbar ist und mit bloßem entferntem Anklang des Rhythmischen sich begnügen muß. Allein die Sprachform wird auch zum rückwirkenden Motive, dießmal im schädlichen Sinne, und steigert die Versuchung, die an sich schon in der Dicht-Art liegt, stoffartige Massen von Historischem, Gelehrtem aller Art, unverarbeiteter Weisheit, Tendenziösem, Erbaulichem u. s. w. in das geduldige Gefäß zu schütten.
§. 881.
1.
Nach Stoffgebieten eingetheilt nimmt der Roman vorherrschend das Privatleben zu seinem Schauplatz und sucht hier das Poetische entweder in
der moraliſchen, ſocialen, politiſchen, religiöſen Theorieen und Ideen unter dem unruhigen Standpuncte des Sollens auf und vergißt nun abermals, daß das wahrhaft Schöne zwecklos iſt. Die Literatur hat Romane erlebt, deren Zweck war, vor der Onanie zu warnen. Das Intereſſe am Indi- viduum und ſeinen Schickſalen, namentlich in der Liebe, bringt ferner eine zu ſtoffartige Spannung der Neugierde mit ſich, wie wir dieß ſchon früher berührt haben. — Die innern Mängel kommen aber vorzüglich am Schluſſe zum Vorſchein, denn dieſer iſt unvermeidlich hinkend. Die Frage iſt nämlich einfach: was ſoll der Held am Ende werden? Zum politiſchen Heroen erzieht ihn der Roman nicht, unſere Aemter ſind eine zu proſaiſche Form, um das Schiff, das unterwegs mit ſo vielen Bildungsſchätzen ausgeſtattet worden iſt, in dieſem Hafen landen zu laſſen. Es bleiben Thätigkeiten ohne beſtimmte Form übrig, die aber ſämmtlich etwas Precäres haben. Wilh. Meiſter wird Landwirth und iſt dabei zugleich als wirkend in mancherlei Formen des Humanen und Schönen vorzuſtellen, allein der Dichter ſetzt doch einen gar zu fühlbaren Reſt, wenn er, nachdem ſo viele Anſtalten gehäuft waren, einen Menſchen zu erziehen, uns ein ſo unbeſtimmtes Bild der Thätigkeit des reifen Mannes auf der untergeordneten, wenn auch ehrenwerthen Grundlage der bloßen Nützlichkeit gibt. Künſtlerleben iſt zu ideal, die Kunſt thut nicht gut, die Kunſt zum Objecte zu nehmen; geſchieht es aber doch, ſo erſcheint das Continuirliche einer beſtimmten Thätigkeit, deren ideale Innenſeite das Dichterwort doch nicht ſchildern kann, eben auch proſaiſch. Dem Romane fehlt der Schluß durch die That, ebendaher hat er keinen rechten Schluß. Er hat die Stetigkeit des Proſaiſchen vorneherein anerkannt, muß wieder in ſie münden und verläuft ſich daher ohne feſten Endpunct. Ein Hauptmoment des Roman-Schluſſes iſt die Beruhigung der Liebe in der Ehe. Hier verhält es ſich nicht anders. Die Ehe iſt eigentlich mehr, als die Liebe, aber in ihrer Stetigkeit nicht darzuſtellen, in ihrer Erſcheinung proſaiſch und ſo läuft auch dieſe Seite der gewonnenen Idea- lität in zugeſtandene Proſa aus. Dieſen Charakter, die Proſa nicht gründlich brechen zu können, geſteht nun der Roman auch dadurch zu, daß er in gebundener Sprache ganz undenkbar iſt und mit bloßem entferntem Anklang des Rhythmiſchen ſich begnügen muß. Allein die Sprachform wird auch zum rückwirkenden Motive, dießmal im ſchädlichen Sinne, und ſteigert die Verſuchung, die an ſich ſchon in der Dicht-Art liegt, ſtoffartige Maſſen von Hiſtoriſchem, Gelehrtem aller Art, unverarbeiteter Weisheit, Tendenziöſem, Erbaulichem u. ſ. w. in das geduldige Gefäß zu ſchütten.
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1.
Nach Stoffgebieten eingetheilt nimmt der Roman vorherrſchend das Privatleben zu ſeinem Schauplatz und ſucht hier das Poetiſche entweder in
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dem unruhigen Standpuncte des Sollens auf und vergißt nun abermals,
daß das wahrhaft Schöne zwecklos iſt. Die Literatur hat Romane erlebt,
deren Zweck war, vor der Onanie zu warnen. Das Intereſſe am Indi-
viduum und ſeinen Schickſalen, namentlich in der Liebe, bringt ferner eine
zu ſtoffartige Spannung der Neugierde mit ſich, wie wir dieß ſchon früher
berührt haben. — Die innern Mängel kommen aber vorzüglich am Schluſſe
zum Vorſchein, denn dieſer iſt unvermeidlich hinkend. Die Frage iſt nämlich
einfach: was ſoll der Held am Ende werden? Zum politiſchen Heroen erzieht
ihn der Roman nicht, unſere Aemter ſind eine zu proſaiſche Form, um das
Schiff, das unterwegs mit ſo vielen Bildungsſchätzen ausgeſtattet worden
iſt, in dieſem Hafen landen zu laſſen. Es bleiben Thätigkeiten ohne
beſtimmte Form übrig, die aber ſämmtlich etwas Precäres haben. Wilh.
Meiſter wird Landwirth und iſt dabei zugleich als wirkend in mancherlei
Formen des Humanen und Schönen vorzuſtellen, allein der Dichter ſetzt
doch einen gar zu fühlbaren Reſt, wenn er, nachdem ſo viele Anſtalten
gehäuft waren, einen Menſchen zu erziehen, uns ein ſo unbeſtimmtes Bild
der Thätigkeit des reifen Mannes auf der untergeordneten, wenn auch
ehrenwerthen Grundlage der bloßen Nützlichkeit gibt. Künſtlerleben iſt zu
ideal, die Kunſt thut nicht gut, die Kunſt zum Objecte zu nehmen; geſchieht
es aber doch, ſo erſcheint das Continuirliche einer beſtimmten Thätigkeit,
deren ideale Innenſeite das Dichterwort doch nicht ſchildern kann, eben auch
proſaiſch. Dem Romane fehlt der Schluß durch die That, ebendaher hat
er keinen rechten Schluß. Er hat die Stetigkeit des Proſaiſchen vorneherein
anerkannt, muß wieder in ſie münden und verläuft ſich daher ohne feſten
Endpunct. Ein Hauptmoment des Roman-Schluſſes iſt die Beruhigung der
Liebe in der Ehe. Hier verhält es ſich nicht anders. Die Ehe iſt eigentlich
mehr, als die Liebe, aber in ihrer Stetigkeit nicht darzuſtellen, in ihrer
Erſcheinung proſaiſch und ſo läuft auch dieſe Seite der gewonnenen Idea-
lität in zugeſtandene Proſa aus. Dieſen Charakter, die Proſa nicht gründlich
brechen zu können, geſteht nun der Roman auch dadurch zu, daß er in
gebundener Sprache ganz undenkbar iſt und mit bloßem entferntem Anklang
des Rhythmiſchen ſich begnügen muß. Allein die Sprachform wird auch
zum rückwirkenden Motive, dießmal im ſchädlichen Sinne, und ſteigert die
Verſuchung, die an ſich ſchon in der Dicht-Art liegt, ſtoffartige Maſſen
von Hiſtoriſchem, Gelehrtem aller Art, unverarbeiteter Weisheit, Tendenziöſem,
Erbaulichem u. ſ. w. in das geduldige Gefäß zu ſchütten.
§. 881.
Nach Stoffgebieten eingetheilt nimmt der Roman vorherrſchend das
Privatleben zu ſeinem Schauplatz und ſucht hier das Poetiſche entweder in
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1310. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/174>, abgerufen am 23.11.2024.
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