Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.§. 877. 1. Dem ritterlich-höfischen Epos der ausgebildeten Romantik fehlen 1. Wir dürfen über den Inhalt der ritterlich höfischen Epopöe auf die §. 877. 1. Dem ritterlich-höfiſchen Epos der ausgebildeten Romantik fehlen 1. Wir dürfen über den Inhalt der ritterlich höfiſchen Epopöe auf die <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0160" n="1296"/> <div n="5"> <head>§. 877.</head><lb/> <note place="left"> <hi rendition="#fr">1.</hi> </note> <p> <hi rendition="#fr">Dem <hi rendition="#g">ritterlich-höfiſchen Epos</hi> der ausgebildeten <hi rendition="#g">Romantik</hi> fehlen<lb/> im Inhalt weſentliche Züge, die das Geſetz der Dicht-Art fordert, wogegen<lb/> andere eintreten, die ein Vorwalten des Subjectiven, Lyriſchen offenbaren, na-<lb/> mentlich im Pathos der Liebe, deſſen Einführung als Hauptmotiv in ein<lb/> epiſches Ganzes auf den Roman hinzeigt; die Form iſt nicht mehr naiv im<lb/><note place="left">2.</note>hohen Sinne des Worts und doch nicht wahrhaft kunſtmäßig. Neben dem<lb/> größern Epos, worin der weltliche und religiöſe Sagenkreis vereinigt iſt, tritt<lb/> die geſonderte Behandlung des religiöſen als biographiſcher Mythus, als myſti-<lb/><note place="left">3.</note>ſche Erzählung in der <hi rendition="#g">Legende</hi> auf. Dem Mittelalter vorzüglich eignet das<lb/> phantaſtiſche Spiel des <hi rendition="#g">Mährchens</hi>, das in der Weiſe der traumhaften Ein-<lb/> bildungskraft dichtend dem Menſchen das Gefühl der Löſung ſeiner Natur-<lb/> ſchranken bereitet.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">1. Wir dürfen über den Inhalt der ritterlich höfiſchen Epopöe auf die<lb/> umfaſſende Darſtellung der wirklichen (§. 355 ff.) und der idealen Welt<lb/> des Mittelalters (§. 447 ff.) verweiſen. Es ſind im letzteren Abſchnitt<lb/> auch bereits die Sagenkreiſe unterſchieden und es iſt ausgeſprochen, daß<lb/> dieſe bunt gebrochene Welt unendlich abliegt von der Gediegenheit der ob-<lb/> jectiven Lebensform, welche der Geiſt des wahren Epos erfordert (§. 462<lb/> Anm.). Gewiſſe Züge des Epiſchen ſind allerdings erhalten: der Weltzu-<lb/> ſtand iſt noch nicht proſaiſch geordnet, der Ritter, wohl zu unterſcheiden<lb/> vom Helden oder Recken, hat doch den letzteren noch nicht ganz abgelegt,<lb/> die Sitte iſt in allem Glanze, ſelbſt in der Manirirtheit der Ausländerei,<lb/> noch naiv, die Culturformen ergiebig, reich und gediegen genug für das<lb/> Bedürfniß epiſcher Entfaltung. Der Charakter des national Geſchloſſenen<lb/> dagegen, der ein Grundmerkmal des ächt Epiſchen bildet, iſt nach zwei<lb/> Extremen auseinandergegangen: das höchſte Ziel iſt, obwohl in myſtiſcher<lb/> Faſſung, ein univerſelles, weltbürgerliches, die Idee der chriſtlichen Religion,<lb/> das nähere Intereſſe aber iſt individuell, es gilt der Perſon des Ritters in<lb/> ſeinen Abentheuern, ſeinen Kämpfen mit wirklichen und imaginativen Feinden.<lb/> Tritt nun ſo der Einzelne, Iſolirte in den Vordergrund, ſo iſt es zugleich<lb/> der Innerliche mit ſeinem ſubjectiven Leben, dem ſich das Intereſſe zuwendet.<lb/> Eine unendliche, myſtiſche Gefühlswelt ſchließt ſich auf, ihr Mittelpunct<lb/> iſt, unbeſchadet des myſtiſchen Zieles, die Liebe. Dieß iſt nun offenbar<lb/> ein Eintritt <hi rendition="#g">lyriſcher</hi> Motive in das Epos; damit iſt nicht (vergl. §. 874<lb/> Anm. <hi rendition="#sub">1.</hi>) geſagt, daß ſolcher Inhalt dem Epiſchen überhaupt widerſpreche,<lb/> wohl aber, daß er bei ſpezifiſcher Ausbildung auflöſend und zerſprengend<lb/> wirke in derjenigen Form, die nach der andern Seite in ihren Grund-<lb/> lagen, in der Naivetät der dargeſtellten Culturformen ſich noch unter den<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [1296/0160]
§. 877.
Dem ritterlich-höfiſchen Epos der ausgebildeten Romantik fehlen
im Inhalt weſentliche Züge, die das Geſetz der Dicht-Art fordert, wogegen
andere eintreten, die ein Vorwalten des Subjectiven, Lyriſchen offenbaren, na-
mentlich im Pathos der Liebe, deſſen Einführung als Hauptmotiv in ein
epiſches Ganzes auf den Roman hinzeigt; die Form iſt nicht mehr naiv im
hohen Sinne des Worts und doch nicht wahrhaft kunſtmäßig. Neben dem
größern Epos, worin der weltliche und religiöſe Sagenkreis vereinigt iſt, tritt
die geſonderte Behandlung des religiöſen als biographiſcher Mythus, als myſti-
ſche Erzählung in der Legende auf. Dem Mittelalter vorzüglich eignet das
phantaſtiſche Spiel des Mährchens, das in der Weiſe der traumhaften Ein-
bildungskraft dichtend dem Menſchen das Gefühl der Löſung ſeiner Natur-
ſchranken bereitet.
1. Wir dürfen über den Inhalt der ritterlich höfiſchen Epopöe auf die
umfaſſende Darſtellung der wirklichen (§. 355 ff.) und der idealen Welt
des Mittelalters (§. 447 ff.) verweiſen. Es ſind im letzteren Abſchnitt
auch bereits die Sagenkreiſe unterſchieden und es iſt ausgeſprochen, daß
dieſe bunt gebrochene Welt unendlich abliegt von der Gediegenheit der ob-
jectiven Lebensform, welche der Geiſt des wahren Epos erfordert (§. 462
Anm.). Gewiſſe Züge des Epiſchen ſind allerdings erhalten: der Weltzu-
ſtand iſt noch nicht proſaiſch geordnet, der Ritter, wohl zu unterſcheiden
vom Helden oder Recken, hat doch den letzteren noch nicht ganz abgelegt,
die Sitte iſt in allem Glanze, ſelbſt in der Manirirtheit der Ausländerei,
noch naiv, die Culturformen ergiebig, reich und gediegen genug für das
Bedürfniß epiſcher Entfaltung. Der Charakter des national Geſchloſſenen
dagegen, der ein Grundmerkmal des ächt Epiſchen bildet, iſt nach zwei
Extremen auseinandergegangen: das höchſte Ziel iſt, obwohl in myſtiſcher
Faſſung, ein univerſelles, weltbürgerliches, die Idee der chriſtlichen Religion,
das nähere Intereſſe aber iſt individuell, es gilt der Perſon des Ritters in
ſeinen Abentheuern, ſeinen Kämpfen mit wirklichen und imaginativen Feinden.
Tritt nun ſo der Einzelne, Iſolirte in den Vordergrund, ſo iſt es zugleich
der Innerliche mit ſeinem ſubjectiven Leben, dem ſich das Intereſſe zuwendet.
Eine unendliche, myſtiſche Gefühlswelt ſchließt ſich auf, ihr Mittelpunct
iſt, unbeſchadet des myſtiſchen Zieles, die Liebe. Dieß iſt nun offenbar
ein Eintritt lyriſcher Motive in das Epos; damit iſt nicht (vergl. §. 874
Anm. 1.) geſagt, daß ſolcher Inhalt dem Epiſchen überhaupt widerſpreche,
wohl aber, daß er bei ſpezifiſcher Ausbildung auflöſend und zerſprengend
wirke in derjenigen Form, die nach der andern Seite in ihren Grund-
lagen, in der Naivetät der dargeſtellten Culturformen ſich noch unter den
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |