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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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Hauptzug der herrlichen umgebenden Natur; die Nation besitzt in diesem
Gesammtbilde, dieser "Bibel des Volks" (Hegel Aesth. Th. 3, S. 332),
einen Schatz, der für alle Seiten des Lebens den unerschöpflichen Grund-
text enthält. Dieß Alles ist nun durch reine Künstlerhand sonnenhell be-
leuchtet, steht aufgeschlagen in unendlicher Klarheit vor uns, ist durchaus
rein geschaut. Die Weihe der Idealität gewinnt aber der große Stoff
schließlich dadurch, daß sich Alles an die Götter knüpft, daß Heldensage
und Mythus überall ineinandergehen. Die lenkenden Mächte des Lebens,
Natur-Ursachen, Gesetze heiliger Sitte, Forderungen des Vaterlandes,
innere Motive des Besinnens und Wollens sind als Götter neben die
Menschen gesetzt und handeln mit ihnen durcheinander auf Einem Boden.
Diese poetische Tautologie ist das unendliche Erhöhungsmittel für die Grund-
empfindung, in diesem Lichte wird Alles absolut und es verhält sich auch
hier wie in der Sculptur, welche wesentlich eine Götterbildende Kunst ist.
Es ist natürlich nicht blos Poesie, sondern wesentlich Glauben; eine nicht
geglaubte Welt transcendenter Wesen kann nur in seltenen, einzelnen Mo-
menten durch besondere Kraft der Zurückversetzung der Phantasie belebt
werden. Aber das schlicht Geglaubte ist zur reinsten Gestalt der Schönheit
erhoben und auch hier Alles hell, sonnenklar, während die indischen Götter
im Nebel des wirren Gestaltenwechsels taumeln.

Es sind nun unserer allgemeinen Bestimmung des Wesens der epischen
Poesie mehrere neue Momente zugewachsen, die nur vom ursprünglichen
Epos, dem volksthümlichen, doch dem plastischen Idealstyle angehörigen
Heldengedichte gelten: Entstehung aus naiver Poesie der Form nach, natio-
naler Krieg, weltgeschichtliche Collision, Verbindung der Heldensage und
des Göttermythus dem Inhalte nach. Ob und wieweit alle diese spezielleren
Bedingungen als Maaßstab gelten, nach welchem zunächst die Erscheinungen
zu beurtheilen sind, die bei allem Unterschiede doch mit dem homerischen
Epos sich unter das Prinzip des idealen Styles stellen, dieß muß sich nun
zeigen; doch ist vorher eine wichtige Unterscheidung innerhalb dieses Styls
aufzustellen. -- Was die Form im engsten Sinne des Wortes, das Me-
trum, betrifft, so müssen andere Zeiten deren andere finden können, aber
daß der Hexameter durch seine Beweglichkeit in der Haltung, seine Freiheit
und sein Spiel in der Majestät als heroisches Maaß nicht übertroffen
werden kann, durften wir schon bei der allgemeinen Charakteristik der epischen
Poesie aussprechen (§. 869, Anm. 2.).

§. 874.

Wie jedoch alles geschichtliche Leben der Kunst darauf beruht, daß die1.
Styl-Gegensätze ineinander übertreten, so stellt sich auch im classischen Idealstyle

83*

Hauptzug der herrlichen umgebenden Natur; die Nation beſitzt in dieſem
Geſammtbilde, dieſer „Bibel des Volks“ (Hegel Aeſth. Th. 3, S. 332),
einen Schatz, der für alle Seiten des Lebens den unerſchöpflichen Grund-
text enthält. Dieß Alles iſt nun durch reine Künſtlerhand ſonnenhell be-
leuchtet, ſteht aufgeſchlagen in unendlicher Klarheit vor uns, iſt durchaus
rein geſchaut. Die Weihe der Idealität gewinnt aber der große Stoff
ſchließlich dadurch, daß ſich Alles an die Götter knüpft, daß Heldenſage
und Mythus überall ineinandergehen. Die lenkenden Mächte des Lebens,
Natur-Urſachen, Geſetze heiliger Sitte, Forderungen des Vaterlandes,
innere Motive des Beſinnens und Wollens ſind als Götter neben die
Menſchen geſetzt und handeln mit ihnen durcheinander auf Einem Boden.
Dieſe poetiſche Tautologie iſt das unendliche Erhöhungsmittel für die Grund-
empfindung, in dieſem Lichte wird Alles abſolut und es verhält ſich auch
hier wie in der Sculptur, welche weſentlich eine Götterbildende Kunſt iſt.
Es iſt natürlich nicht blos Poeſie, ſondern weſentlich Glauben; eine nicht
geglaubte Welt tranſcendenter Weſen kann nur in ſeltenen, einzelnen Mo-
menten durch beſondere Kraft der Zurückverſetzung der Phantaſie belebt
werden. Aber das ſchlicht Geglaubte iſt zur reinſten Geſtalt der Schönheit
erhoben und auch hier Alles hell, ſonnenklar, während die indiſchen Götter
im Nebel des wirren Geſtaltenwechſels taumeln.

Es ſind nun unſerer allgemeinen Beſtimmung des Weſens der epiſchen
Poeſie mehrere neue Momente zugewachſen, die nur vom urſprünglichen
Epos, dem volksthümlichen, doch dem plaſtiſchen Idealſtyle angehörigen
Heldengedichte gelten: Entſtehung aus naiver Poeſie der Form nach, natio-
naler Krieg, weltgeſchichtliche Colliſion, Verbindung der Heldenſage und
des Göttermythus dem Inhalte nach. Ob und wieweit alle dieſe ſpezielleren
Bedingungen als Maaßſtab gelten, nach welchem zunächſt die Erſcheinungen
zu beurtheilen ſind, die bei allem Unterſchiede doch mit dem homeriſchen
Epos ſich unter das Prinzip des idealen Styles ſtellen, dieß muß ſich nun
zeigen; doch iſt vorher eine wichtige Unterſcheidung innerhalb dieſes Styls
aufzuſtellen. — Was die Form im engſten Sinne des Wortes, das Me-
trum, betrifft, ſo müſſen andere Zeiten deren andere finden können, aber
daß der Hexameter durch ſeine Beweglichkeit in der Haltung, ſeine Freiheit
und ſein Spiel in der Majeſtät als heroiſches Maaß nicht übertroffen
werden kann, durften wir ſchon bei der allgemeinen Charakteriſtik der epiſchen
Poeſie ausſprechen (§. 869, Anm. 2.).

§. 874.

Wie jedoch alles geſchichtliche Leben der Kunſt darauf beruht, daß die1.
Styl-Gegenſätze ineinander übertreten, ſo ſtellt ſich auch im claſſiſchen Idealſtyle

83*
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[1289/0153] Hauptzug der herrlichen umgebenden Natur; die Nation beſitzt in dieſem Geſammtbilde, dieſer „Bibel des Volks“ (Hegel Aeſth. Th. 3, S. 332), einen Schatz, der für alle Seiten des Lebens den unerſchöpflichen Grund- text enthält. Dieß Alles iſt nun durch reine Künſtlerhand ſonnenhell be- leuchtet, ſteht aufgeſchlagen in unendlicher Klarheit vor uns, iſt durchaus rein geſchaut. Die Weihe der Idealität gewinnt aber der große Stoff ſchließlich dadurch, daß ſich Alles an die Götter knüpft, daß Heldenſage und Mythus überall ineinandergehen. Die lenkenden Mächte des Lebens, Natur-Urſachen, Geſetze heiliger Sitte, Forderungen des Vaterlandes, innere Motive des Beſinnens und Wollens ſind als Götter neben die Menſchen geſetzt und handeln mit ihnen durcheinander auf Einem Boden. Dieſe poetiſche Tautologie iſt das unendliche Erhöhungsmittel für die Grund- empfindung, in dieſem Lichte wird Alles abſolut und es verhält ſich auch hier wie in der Sculptur, welche weſentlich eine Götterbildende Kunſt iſt. Es iſt natürlich nicht blos Poeſie, ſondern weſentlich Glauben; eine nicht geglaubte Welt tranſcendenter Weſen kann nur in ſeltenen, einzelnen Mo- menten durch beſondere Kraft der Zurückverſetzung der Phantaſie belebt werden. Aber das ſchlicht Geglaubte iſt zur reinſten Geſtalt der Schönheit erhoben und auch hier Alles hell, ſonnenklar, während die indiſchen Götter im Nebel des wirren Geſtaltenwechſels taumeln. Es ſind nun unſerer allgemeinen Beſtimmung des Weſens der epiſchen Poeſie mehrere neue Momente zugewachſen, die nur vom urſprünglichen Epos, dem volksthümlichen, doch dem plaſtiſchen Idealſtyle angehörigen Heldengedichte gelten: Entſtehung aus naiver Poeſie der Form nach, natio- naler Krieg, weltgeſchichtliche Colliſion, Verbindung der Heldenſage und des Göttermythus dem Inhalte nach. Ob und wieweit alle dieſe ſpezielleren Bedingungen als Maaßſtab gelten, nach welchem zunächſt die Erſcheinungen zu beurtheilen ſind, die bei allem Unterſchiede doch mit dem homeriſchen Epos ſich unter das Prinzip des idealen Styles ſtellen, dieß muß ſich nun zeigen; doch iſt vorher eine wichtige Unterſcheidung innerhalb dieſes Styls aufzuſtellen. — Was die Form im engſten Sinne des Wortes, das Me- trum, betrifft, ſo müſſen andere Zeiten deren andere finden können, aber daß der Hexameter durch ſeine Beweglichkeit in der Haltung, ſeine Freiheit und ſein Spiel in der Majeſtät als heroiſches Maaß nicht übertroffen werden kann, durften wir ſchon bei der allgemeinen Charakteriſtik der epiſchen Poeſie ausſprechen (§. 869, Anm. 2.). §. 874. Wie jedoch alles geſchichtliche Leben der Kunſt darauf beruht, daß die Styl-Gegenſätze ineinander übertreten, ſo ſtellt ſich auch im claſſiſchen Idealſtyle 83*

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1289. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/153>, abgerufen am 21.11.2024.