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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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2. In §. 540 ist "Moment und Grad des Umfangs" als weiterer
Theilungsgrund für die Zweige der Künste aufgeführt. Der "Moment"
fällt in der Poesie weg, da sie überhaupt in der Zeitform sich bewegt, daher
immer eine Reihe von Momenten vorüberführt und also kein Unterschied
entstehen kann, der darauf begründet wäre, daß der Gegenstand in einem
so oder anders beschaffenen Moment aufgefaßt würde; der Unterschied im
Grade des Umfangs aber macht sich nachdrücklich geltend: Epos und Drama
geben ein Weltbild, jenes extensiver, dieses intensiver, das lyrische Gedicht
dagegen ist ein kleines Ganzes, das wohl auch die Welt unter einer
bestimmten Beleuchtung im Gemüthe spiegelt, welches ja an sich ein Mikro-
mus ist, allein die Kleinheit des Umfangs ist nicht gleichgültig, im einzelnen
Reflexe ist nur sehr mittelbar das Ganze der Welt und des Gemüths der
Persönlichkeit enthalten. -- Mit der Auffassung wird auch die Technik eine
andere. Unter dieser verstehen wir jetzt die äußere Form, die Rhythmik;
denn nicht wird, wie im Fortgang vom einen Gebiete der bildenden Kunst
zum andern, oder, was dem Verhältniß eigentlich entspricht, wie im Ueber-
gange von dieser zur Musik und von der Musik zur Poesie das ganze
Material gewechselt, da ja alles eigentliche Material abgeworfen ist und
mit einem geistigen Medium in Geist gearbeitet wird. Dieß muß aus-
drücklich noch gesagt werden, um daran die Wiederaufnahme des Satzes in
§. 538 zu knüpfen, der nunmehr seine völlige Begründung gefunden hat:
die Hauptformen der Poesie sind als die Wiederholung der großen Kunst-
gebiete und der Haupttheile des Systems so bedeutend, daß sie eigentlich
nicht dem entsprechen, was wir in den andern Künsten Zweige nennen,
aber die Geistigkeit des Elements läßt nicht die Isolirung und Verselbstän-
digung dieser Formen zu, welche in den andern Gebieten Künste begründet,
und so erscheinen dieselben dennoch als Zweige einer Kunst.

§. 864.

In der weiteren Eintheilung der Zweige tritt theils der Unterschied der
Style, und zwar in tiefem Zusammenhang mit dem des Mythischen und nicht
Mythischen, als entscheidendes Moment auf, theils macht sich ein Unterschied
des Objectiven und Subjectiven in neuer, eigenthümlicher Bedeutung
geltend, theils greift mit einer Bestimmtheit wie in keinem andern Gebiete der Un-
terschied der Grundgegensätze des Schönen (§. 402) durch. Daneben machen
sich in verschiedenen Verhältnissen die andern Eintheilungsgründe (§. 540) geltend.

Der §. deutet an, welche Momente der Reihe nach innerhalb der Zweige
der Poesie als Eintheilungsgründe für ihre einzelnen Formen an die Spitze
treten. Wir belassen es zunächst bei dieser Andeutung und bemerken nur
über das an zweiter Stelle genannte Moment so viel im Voraus: es

2. In §. 540 iſt „Moment und Grad des Umfangs“ als weiterer
Theilungsgrund für die Zweige der Künſte aufgeführt. Der „Moment“
fällt in der Poeſie weg, da ſie überhaupt in der Zeitform ſich bewegt, daher
immer eine Reihe von Momenten vorüberführt und alſo kein Unterſchied
entſtehen kann, der darauf begründet wäre, daß der Gegenſtand in einem
ſo oder anders beſchaffenen Moment aufgefaßt würde; der Unterſchied im
Grade des Umfangs aber macht ſich nachdrücklich geltend: Epos und Drama
geben ein Weltbild, jenes extenſiver, dieſes intenſiver, das lyriſche Gedicht
dagegen iſt ein kleines Ganzes, das wohl auch die Welt unter einer
beſtimmten Beleuchtung im Gemüthe ſpiegelt, welches ja an ſich ein Mikro-
mus iſt, allein die Kleinheit des Umfangs iſt nicht gleichgültig, im einzelnen
Reflexe iſt nur ſehr mittelbar das Ganze der Welt und des Gemüths der
Perſönlichkeit enthalten. — Mit der Auffaſſung wird auch die Technik eine
andere. Unter dieſer verſtehen wir jetzt die äußere Form, die Rhythmik;
denn nicht wird, wie im Fortgang vom einen Gebiete der bildenden Kunſt
zum andern, oder, was dem Verhältniß eigentlich entſpricht, wie im Ueber-
gange von dieſer zur Muſik und von der Muſik zur Poeſie das ganze
Material gewechſelt, da ja alles eigentliche Material abgeworfen iſt und
mit einem geiſtigen Medium in Geiſt gearbeitet wird. Dieß muß aus-
drücklich noch geſagt werden, um daran die Wiederaufnahme des Satzes in
§. 538 zu knüpfen, der nunmehr ſeine völlige Begründung gefunden hat:
die Hauptformen der Poeſie ſind als die Wiederholung der großen Kunſt-
gebiete und der Haupttheile des Syſtems ſo bedeutend, daß ſie eigentlich
nicht dem entſprechen, was wir in den andern Künſten Zweige nennen,
aber die Geiſtigkeit des Elements läßt nicht die Iſolirung und Verſelbſtän-
digung dieſer Formen zu, welche in den andern Gebieten Künſte begründet,
und ſo erſcheinen dieſelben dennoch als Zweige einer Kunſt.

§. 864.

In der weiteren Eintheilung der Zweige tritt theils der Unterſchied der
Style, und zwar in tiefem Zuſammenhang mit dem des Mythiſchen und nicht
Mythiſchen, als entſcheidendes Moment auf, theils macht ſich ein Unterſchied
des Objectiven und Subjectiven in neuer, eigenthümlicher Bedeutung
geltend, theils greift mit einer Beſtimmtheit wie in keinem andern Gebiete der Un-
terſchied der Grundgegenſätze des Schönen (§. 402) durch. Daneben machen
ſich in verſchiedenen Verhältniſſen die andern Eintheilungsgründe (§. 540) geltend.

Der §. deutet an, welche Momente der Reihe nach innerhalb der Zweige
der Poeſie als Eintheilungsgründe für ihre einzelnen Formen an die Spitze
treten. Wir belaſſen es zunächſt bei dieſer Andeutung und bemerken nur
über das an zweiter Stelle genannte Moment ſo viel im Voraus: es

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[1263/0127] 2. In §. 540 iſt „Moment und Grad des Umfangs“ als weiterer Theilungsgrund für die Zweige der Künſte aufgeführt. Der „Moment“ fällt in der Poeſie weg, da ſie überhaupt in der Zeitform ſich bewegt, daher immer eine Reihe von Momenten vorüberführt und alſo kein Unterſchied entſtehen kann, der darauf begründet wäre, daß der Gegenſtand in einem ſo oder anders beſchaffenen Moment aufgefaßt würde; der Unterſchied im Grade des Umfangs aber macht ſich nachdrücklich geltend: Epos und Drama geben ein Weltbild, jenes extenſiver, dieſes intenſiver, das lyriſche Gedicht dagegen iſt ein kleines Ganzes, das wohl auch die Welt unter einer beſtimmten Beleuchtung im Gemüthe ſpiegelt, welches ja an ſich ein Mikro- mus iſt, allein die Kleinheit des Umfangs iſt nicht gleichgültig, im einzelnen Reflexe iſt nur ſehr mittelbar das Ganze der Welt und des Gemüths der Perſönlichkeit enthalten. — Mit der Auffaſſung wird auch die Technik eine andere. Unter dieſer verſtehen wir jetzt die äußere Form, die Rhythmik; denn nicht wird, wie im Fortgang vom einen Gebiete der bildenden Kunſt zum andern, oder, was dem Verhältniß eigentlich entſpricht, wie im Ueber- gange von dieſer zur Muſik und von der Muſik zur Poeſie das ganze Material gewechſelt, da ja alles eigentliche Material abgeworfen iſt und mit einem geiſtigen Medium in Geiſt gearbeitet wird. Dieß muß aus- drücklich noch geſagt werden, um daran die Wiederaufnahme des Satzes in §. 538 zu knüpfen, der nunmehr ſeine völlige Begründung gefunden hat: die Hauptformen der Poeſie ſind als die Wiederholung der großen Kunſt- gebiete und der Haupttheile des Syſtems ſo bedeutend, daß ſie eigentlich nicht dem entſprechen, was wir in den andern Künſten Zweige nennen, aber die Geiſtigkeit des Elements läßt nicht die Iſolirung und Verſelbſtän- digung dieſer Formen zu, welche in den andern Gebieten Künſte begründet, und ſo erſcheinen dieſelben dennoch als Zweige einer Kunſt. §. 864. In der weiteren Eintheilung der Zweige tritt theils der Unterſchied der Style, und zwar in tiefem Zuſammenhang mit dem des Mythiſchen und nicht Mythiſchen, als entſcheidendes Moment auf, theils macht ſich ein Unterſchied des Objectiven und Subjectiven in neuer, eigenthümlicher Bedeutung geltend, theils greift mit einer Beſtimmtheit wie in keinem andern Gebiete der Un- terſchied der Grundgegenſätze des Schönen (§. 402) durch. Daneben machen ſich in verſchiedenen Verhältniſſen die andern Eintheilungsgründe (§. 540) geltend. Der §. deutet an, welche Momente der Reihe nach innerhalb der Zweige der Poeſie als Eintheilungsgründe für ihre einzelnen Formen an die Spitze treten. Wir belaſſen es zunächſt bei dieſer Andeutung und bemerken nur über das an zweiter Stelle genannte Moment ſo viel im Voraus: es

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1263. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/127>, abgerufen am 03.12.2024.