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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857.

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b.
Die Zweige der Dichtkunst.
§. 862.

Als die geistigste unter den Künsten erweist sich die Poesie auch dadurch,
daß in ihr erst mit voller Bestimmtheit der Auffassungs-Unterschied der
Phantasie (§. 404), also das Verhältniß des Künstlers zum Gegenstande den
Eintheilungsgrund für die Hauptformen bildet. Hiedurch wird die Stoff-
Beziehung der Phantasie (§. 403) auf die Seite gedrängt, der Gegenstand ist
in jeder Hauptform die Welt und vor Allem der Mensch; der Dichter betrachtet
ihn nur jedesmal von einer andern Seite, wobei allerdings der Ausschnitt des
Stoffgebiets sich verändert, und in einer andern Beziehung der Zeit.

Auffassungs-Unterschiede nennen wir jene Arten der Phantasie, worauf
die Theilung der Kunst in die Künste beruht: die bildende, die
empfindende, die dichtende Phantasie. Die letzte wiederholt die
andern in sich: sie stellt sich auf den Boden der ersten und erzeugt so die
epische, auf den Boden der zweiten und erzeugt die lyrische, ganz und
voll auf den eigenen Boden und erzeugt die dramatische Form. Wir
haben dieß vermöge eines unvermeidlichen Vorgriffs schon öfters ausge-
sprochen, denn in den andern Künsten tauchen diese Unterschiede bereits auf,
aber noch ohne entschiedene Kraft. In der bildenden Kunst war, ihrem
körperlichen Charakter gemäß, immer noch die Stoffbeziehung bestimmend
für die Eintheilung, der Unterschied des Epischen, Lyrischen, Dramatischen
trat daneben zu Tage am fühlbarsten in der Malerei (vergl. §. 697. 698.
699. 700, 3. 702. 705, 2. 709, 1. 710. 711. 712), aber daß er sich auch
hier noch nicht entscheidend in den Vordergrund stellt, machte sich schon in
der Schwierigkeit der Bezeichnung bemerkbar: wir waren genöthigt, wenn
wir nicht jedesmal den beschwerlichen Ausdruck: Stellung der bildenden
Phantasie auf den Boden der empfindenden u. s. w. gebrauchen wollten, die
Benennungen aus der Poesie vorauszunehmen. In der Musik machte sich
dieses Unterscheidungsprinzip natürlich selbständiger, energischer geltend,
doch immer noch halbverhüllt; denn von wesentlichen Unterschieden der
Auffassung kann nur die Rede sein, wo das Subject einem Objecte klar
gegenübersteht; die Musik ist subjectiv, der Stoff nicht mehr entscheidend,
aber sie ist zu subjectiv, um nicht ebenfalls in dieser Beziehung von der
Poesie Licht zu erwarten. Nun aber steht klar vor uns, was sich bis dahin
nur undeutlich an die Oberfläche drängte: wir haben eine Eintheilung, wie

b.
Die Zweige der Dichtkunſt.
§. 862.

Als die geiſtigſte unter den Künſten erweist ſich die Poeſie auch dadurch,
daß in ihr erſt mit voller Beſtimmtheit der Auffaſſungs-Unterſchied der
Phantaſie (§. 404), alſo das Verhältniß des Künſtlers zum Gegenſtande den
Eintheilungsgrund für die Hauptformen bildet. Hiedurch wird die Stoff-
Beziehung der Phantaſie (§. 403) auf die Seite gedrängt, der Gegenſtand iſt
in jeder Hauptform die Welt und vor Allem der Menſch; der Dichter betrachtet
ihn nur jedesmal von einer andern Seite, wobei allerdings der Ausſchnitt des
Stoffgebiets ſich verändert, und in einer andern Beziehung der Zeit.

Auffaſſungs-Unterſchiede nennen wir jene Arten der Phantaſie, worauf
die Theilung der Kunſt in die Künſte beruht: die bildende, die
empfindende, die dichtende Phantaſie. Die letzte wiederholt die
andern in ſich: ſie ſtellt ſich auf den Boden der erſten und erzeugt ſo die
epiſche, auf den Boden der zweiten und erzeugt die lyriſche, ganz und
voll auf den eigenen Boden und erzeugt die dramatiſche Form. Wir
haben dieß vermöge eines unvermeidlichen Vorgriffs ſchon öfters ausge-
ſprochen, denn in den andern Künſten tauchen dieſe Unterſchiede bereits auf,
aber noch ohne entſchiedene Kraft. In der bildenden Kunſt war, ihrem
körperlichen Charakter gemäß, immer noch die Stoffbeziehung beſtimmend
für die Eintheilung, der Unterſchied des Epiſchen, Lyriſchen, Dramatiſchen
trat daneben zu Tage am fühlbarſten in der Malerei (vergl. §. 697. 698.
699. 700, 3. 702. 705, 2. 709, 1. 710. 711. 712), aber daß er ſich auch
hier noch nicht entſcheidend in den Vordergrund ſtellt, machte ſich ſchon in
der Schwierigkeit der Bezeichnung bemerkbar: wir waren genöthigt, wenn
wir nicht jedesmal den beſchwerlichen Ausdruck: Stellung der bildenden
Phantaſie auf den Boden der empfindenden u. ſ. w. gebrauchen wollten, die
Benennungen aus der Poeſie vorauszunehmen. In der Muſik machte ſich
dieſes Unterſcheidungsprinzip natürlich ſelbſtändiger, energiſcher geltend,
doch immer noch halbverhüllt; denn von weſentlichen Unterſchieden der
Auffaſſung kann nur die Rede ſein, wo das Subject einem Objecte klar
gegenüberſteht; die Muſik iſt ſubjectiv, der Stoff nicht mehr entſcheidend,
aber ſie iſt zu ſubjectiv, um nicht ebenfalls in dieſer Beziehung von der
Poeſie Licht zu erwarten. Nun aber ſteht klar vor uns, was ſich bis dahin
nur undeutlich an die Oberfläche drängte: wir haben eine Eintheilung, wie

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[1259/0123] b. Die Zweige der Dichtkunſt. §. 862. Als die geiſtigſte unter den Künſten erweist ſich die Poeſie auch dadurch, daß in ihr erſt mit voller Beſtimmtheit der Auffaſſungs-Unterſchied der Phantaſie (§. 404), alſo das Verhältniß des Künſtlers zum Gegenſtande den Eintheilungsgrund für die Hauptformen bildet. Hiedurch wird die Stoff- Beziehung der Phantaſie (§. 403) auf die Seite gedrängt, der Gegenſtand iſt in jeder Hauptform die Welt und vor Allem der Menſch; der Dichter betrachtet ihn nur jedesmal von einer andern Seite, wobei allerdings der Ausſchnitt des Stoffgebiets ſich verändert, und in einer andern Beziehung der Zeit. Auffaſſungs-Unterſchiede nennen wir jene Arten der Phantaſie, worauf die Theilung der Kunſt in die Künſte beruht: die bildende, die empfindende, die dichtende Phantaſie. Die letzte wiederholt die andern in ſich: ſie ſtellt ſich auf den Boden der erſten und erzeugt ſo die epiſche, auf den Boden der zweiten und erzeugt die lyriſche, ganz und voll auf den eigenen Boden und erzeugt die dramatiſche Form. Wir haben dieß vermöge eines unvermeidlichen Vorgriffs ſchon öfters ausge- ſprochen, denn in den andern Künſten tauchen dieſe Unterſchiede bereits auf, aber noch ohne entſchiedene Kraft. In der bildenden Kunſt war, ihrem körperlichen Charakter gemäß, immer noch die Stoffbeziehung beſtimmend für die Eintheilung, der Unterſchied des Epiſchen, Lyriſchen, Dramatiſchen trat daneben zu Tage am fühlbarſten in der Malerei (vergl. §. 697. 698. 699. 700, 3. 702. 705, 2. 709, 1. 710. 711. 712), aber daß er ſich auch hier noch nicht entſcheidend in den Vordergrund ſtellt, machte ſich ſchon in der Schwierigkeit der Bezeichnung bemerkbar: wir waren genöthigt, wenn wir nicht jedesmal den beſchwerlichen Ausdruck: Stellung der bildenden Phantaſie auf den Boden der empfindenden u. ſ. w. gebrauchen wollten, die Benennungen aus der Poeſie vorauszunehmen. In der Muſik machte ſich dieſes Unterſcheidungsprinzip natürlich ſelbſtändiger, energiſcher geltend, doch immer noch halbverhüllt; denn von weſentlichen Unterſchieden der Auffaſſung kann nur die Rede ſein, wo das Subject einem Objecte klar gegenüberſteht; die Muſik iſt ſubjectiv, der Stoff nicht mehr entſcheidend, aber ſie iſt zu ſubjectiv, um nicht ebenfalls in dieſer Beziehung von der Poeſie Licht zu erwarten. Nun aber ſteht klar vor uns, was ſich bis dahin nur undeutlich an die Oberfläche drängte: wir haben eine Eintheilung, wie

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,5. Stuttgart, 1857, S. 1259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030205_1857/123>, abgerufen am 21.12.2024.