Vermittlungen hinter sich hat; nur der Mensch, der viel erfahren, von einer mannigfaltigen, vielseitig getheilten Welt vielseitig erregt, durch tausend- fältigen Stoß auf das Object tiefer in sich gewiesen worden ist, faßt sich der Welt gegenüber in gedrängter Innigkeit als Subject zusammen und nimmt ebenso die Welt in sich herein, wird eine Welt. Die im engeren Sinne des Wortes einfachen Grund-Empfindungen des Menschen, dessen Bildung noch Naturbildung ist, enthalten wohl auch die Ahnung des Welt- ganzen, wie es in das Herz des Menschen eingegangen, aber unentwickelt, tief und frisch, aber beschränkt und arm. Selbst wo beziehungsweise ein großes Stück Geschichte und Erfahrung durchlaufen ist, wo die Musik längst eine Kunstübung hat, der tiefere Bruch aber, durch den der Geist sich in seine Subjectivität zurücknimmt, noch nicht erfolgt ist, wird diese Kunst in einem Zustande bleiben, der jenem der Malerei entspricht, wie in §. 716 geschildert ist: sie wird gewisse Momente, die spezifisch zu ihrem wahren Wesen gehören, nicht zur Ausbildung bringen. Daher ist die Musik zwar die früheste, ebenso sehr aber, und dieß vielmehr ist das Wahre, eine sehr späte, durchaus moderne Kunst.
b. Die einzelnen Momente.
§. 767.
1.
Die Betrachtung der einzelnen Momente des Wesens der Musik führt zunächst zur Erörterung des dieser Kunst eigenthümlichen, die musikalische Com- position bedingenden Materials. Von einem Material im gewöhnlichen Sinne des Worts, von äußern und in der Natur bereits daliegenden Stoffen und stofflichen Mitteln, wie die bildenden Künste sie haben, weiß die Musik nichts mehr, da in ihr die äußere Objectivirung der Gebilde der Phantasie mittelst technischer Verarbeitung gegebener Elemente der Körperwelt aufgehört 2.hat. Wie das Material, in welchem die Musik arbeitet, nur noch der innere ideale Raum der Phantasie des Zuhörers ist, der sie ihre Gebilde vorführt, so 3.ist auch das Material, mit welchem sie dieselben erschafft, nur noch das zwar der Materie entlockte und durch Qualität und Structur materieller Körper bedingte, aber für sich immaterielle und erst durch die eigene Thätigkeit des Menschen hervorgebrachte und künstlerisch gestaltete Element des Tons. Die bildenden Künste finden ihr Material vor; die Musik schafft es sich selbst, in- dem sowohl die Erzeugung der Töne, als ihre Ordnung und Verknüpfung, durch welche sie sich dazu eignen, ein brauchbares Material für die Composition abzugeben, das eigene Werk der musikalischen Phantasie ist.
Vermittlungen hinter ſich hat; nur der Menſch, der viel erfahren, von einer mannigfaltigen, vielſeitig getheilten Welt vielſeitig erregt, durch tauſend- fältigen Stoß auf das Object tiefer in ſich gewieſen worden iſt, faßt ſich der Welt gegenüber in gedrängter Innigkeit als Subject zuſammen und nimmt ebenſo die Welt in ſich herein, wird eine Welt. Die im engeren Sinne des Wortes einfachen Grund-Empfindungen des Menſchen, deſſen Bildung noch Naturbildung iſt, enthalten wohl auch die Ahnung des Welt- ganzen, wie es in das Herz des Menſchen eingegangen, aber unentwickelt, tief und friſch, aber beſchränkt und arm. Selbſt wo beziehungsweiſe ein großes Stück Geſchichte und Erfahrung durchlaufen iſt, wo die Muſik längſt eine Kunſtübung hat, der tiefere Bruch aber, durch den der Geiſt ſich in ſeine Subjectivität zurücknimmt, noch nicht erfolgt iſt, wird dieſe Kunſt in einem Zuſtande bleiben, der jenem der Malerei entſpricht, wie in §. 716 geſchildert iſt: ſie wird gewiſſe Momente, die ſpezifiſch zu ihrem wahren Weſen gehören, nicht zur Ausbildung bringen. Daher iſt die Muſik zwar die früheſte, ebenſo ſehr aber, und dieß vielmehr iſt das Wahre, eine ſehr ſpäte, durchaus moderne Kunſt.
β. Die einzelnen Momente.
§. 767.
1.
Die Betrachtung der einzelnen Momente des Weſens der Muſik führt zunächſt zur Erörterung des dieſer Kunſt eigenthümlichen, die muſikaliſche Com- poſition bedingenden Materials. Von einem Material im gewöhnlichen Sinne des Worts, von äußern und in der Natur bereits daliegenden Stoffen und ſtofflichen Mitteln, wie die bildenden Künſte ſie haben, weiß die Muſik nichts mehr, da in ihr die äußere Objectivirung der Gebilde der Phantaſie mittelſt techniſcher Verarbeitung gegebener Elemente der Körperwelt aufgehört 2.hat. Wie das Material, in welchem die Muſik arbeitet, nur noch der innere ideale Raum der Phantaſie des Zuhörers iſt, der ſie ihre Gebilde vorführt, ſo 3.iſt auch das Material, mit welchem ſie dieſelben erſchafft, nur noch das zwar der Materie entlockte und durch Qualität und Structur materieller Körper bedingte, aber für ſich immaterielle und erſt durch die eigene Thätigkeit des Menſchen hervorgebrachte und künſtleriſch geſtaltete Element des Tons. Die bildenden Künſte finden ihr Material vor; die Muſik ſchafft es ſich ſelbſt, in- dem ſowohl die Erzeugung der Töne, als ihre Ordnung und Verknüpfung, durch welche ſie ſich dazu eignen, ein brauchbares Material für die Compoſition abzugeben, das eigene Werk der muſikaliſchen Phantaſie iſt.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0078"n="840"/><hirendition="#et">Vermittlungen hinter ſich hat; nur der Menſch, der viel erfahren, von einer<lb/>
mannigfaltigen, vielſeitig getheilten Welt vielſeitig erregt, durch tauſend-<lb/>
fältigen Stoß auf das Object tiefer in ſich gewieſen worden iſt, faßt ſich<lb/>
der Welt gegenüber in gedrängter Innigkeit als Subject zuſammen und<lb/>
nimmt ebenſo die Welt in ſich herein, wird eine Welt. Die im engeren<lb/>
Sinne des Wortes einfachen Grund-Empfindungen des Menſchen, deſſen<lb/>
Bildung noch Naturbildung iſt, enthalten wohl auch die Ahnung des Welt-<lb/>
ganzen, wie es in das Herz des Menſchen eingegangen, aber unentwickelt,<lb/>
tief und friſch, aber beſchränkt und arm. Selbſt wo beziehungsweiſe ein<lb/>
großes Stück Geſchichte und Erfahrung durchlaufen iſt, wo die Muſik längſt<lb/>
eine Kunſtübung hat, der tiefere Bruch aber, durch den der Geiſt ſich in<lb/>ſeine Subjectivität zurücknimmt, noch nicht erfolgt iſt, wird dieſe Kunſt in<lb/>
einem Zuſtande bleiben, der jenem der Malerei entſpricht, wie in §. 716<lb/>
geſchildert iſt: ſie wird gewiſſe Momente, die ſpezifiſch zu ihrem wahren<lb/>
Weſen gehören, nicht zur Ausbildung bringen. Daher iſt die Muſik zwar<lb/>
die früheſte, ebenſo ſehr aber, und dieß vielmehr iſt das Wahre, eine ſehr<lb/>ſpäte, durchaus moderne Kunſt.</hi></p></div></div><lb/><divn="3"><head><hirendition="#i">β</hi>. Die einzelnen Momente.</head><lb/><divn="4"><head>§. 767.</head><lb/><noteplace="left"><hirendition="#fr">1.</hi></note><p><hirendition="#fr">Die Betrachtung der einzelnen Momente des Weſens der Muſik führt<lb/>
zunächſt zur Erörterung des dieſer Kunſt eigenthümlichen, die muſikaliſche Com-<lb/>
poſition bedingenden <hirendition="#g">Materials</hi>. Von einem Material im gewöhnlichen<lb/>
Sinne des Worts, von äußern und in der Natur bereits daliegenden Stoffen<lb/>
und ſtofflichen Mitteln, wie die bildenden Künſte ſie haben, weiß die Muſik<lb/>
nichts mehr, da in ihr die äußere Objectivirung der Gebilde der Phantaſie<lb/>
mittelſt techniſcher Verarbeitung gegebener Elemente der Körperwelt aufgehört<lb/><noteplace="left">2.</note>hat. Wie das Material, <hirendition="#g">in</hi> welchem die Muſik arbeitet, nur noch der innere<lb/>
ideale Raum der Phantaſie des Zuhörers iſt, der ſie ihre Gebilde vorführt, ſo<lb/><noteplace="left">3.</note>iſt auch das Material, <hirendition="#g">mit</hi> welchem ſie dieſelben erſchafft, nur noch das zwar<lb/>
der Materie entlockte und durch Qualität und Structur materieller Körper<lb/>
bedingte, aber für ſich immaterielle und erſt durch die eigene Thätigkeit des<lb/>
Menſchen hervorgebrachte und künſtleriſch geſtaltete Element des Tons. Die<lb/>
bildenden Künſte finden ihr Material vor; die Muſik ſchafft es ſich ſelbſt, in-<lb/>
dem ſowohl die Erzeugung der Töne, als ihre Ordnung und Verknüpfung,<lb/>
durch welche ſie ſich dazu eignen, ein brauchbares Material für die Compoſition<lb/>
abzugeben, das eigene Werk der muſikaliſchen Phantaſie iſt.</hi></p><lb/></div></div></div></div></body></text></TEI>
[840/0078]
Vermittlungen hinter ſich hat; nur der Menſch, der viel erfahren, von einer
mannigfaltigen, vielſeitig getheilten Welt vielſeitig erregt, durch tauſend-
fältigen Stoß auf das Object tiefer in ſich gewieſen worden iſt, faßt ſich
der Welt gegenüber in gedrängter Innigkeit als Subject zuſammen und
nimmt ebenſo die Welt in ſich herein, wird eine Welt. Die im engeren
Sinne des Wortes einfachen Grund-Empfindungen des Menſchen, deſſen
Bildung noch Naturbildung iſt, enthalten wohl auch die Ahnung des Welt-
ganzen, wie es in das Herz des Menſchen eingegangen, aber unentwickelt,
tief und friſch, aber beſchränkt und arm. Selbſt wo beziehungsweiſe ein
großes Stück Geſchichte und Erfahrung durchlaufen iſt, wo die Muſik längſt
eine Kunſtübung hat, der tiefere Bruch aber, durch den der Geiſt ſich in
ſeine Subjectivität zurücknimmt, noch nicht erfolgt iſt, wird dieſe Kunſt in
einem Zuſtande bleiben, der jenem der Malerei entſpricht, wie in §. 716
geſchildert iſt: ſie wird gewiſſe Momente, die ſpezifiſch zu ihrem wahren
Weſen gehören, nicht zur Ausbildung bringen. Daher iſt die Muſik zwar
die früheſte, ebenſo ſehr aber, und dieß vielmehr iſt das Wahre, eine ſehr
ſpäte, durchaus moderne Kunſt.
β. Die einzelnen Momente.
§. 767.
Die Betrachtung der einzelnen Momente des Weſens der Muſik führt
zunächſt zur Erörterung des dieſer Kunſt eigenthümlichen, die muſikaliſche Com-
poſition bedingenden Materials. Von einem Material im gewöhnlichen
Sinne des Worts, von äußern und in der Natur bereits daliegenden Stoffen
und ſtofflichen Mitteln, wie die bildenden Künſte ſie haben, weiß die Muſik
nichts mehr, da in ihr die äußere Objectivirung der Gebilde der Phantaſie
mittelſt techniſcher Verarbeitung gegebener Elemente der Körperwelt aufgehört
hat. Wie das Material, in welchem die Muſik arbeitet, nur noch der innere
ideale Raum der Phantaſie des Zuhörers iſt, der ſie ihre Gebilde vorführt, ſo
iſt auch das Material, mit welchem ſie dieſelben erſchafft, nur noch das zwar
der Materie entlockte und durch Qualität und Structur materieller Körper
bedingte, aber für ſich immaterielle und erſt durch die eigene Thätigkeit des
Menſchen hervorgebrachte und künſtleriſch geſtaltete Element des Tons. Die
bildenden Künſte finden ihr Material vor; die Muſik ſchafft es ſich ſelbſt, in-
dem ſowohl die Erzeugung der Töne, als ihre Ordnung und Verknüpfung,
durch welche ſie ſich dazu eignen, ein brauchbares Material für die Compoſition
abzugeben, das eigene Werk der muſikaliſchen Phantaſie iſt.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 840. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/78>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.