Diese Thätigkeit, wodurch die vernommene Lufterschütterung erst zum Ton im engeren Sinne des Wortes wird, ist eine rein verständige, mathe- matische. Sie ordnet auf Grundlage physikalischer Schwingungsgesetze ein Stufensystem der Töne an, worin Alles auf gezählten Messungen beruht. Auch diejenigen Unterschiede, die durch Tiefe und Höhe jene qualitative Grundform des Gefühls ausdrücken und das Hauptmittel für die Durchführung des Charakters einer Stimmung abgeben, erweisen sich als ursprünglich quantitativ und die innere Beziehung des Einklangs oder Mißklangs, in welche bestimmte Töne aus der Stufenreihe heraus zu einander treten, erklärt sich aus arithme- tischer Einfachheit oder Verwicklung. Das Ganze der musikalischen Ausdrucks- mittel besteht also wesentlich in lauter Verhältnissen.
Wir haben bisher in nothwendiger Vorausnahme und mit Vorbehalt der genaueren Unterscheidung das Ausdrucksmittel der Musik schlechthin Ton genannt, wiewohl in genauerer Beziehung nur der gemessene, in ein System eingeordnete Gehörs-Eindruck Ton so heißt. Es liegt hier eine Schwierig- keit des Ausdrucks; will man das Wort Ton durchaus auf diesen strengen künstlerischen Sinn einschränken, so schwankt man darüber, wie der Gehörs- Eindruck außerhalb des musikalischen Kunst-Systems allgemein bezeichnet werden soll. "Schall," wie Einige sagen, hat zu bestimmt die Neben- bedeutung des Starken, was in gewisser Ferne vernommen wird, Klang eines gewissen besonderen Charakters, des Weichen, Spröden u. s. w., was weiter- hin für die Musik Bedeutung gewinnt. Es wird daher wohl dabei bleiben müssen, daß man "Ton" im weiteren und engeren Sinne des Worts unter- scheidet. -- Wenn nun die völlige Ausbildung eines für jeden Gefühlsaus- druck gefügigen Tonsystems als ein rein verständiges, mathematisches Thun bestimmt wird, so versteht sich, daß hiemit nicht behauptet sein soll, daß die empfindende Phantasie nicht lange Zeit mit dem bloßen Instincte, natür- lichen Ohrenmaaß ausgereicht habe; so sind ja die Proportionen in der Bildnerkunst Objecte des Messens und doch hatten viele Menschenalter mit dem Augenmaaß ausgereicht, ehe die Wissenschaft die Regel festsetzte. Die Wissenschaft selbst, nachdem sie schon weit gelangt war, brauchte noch lange, bis sie von der Physik ihre schließliche Grundlegung durch die Wellenlehre erhielt und von ihr jene Schwingungsgesetze lernte, auf denen das ganze System der musikalischen Mittel beruht, und welche in der speziellen Er- örterung näher in's Auge zu fassen sind. Hier ist nur die arithmetische Natur des zu Grunde liegenden Physikalischen zu betonen: die Höhen- Unterschiede der zu systematischer Stufenreihe geordneten Töne sind in Ver- hältnissen der Schwingungsgeschwindigkeit begründet, die Verhältnißzahlen
§. 761.
Dieſe Thätigkeit, wodurch die vernommene Lufterſchütterung erſt zum Ton im engeren Sinne des Wortes wird, iſt eine rein verſtändige, mathe- matiſche. Sie ordnet auf Grundlage phyſikaliſcher Schwingungsgeſetze ein Stufenſyſtem der Töne an, worin Alles auf gezählten Meſſungen beruht. Auch diejenigen Unterſchiede, die durch Tiefe und Höhe jene qualitative Grundform des Gefühls ausdrücken und das Hauptmittel für die Durchführung des Charakters einer Stimmung abgeben, erweiſen ſich als urſprünglich quantitativ und die innere Beziehung des Einklangs oder Mißklangs, in welche beſtimmte Töne aus der Stufenreihe heraus zu einander treten, erklärt ſich aus arithme- tiſcher Einfachheit oder Verwicklung. Das Ganze der muſikaliſchen Ausdrucks- mittel beſteht alſo weſentlich in lauter Verhältniſſen.
Wir haben bisher in nothwendiger Vorausnahme und mit Vorbehalt der genaueren Unterſcheidung das Ausdrucksmittel der Muſik ſchlechthin Ton genannt, wiewohl in genauerer Beziehung nur der gemeſſene, in ein Syſtem eingeordnete Gehörs-Eindruck Ton ſo heißt. Es liegt hier eine Schwierig- keit des Ausdrucks; will man das Wort Ton durchaus auf dieſen ſtrengen künſtleriſchen Sinn einſchränken, ſo ſchwankt man darüber, wie der Gehörs- Eindruck außerhalb des muſikaliſchen Kunſt-Syſtems allgemein bezeichnet werden ſoll. „Schall,“ wie Einige ſagen, hat zu beſtimmt die Neben- bedeutung des Starken, was in gewiſſer Ferne vernommen wird, Klang eines gewiſſen beſonderen Charakters, des Weichen, Spröden u. ſ. w., was weiter- hin für die Muſik Bedeutung gewinnt. Es wird daher wohl dabei bleiben müſſen, daß man „Ton“ im weiteren und engeren Sinne des Worts unter- ſcheidet. — Wenn nun die völlige Ausbildung eines für jeden Gefühlsaus- druck gefügigen Tonſyſtems als ein rein verſtändiges, mathematiſches Thun beſtimmt wird, ſo verſteht ſich, daß hiemit nicht behauptet ſein ſoll, daß die empfindende Phantaſie nicht lange Zeit mit dem bloßen Inſtincte, natür- lichen Ohrenmaaß ausgereicht habe; ſo ſind ja die Proportionen in der Bildnerkunſt Objecte des Meſſens und doch hatten viele Menſchenalter mit dem Augenmaaß ausgereicht, ehe die Wiſſenſchaft die Regel feſtſetzte. Die Wiſſenſchaft ſelbſt, nachdem ſie ſchon weit gelangt war, brauchte noch lange, bis ſie von der Phyſik ihre ſchließliche Grundlegung durch die Wellenlehre erhielt und von ihr jene Schwingungsgeſetze lernte, auf denen das ganze Syſtem der muſikaliſchen Mittel beruht, und welche in der ſpeziellen Er- örterung näher in’s Auge zu faſſen ſind. Hier iſt nur die arithmetiſche Natur des zu Grunde liegenden Phyſikaliſchen zu betonen: die Höhen- Unterſchiede der zu ſyſtematiſcher Stufenreihe geordneten Töne ſind in Ver- hältniſſen der Schwingungsgeſchwindigkeit begründet, die Verhältnißzahlen
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§. 761.
Dieſe Thätigkeit, wodurch die vernommene Lufterſchütterung erſt zum Ton
im engeren Sinne des Wortes wird, iſt eine rein verſtändige, mathe-
matiſche. Sie ordnet auf Grundlage phyſikaliſcher Schwingungsgeſetze ein
Stufenſyſtem der Töne an, worin Alles auf gezählten Meſſungen beruht. Auch
diejenigen Unterſchiede, die durch Tiefe und Höhe jene qualitative Grundform
des Gefühls ausdrücken und das Hauptmittel für die Durchführung des
Charakters einer Stimmung abgeben, erweiſen ſich als urſprünglich quantitativ
und die innere Beziehung des Einklangs oder Mißklangs, in welche beſtimmte
Töne aus der Stufenreihe heraus zu einander treten, erklärt ſich aus arithme-
tiſcher Einfachheit oder Verwicklung. Das Ganze der muſikaliſchen Ausdrucks-
mittel beſteht alſo weſentlich in lauter Verhältniſſen.
Wir haben bisher in nothwendiger Vorausnahme und mit Vorbehalt
der genaueren Unterſcheidung das Ausdrucksmittel der Muſik ſchlechthin Ton
genannt, wiewohl in genauerer Beziehung nur der gemeſſene, in ein Syſtem
eingeordnete Gehörs-Eindruck Ton ſo heißt. Es liegt hier eine Schwierig-
keit des Ausdrucks; will man das Wort Ton durchaus auf dieſen ſtrengen
künſtleriſchen Sinn einſchränken, ſo ſchwankt man darüber, wie der Gehörs-
Eindruck außerhalb des muſikaliſchen Kunſt-Syſtems allgemein bezeichnet
werden ſoll. „Schall,“ wie Einige ſagen, hat zu beſtimmt die Neben-
bedeutung des Starken, was in gewiſſer Ferne vernommen wird, Klang eines
gewiſſen beſonderen Charakters, des Weichen, Spröden u. ſ. w., was weiter-
hin für die Muſik Bedeutung gewinnt. Es wird daher wohl dabei bleiben
müſſen, daß man „Ton“ im weiteren und engeren Sinne des Worts unter-
ſcheidet. — Wenn nun die völlige Ausbildung eines für jeden Gefühlsaus-
druck gefügigen Tonſyſtems als ein rein verſtändiges, mathematiſches Thun
beſtimmt wird, ſo verſteht ſich, daß hiemit nicht behauptet ſein ſoll, daß die
empfindende Phantaſie nicht lange Zeit mit dem bloßen Inſtincte, natür-
lichen Ohrenmaaß ausgereicht habe; ſo ſind ja die Proportionen in der
Bildnerkunſt Objecte des Meſſens und doch hatten viele Menſchenalter mit
dem Augenmaaß ausgereicht, ehe die Wiſſenſchaft die Regel feſtſetzte. Die
Wiſſenſchaft ſelbſt, nachdem ſie ſchon weit gelangt war, brauchte noch lange,
bis ſie von der Phyſik ihre ſchließliche Grundlegung durch die Wellenlehre
erhielt und von ihr jene Schwingungsgeſetze lernte, auf denen das ganze
Syſtem der muſikaliſchen Mittel beruht, und welche in der ſpeziellen Er-
örterung näher in’s Auge zu faſſen ſind. Hier iſt nur die arithmetiſche
Natur des zu Grunde liegenden Phyſikaliſchen zu betonen: die Höhen-
Unterſchiede der zu ſyſtematiſcher Stufenreihe geordneten Töne ſind in Ver-
hältniſſen der Schwingungsgeſchwindigkeit begründet, die Verhältnißzahlen
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 818. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/56>, abgerufen am 21.11.2024.
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