jetzt die Gegenwart muthig oder ruhig und klar zu erfassen, jetzt hoffnungs- voll, vertrauend, jetzt bang gespannt oder finster entschlossen in die Zukunft zu schauen. Selbsterlebtes, alte Sagen, Völkergeschicke, Natur und Staat schweben uns in unbestimmten Bildern vor. Lehnt sich das Gefühl an das Bewußtsein, so bekommt dieß Alles Ort und Namen, aber wir werden sehen, daß die Verbindung mit dem Objecte aufzeigenden Geiste nicht so innig ist, als es scheint.
§. 757.
Der Lebensprozeß des Gefühls als Zeitverlauf ruft einen neuen, tiefen Qualitäts-Unterschied in's Leben: obwohl an sich immer vielseitig, ist dasselbe doch vergleichungsweise entweder einfach oder mannigfach, eine Einheit gleich- zeitig verschiedener Arten, denselben Strömungs-Inhalt zu empfinden, mag dieselbe als reicher Wiederhall des Gefühls in Einer Persönlichkeit oder als Empfindungsweise verschiedener Persönlichkeiten, Temperamente, Alter, Ge- schlechter aufgefaßt werden. Jene einstimmenden oder widerstreitenden Verhält- niß-Stellungen der ursprünglichen Qualitäts-Momente, worin das einfache Ge- fühl seine Grundstimmung successiv ausdrückt (§. 755), treten nun auch für die gleichzeitige Bewegung in Kraft.
Die Harmonie im engeren Sinne des Worts als gleichzeitiger Unter- schied der Intervalle, Klänge, Melodien setzt den Unterschied einer einfacheren oder vielfacheren Resonnanz desselben Gefühls im Innern voraus. Das Gefühl ist allerdings immer der ganze Mensch, allein der ganze Mensch ist individuell ärmer oder reicher, ein mit mehr oder weniger Saiten bezo- genes Instrument, oder, wenn er auch ein vielsaitiges ist, kann doch die Empfindung entweder alle Regionen seines Innern in Bewegung setzen oder nur einfach anklingen. Der mannigfachere Wiederhall Eines Gefühls in der Brust eines Menschen wird zugleich der Ausdruck davon sein, daß merkbarer seine verschiedenen Geisteskräfte mitergriffen in das Empfinden einströmen, daß seine verschiedenen Beziehungen zur Außenwelt, seine Er- fahrungen und Erinnerungen in ihm erwachen. Der Eine Mensch ist uns nun immer zunächst der Eine in dem Sinn, daß er uns alle repräsentirt. Allein wie in allem Kunstideal, so auch in dem Ideale der Kunst der Empfindung gilt nicht die formale Logik der Consequenz, daß es, wenn einmal das Ganze einer Gattung in seinem Individuum repräsentirt er- scheint, nun dabei sein Bewenden hätte, das Eine kann sich vielmehr in eine Vielheit auseinanderschlagen und für die Grenze, wie weit der Auszug aus der empirischen Vielheit gehen soll, gibt es kein Gesetz. So ist auch hier die Pforte weit offen, durch die der Mensch in einer Vielheit von
jetzt die Gegenwart muthig oder ruhig und klar zu erfaſſen, jetzt hoffnungs- voll, vertrauend, jetzt bang geſpannt oder finſter entſchloſſen in die Zukunft zu ſchauen. Selbſterlebtes, alte Sagen, Völkergeſchicke, Natur und Staat ſchweben uns in unbeſtimmten Bildern vor. Lehnt ſich das Gefühl an das Bewußtſein, ſo bekommt dieß Alles Ort und Namen, aber wir werden ſehen, daß die Verbindung mit dem Objecte aufzeigenden Geiſte nicht ſo innig iſt, als es ſcheint.
§. 757.
Der Lebensprozeß des Gefühls als Zeitverlauf ruft einen neuen, tiefen Qualitäts-Unterſchied in’s Leben: obwohl an ſich immer vielſeitig, iſt daſſelbe doch vergleichungsweiſe entweder einfach oder mannigfach, eine Einheit gleich- zeitig verſchiedener Arten, denſelben Strömungs-Inhalt zu empfinden, mag dieſelbe als reicher Wiederhall des Gefühls in Einer Perſönlichkeit oder als Empfindungsweiſe verſchiedener Perſönlichkeiten, Temperamente, Alter, Ge- ſchlechter aufgefaßt werden. Jene einſtimmenden oder widerſtreitenden Verhält- niß-Stellungen der urſprünglichen Qualitäts-Momente, worin das einfache Ge- fühl ſeine Grundſtimmung ſucceſſiv ausdrückt (§. 755), treten nun auch für die gleichzeitige Bewegung in Kraft.
Die Harmonie im engeren Sinne des Worts als gleichzeitiger Unter- ſchied der Intervalle, Klänge, Melodien ſetzt den Unterſchied einer einfacheren oder vielfacheren Reſonnanz deſſelben Gefühls im Innern voraus. Das Gefühl iſt allerdings immer der ganze Menſch, allein der ganze Menſch iſt individuell ärmer oder reicher, ein mit mehr oder weniger Saiten bezo- genes Inſtrument, oder, wenn er auch ein vielſaitiges iſt, kann doch die Empfindung entweder alle Regionen ſeines Innern in Bewegung ſetzen oder nur einfach anklingen. Der mannigfachere Wiederhall Eines Gefühls in der Bruſt eines Menſchen wird zugleich der Ausdruck davon ſein, daß merkbarer ſeine verſchiedenen Geiſteskräfte mitergriffen in das Empfinden einſtrömen, daß ſeine verſchiedenen Beziehungen zur Außenwelt, ſeine Er- fahrungen und Erinnerungen in ihm erwachen. Der Eine Menſch iſt uns nun immer zunächſt der Eine in dem Sinn, daß er uns alle repräſentirt. Allein wie in allem Kunſtideal, ſo auch in dem Ideale der Kunſt der Empfindung gilt nicht die formale Logik der Conſequenz, daß es, wenn einmal das Ganze einer Gattung in ſeinem Individuum repräſentirt er- ſcheint, nun dabei ſein Bewenden hätte, das Eine kann ſich vielmehr in eine Vielheit auseinanderſchlagen und für die Grenze, wie weit der Auszug aus der empiriſchen Vielheit gehen ſoll, gibt es kein Geſetz. So iſt auch hier die Pforte weit offen, durch die der Menſch in einer Vielheit von
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[808/0046]
jetzt die Gegenwart muthig oder ruhig und klar zu erfaſſen, jetzt hoffnungs-
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zu ſchauen. Selbſterlebtes, alte Sagen, Völkergeſchicke, Natur und Staat
ſchweben uns in unbeſtimmten Bildern vor. Lehnt ſich das Gefühl an
das Bewußtſein, ſo bekommt dieß Alles Ort und Namen, aber wir werden
ſehen, daß die Verbindung mit dem Objecte aufzeigenden Geiſte nicht ſo
innig iſt, als es ſcheint.
§. 757.
Der Lebensprozeß des Gefühls als Zeitverlauf ruft einen neuen, tiefen
Qualitäts-Unterſchied in’s Leben: obwohl an ſich immer vielſeitig, iſt daſſelbe
doch vergleichungsweiſe entweder einfach oder mannigfach, eine Einheit gleich-
zeitig verſchiedener Arten, denſelben Strömungs-Inhalt zu empfinden, mag
dieſelbe als reicher Wiederhall des Gefühls in Einer Perſönlichkeit oder als
Empfindungsweiſe verſchiedener Perſönlichkeiten, Temperamente, Alter, Ge-
ſchlechter aufgefaßt werden. Jene einſtimmenden oder widerſtreitenden Verhält-
niß-Stellungen der urſprünglichen Qualitäts-Momente, worin das einfache Ge-
fühl ſeine Grundſtimmung ſucceſſiv ausdrückt (§. 755), treten nun auch für
die gleichzeitige Bewegung in Kraft.
Die Harmonie im engeren Sinne des Worts als gleichzeitiger Unter-
ſchied der Intervalle, Klänge, Melodien ſetzt den Unterſchied einer einfacheren
oder vielfacheren Reſonnanz deſſelben Gefühls im Innern voraus. Das
Gefühl iſt allerdings immer der ganze Menſch, allein der ganze Menſch
iſt individuell ärmer oder reicher, ein mit mehr oder weniger Saiten bezo-
genes Inſtrument, oder, wenn er auch ein vielſaitiges iſt, kann doch die
Empfindung entweder alle Regionen ſeines Innern in Bewegung ſetzen
oder nur einfach anklingen. Der mannigfachere Wiederhall Eines Gefühls
in der Bruſt eines Menſchen wird zugleich der Ausdruck davon ſein, daß
merkbarer ſeine verſchiedenen Geiſteskräfte mitergriffen in das Empfinden
einſtrömen, daß ſeine verſchiedenen Beziehungen zur Außenwelt, ſeine Er-
fahrungen und Erinnerungen in ihm erwachen. Der Eine Menſch iſt uns
nun immer zunächſt der Eine in dem Sinn, daß er uns alle repräſentirt.
Allein wie in allem Kunſtideal, ſo auch in dem Ideale der Kunſt der
Empfindung gilt nicht die formale Logik der Conſequenz, daß es, wenn
einmal das Ganze einer Gattung in ſeinem Individuum repräſentirt er-
ſcheint, nun dabei ſein Bewenden hätte, das Eine kann ſich vielmehr in
eine Vielheit auseinanderſchlagen und für die Grenze, wie weit der Auszug
aus der empiriſchen Vielheit gehen ſoll, gibt es kein Geſetz. So iſt auch
hier die Pforte weit offen, durch die der Menſch in einer Vielheit von
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 808. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/46>, abgerufen am 21.11.2024.
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