hinaus und sucht eine vollere Entfaltung, ohne sie schon recht zu finden; sein Genius entwickelt sich vollkommen doch nur an schon vorliegenden festen Formen, wie die Oper und die dem Componisten klarer als Quartett und Clavier eine bestimmte Aufgabe vorzeichnende Orchestermusik. Haydn hat daher vor Mozart vielfach eine einfache und doch farbenreichere, charak- teristischere Instrumentalcomposition voraus, er ist ächt malerisch, Mozart dramatisch plastisch, ohne diesen Typus schon überall befriedigend durchführen zu können, wozu ihm auch die Zeit nicht gegeben war. So viel, um beiden Männern gerecht zu sein; weiteres ließe sich nur unter Berücksichtigung der einzelnen Hauptwerke und Hauptperioden der beiden Meister näher erörtern; auch Männer, welche vor und neben Haydn die Epoche des freien Styls eröffnen und neben ihm und Mozart wirken, E. Bach, später der Komiker Dittersdorf u. s. w., können nicht speziell besprochen werden.
§. 830.
Die Epoche des freien Styls ist mit Haydn und Mozart nicht abgeschlossen, sondern erst angefangen, es bleibt ihm neben jenen noch ein weites Gebiet übrig in der Gefühls- wie in der dramatischen Musik, dieses Gebiet wird jetzt ergriffen von den verschiedensten Seiten her, und zwar einerseits unter dem vorbildlichen Einfluß Mozart'scher Fülle und Idealität, andrerseits mit der in der Natur des Entwicklungsganges selbst liegenden Tendenz auf concretere Stoffe, mannigfaltigere und individuellere Stylgestaltung, charakteristischere Tonmalerei, vielseitigern und stärkern Ausdruck und Effect, als der schöne Styl gestattete; kurz der indirecte Idealismus tritt aus demjenigen Bunde mit dem directen wieder heraus, den er in Mozart geschlossen, er wird wieder das überwiegende Element. Ein zweiter Genius des freien Geistes tritt zunächst in Beethoven auf, der die Form nun ganz dem Inhalte und zwar einem subjectiven Inhalte dienstbar macht; die Musik wird Darstellung der Subjectivität, des in sich vertieften, auf sich und seine Beziehung zur objectiven Welt reflectirenden, die Anziehung wie die Abstoßung des Subjects durch die Objectivität gleich stark bis in's Innerste hinein und nach allen Seiten hin fühlenden, in Allem seiner selbst kräftig bewußten und mit gleicher Kraft und phantasievollster Reflexion über die Tonmittel gebietenden, sie zur Herausstellung des mächtigen Gefühlsinhalts, von dem es erfüllt ist, ächt deutsch in stets neuer, sich selbst nie genügender Weise verwendenden Ichs.
Gleich starkes und nach allen Seiten, um die es sich in diesem Gebiete handeln kann, sich erstreckendes innerlichstes Fühlen sowohl der Anziehung als der Abstoßung zwischen Subject und Object ist das Charakteristische des Beethoven'schen Genius. Es ist das volle Herz in ihm, das der Wirk-
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hinaus und ſucht eine vollere Entfaltung, ohne ſie ſchon recht zu finden; ſein Genius entwickelt ſich vollkommen doch nur an ſchon vorliegenden feſten Formen, wie die Oper und die dem Componiſten klarer als Quartett und Clavier eine beſtimmte Aufgabe vorzeichnende Orcheſtermuſik. Haydn hat daher vor Mozart vielfach eine einfache und doch farbenreichere, charak- teriſtiſchere Inſtrumentalcompoſition voraus, er iſt ächt maleriſch, Mozart dramatiſch plaſtiſch, ohne dieſen Typus ſchon überall befriedigend durchführen zu können, wozu ihm auch die Zeit nicht gegeben war. So viel, um beiden Männern gerecht zu ſein; weiteres ließe ſich nur unter Berückſichtigung der einzelnen Hauptwerke und Hauptperioden der beiden Meiſter näher erörtern; auch Männer, welche vor und neben Haydn die Epoche des freien Styls eröffnen und neben ihm und Mozart wirken, E. Bach, ſpäter der Komiker Dittersdorf u. ſ. w., können nicht ſpeziell beſprochen werden.
§. 830.
Die Epoche des freien Styls iſt mit Haydn und Mozart nicht abgeſchloſſen, ſondern erſt angefangen, es bleibt ihm neben jenen noch ein weites Gebiet übrig in der Gefühls- wie in der dramatiſchen Muſik, dieſes Gebiet wird jetzt ergriffen von den verſchiedenſten Seiten her, und zwar einerſeits unter dem vorbildlichen Einfluß Mozart’ſcher Fülle und Idealität, andrerſeits mit der in der Natur des Entwicklungsganges ſelbſt liegenden Tendenz auf concretere Stoffe, mannigfaltigere und individuellere Stylgeſtaltung, charakteriſtiſchere Tonmalerei, vielſeitigern und ſtärkern Ausdruck und Effect, als der ſchöne Styl geſtattete; kurz der indirecte Idealiſmus tritt aus demjenigen Bunde mit dem directen wieder heraus, den er in Mozart geſchloſſen, er wird wieder das überwiegende Element. Ein zweiter Genius des freien Geiſtes tritt zunächſt in Beethoven auf, der die Form nun ganz dem Inhalte und zwar einem ſubjectiven Inhalte dienſtbar macht; die Muſik wird Darſtellung der Subjectivität, des in ſich vertieften, auf ſich und ſeine Beziehung zur objectiven Welt reflectirenden, die Anziehung wie die Abſtoßung des Subjects durch die Objectivität gleich ſtark bis in’s Innerſte hinein und nach allen Seiten hin fühlenden, in Allem ſeiner ſelbſt kräftig bewußten und mit gleicher Kraft und phantaſievollſter Reflexion über die Tonmittel gebietenden, ſie zur Herausſtellung des mächtigen Gefühlsinhalts, von dem es erfüllt iſt, ächt deutſch in ſtets neuer, ſich ſelbſt nie genügender Weiſe verwendenden Ichs.
Gleich ſtarkes und nach allen Seiten, um die es ſich in dieſem Gebiete handeln kann, ſich erſtreckendes innerlichſtes Fühlen ſowohl der Anziehung als der Abſtoßung zwiſchen Subject und Object iſt das Charakteriſtiſche des Beethoven’ſchen Genius. Es iſt das volle Herz in ihm, das der Wirk-
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hinaus und ſucht eine vollere Entfaltung, ohne ſie ſchon recht zu finden;
ſein Genius entwickelt ſich vollkommen doch nur an ſchon vorliegenden
feſten Formen, wie die Oper und die dem Componiſten klarer als Quartett
und Clavier eine beſtimmte Aufgabe vorzeichnende Orcheſtermuſik. Haydn
hat daher vor Mozart vielfach eine einfache und doch farbenreichere, charak-
teriſtiſchere Inſtrumentalcompoſition voraus, er iſt ächt maleriſch, Mozart
dramatiſch plaſtiſch, ohne dieſen Typus ſchon überall befriedigend durchführen
zu können, wozu ihm auch die Zeit nicht gegeben war. So viel, um beiden
Männern gerecht zu ſein; weiteres ließe ſich nur unter Berückſichtigung
der einzelnen Hauptwerke und Hauptperioden der beiden Meiſter näher
erörtern; auch Männer, welche vor und neben Haydn die Epoche des freien
Styls eröffnen und neben ihm und Mozart wirken, E. Bach, ſpäter der
Komiker Dittersdorf u. ſ. w., können nicht ſpeziell beſprochen werden.
§. 830.
Die Epoche des freien Styls iſt mit Haydn und Mozart nicht abgeſchloſſen,
ſondern erſt angefangen, es bleibt ihm neben jenen noch ein weites Gebiet
übrig in der Gefühls- wie in der dramatiſchen Muſik, dieſes Gebiet wird jetzt
ergriffen von den verſchiedenſten Seiten her, und zwar einerſeits unter dem
vorbildlichen Einfluß Mozart’ſcher Fülle und Idealität, andrerſeits mit der in
der Natur des Entwicklungsganges ſelbſt liegenden Tendenz auf concretere Stoffe,
mannigfaltigere und individuellere Stylgeſtaltung, charakteriſtiſchere Tonmalerei,
vielſeitigern und ſtärkern Ausdruck und Effect, als der ſchöne Styl geſtattete; kurz
der indirecte Idealiſmus tritt aus demjenigen Bunde mit dem directen wieder
heraus, den er in Mozart geſchloſſen, er wird wieder das überwiegende Element.
Ein zweiter Genius des freien Geiſtes tritt zunächſt in Beethoven auf, der
die Form nun ganz dem Inhalte und zwar einem ſubjectiven Inhalte dienſtbar
macht; die Muſik wird Darſtellung der Subjectivität, des in ſich vertieften,
auf ſich und ſeine Beziehung zur objectiven Welt reflectirenden, die Anziehung
wie die Abſtoßung des Subjects durch die Objectivität gleich ſtark bis in’s
Innerſte hinein und nach allen Seiten hin fühlenden, in Allem ſeiner ſelbſt
kräftig bewußten und mit gleicher Kraft und phantaſievollſter Reflexion über
die Tonmittel gebietenden, ſie zur Herausſtellung des mächtigen Gefühlsinhalts,
von dem es erfüllt iſt, ächt deutſch in ſtets neuer, ſich ſelbſt nie genügender
Weiſe verwendenden Ichs.
Gleich ſtarkes und nach allen Seiten, um die es ſich in dieſem Gebiete
handeln kann, ſich erſtreckendes innerlichſtes Fühlen ſowohl der Anziehung
als der Abſtoßung zwiſchen Subject und Object iſt das Charakteriſtiſche des
Beethoven’ſchen Genius. Es iſt das volle Herz in ihm, das der Wirk-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/383>, abgerufen am 30.12.2024.
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