zu viel Dramatisches, Ueberladung mit Stoff (große Oper, fünf Acte) und mit Effect. Das Speziellere gestattet keine nähere Ausführung; daß Gluck dem Inhalt das Uebergewicht gibt über den Formalismus, daß ihm aber das eigentlich Schöpferische, der Fluß fehlt trotz seiner heroischen Classicität und trotz seiner nicht blos dramatisch erregten, sondern auch gefühlstiefen Chöre, daß ebenso die spätere französische, ernste wie komische Oper bis zu Boieldieu u. A. herab in der im §. angegebenen Weise große stylistische Vor- züge mit Mangel an Wärme vereinigt, ist anerkannt.
§. 829.
Auf die Periode Gluck's folgt in Deutschland die Epoche der Entwick- lung des freien und des schönen Styls durch Haydn und Mozart, mit welcher die Musik überhaupt zur classischen Vollendung, zur vollständigen Ent- faltung ihrer Hauptformen endlich gelangt.
1. Der durch Bach und Händel vollendeten polyphonen und harmo- nischen Composition tritt der freie Styl in reicher melodischer Entfaltung gegenüber und setzt das streng formale Element zu einem untergeordneten Moment des Ausdrucks herab. Der indirecte Idealismus des deutschen Geistes erscheint jetzt in ungebundener Gestalt, er sprengt die Fesseln, die einst sein Tiefsinn sich selbst geschaffen, und tritt in jugendlicher Frische, durch einfache Formen der musikalischen Gliederung Freiheit und Klarheit zumal gewinnend, zu der ganzen ächt malerischen Mannigfaltigkeit der Production heraus, deren er fähig ist; das goldene Zeitalter, der Frühling der Ton- kunst beginnt, die Instrumentalmusik Haydn's eröffnet ihrem Flusse freie Bahn, auch die Vocalmusik lernt durch ihn die Sprache der einfachen Ge- fühle des Herzens, die Musik kommt in ihm endlich zum klaren Bewußtsein, daß sie nicht System, Wissenschaft, sondern freie Bewegung, Lyrik ist, sie wird wieder Gefühl und bleibt es, da in Deutschland der neuitalienische Gesangsformalismus keinen nationalen Boden findet. Aber die deutsche Musik ist doch bereits zu tief und zu vielseitig entwickelt und in zu starke Wechselbeziehung mit Italien und Frankreich getreten, als daß diese Epoche der frei werdenden Empfindung und Phantasie nicht noch eine zweite höhere Blüthe deutscher Kunst treiben sollte; in Mozart faßt sich der Genius der zum freien Selbstbewußtsein gelangten Musik zur Erscheinung in voller Schönheit zusammen; deutscher Ernst, der die Form zu achten und die Formen in ihrer eigenthümlichen Bedeutung für den musikalischen Ausdruck anzuerkennen weiß, deutsche Wärme des Fühlens, welche in die Form ganz und voll sich hineinlegt, nichts Kühles und Frostiges duldet, Melodie und Harmonie innerlichst beseelt und sie in vollem, reichem Fluß und Schmelz
Vischer's Aesthetik. 4. Band. 74
zu viel Dramatiſches, Ueberladung mit Stoff (große Oper, fünf Acte) und mit Effect. Das Speziellere geſtattet keine nähere Ausführung; daß Gluck dem Inhalt das Uebergewicht gibt über den Formalismus, daß ihm aber das eigentlich Schöpferiſche, der Fluß fehlt trotz ſeiner heroiſchen Claſſicität und trotz ſeiner nicht blos dramatiſch erregten, ſondern auch gefühlstiefen Chöre, daß ebenſo die ſpätere franzöſiſche, ernſte wie komiſche Oper bis zu Boieldieu u. A. herab in der im §. angegebenen Weiſe große ſtyliſtiſche Vor- züge mit Mangel an Wärme vereinigt, iſt anerkannt.
§. 829.
Auf die Periode Gluck’s folgt in Deutſchland die Epoche der Entwick- lung des freien und des ſchönen Styls durch Haydn und Mozart, mit welcher die Muſik überhaupt zur claſſiſchen Vollendung, zur vollſtändigen Ent- faltung ihrer Hauptformen endlich gelangt.
1. Der durch Bach und Händel vollendeten polyphonen und harmo- niſchen Compoſition tritt der freie Styl in reicher melodiſcher Entfaltung gegenüber und ſetzt das ſtreng formale Element zu einem untergeordneten Moment des Ausdrucks herab. Der indirecte Idealiſmus des deutſchen Geiſtes erſcheint jetzt in ungebundener Geſtalt, er ſprengt die Feſſeln, die einſt ſein Tiefſinn ſich ſelbſt geſchaffen, und tritt in jugendlicher Friſche, durch einfache Formen der muſikaliſchen Gliederung Freiheit und Klarheit zumal gewinnend, zu der ganzen ächt maleriſchen Mannigfaltigkeit der Production heraus, deren er fähig iſt; das goldene Zeitalter, der Frühling der Ton- kunſt beginnt, die Inſtrumentalmuſik Haydn’s eröffnet ihrem Fluſſe freie Bahn, auch die Vocalmuſik lernt durch ihn die Sprache der einfachen Ge- fühle des Herzens, die Muſik kommt in ihm endlich zum klaren Bewußtſein, daß ſie nicht Syſtem, Wiſſenſchaft, ſondern freie Bewegung, Lyrik iſt, ſie wird wieder Gefühl und bleibt es, da in Deutſchland der neuitalieniſche Geſangsformalismus keinen nationalen Boden findet. Aber die deutſche Muſik iſt doch bereits zu tief und zu vielſeitig entwickelt und in zu ſtarke Wechſelbeziehung mit Italien und Frankreich getreten, als daß dieſe Epoche der frei werdenden Empfindung und Phantaſie nicht noch eine zweite höhere Blüthe deutſcher Kunſt treiben ſollte; in Mozart faßt ſich der Genius der zum freien Selbſtbewußtſein gelangten Muſik zur Erſcheinung in voller Schönheit zuſammen; deutſcher Ernſt, der die Form zu achten und die Formen in ihrer eigenthümlichen Bedeutung für den muſikaliſchen Ausdruck anzuerkennen weiß, deutſche Wärme des Fühlens, welche in die Form ganz und voll ſich hineinlegt, nichts Kühles und Froſtiges duldet, Melodie und Harmonie innerlichſt beſeelt und ſie in vollem, reichem Fluß und Schmelz
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 74
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zu viel Dramatiſches, Ueberladung mit Stoff (große Oper, fünf Acte) und
mit Effect. Das Speziellere geſtattet keine nähere Ausführung; daß Gluck
dem Inhalt das Uebergewicht gibt über den Formalismus, daß ihm aber
das eigentlich Schöpferiſche, der Fluß fehlt trotz ſeiner heroiſchen Claſſicität
und trotz ſeiner nicht blos dramatiſch erregten, ſondern auch gefühlstiefen
Chöre, daß ebenſo die ſpätere franzöſiſche, ernſte wie komiſche Oper bis zu
Boieldieu u. A. herab in der im §. angegebenen Weiſe große ſtyliſtiſche Vor-
züge mit Mangel an Wärme vereinigt, iſt anerkannt.
§. 829.
Auf die Periode Gluck’s folgt in Deutſchland die Epoche der Entwick-
lung des freien und des ſchönen Styls durch Haydn und Mozart, mit
welcher die Muſik überhaupt zur claſſiſchen Vollendung, zur vollſtändigen Ent-
faltung ihrer Hauptformen endlich gelangt.
1. Der durch Bach und Händel vollendeten polyphonen und harmo-
niſchen Compoſition tritt der freie Styl in reicher melodiſcher Entfaltung
gegenüber und ſetzt das ſtreng formale Element zu einem untergeordneten
Moment des Ausdrucks herab. Der indirecte Idealiſmus des deutſchen
Geiſtes erſcheint jetzt in ungebundener Geſtalt, er ſprengt die Feſſeln, die
einſt ſein Tiefſinn ſich ſelbſt geſchaffen, und tritt in jugendlicher Friſche, durch
einfache Formen der muſikaliſchen Gliederung Freiheit und Klarheit zumal
gewinnend, zu der ganzen ächt maleriſchen Mannigfaltigkeit der Production
heraus, deren er fähig iſt; das goldene Zeitalter, der Frühling der Ton-
kunſt beginnt, die Inſtrumentalmuſik Haydn’s eröffnet ihrem Fluſſe freie
Bahn, auch die Vocalmuſik lernt durch ihn die Sprache der einfachen Ge-
fühle des Herzens, die Muſik kommt in ihm endlich zum klaren Bewußtſein,
daß ſie nicht Syſtem, Wiſſenſchaft, ſondern freie Bewegung, Lyrik iſt, ſie
wird wieder Gefühl und bleibt es, da in Deutſchland der neuitalieniſche
Geſangsformalismus keinen nationalen Boden findet. Aber die deutſche
Muſik iſt doch bereits zu tief und zu vielſeitig entwickelt und in zu ſtarke
Wechſelbeziehung mit Italien und Frankreich getreten, als daß dieſe Epoche
der frei werdenden Empfindung und Phantaſie nicht noch eine zweite höhere
Blüthe deutſcher Kunſt treiben ſollte; in Mozart faßt ſich der Genius
der zum freien Selbſtbewußtſein gelangten Muſik zur Erſcheinung in voller
Schönheit zuſammen; deutſcher Ernſt, der die Form zu achten und die
Formen in ihrer eigenthümlichen Bedeutung für den muſikaliſchen Ausdruck
anzuerkennen weiß, deutſche Wärme des Fühlens, welche in die Form ganz
und voll ſich hineinlegt, nichts Kühles und Froſtiges duldet, Melodie und
Harmonie innerlichſt beſeelt und ſie in vollem, reichem Fluß und Schmelz
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/381>, abgerufen am 21.11.2024.
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