sehen); das zarte Gewebe der Einzelmelodie ist zu fein und schwebend für diesen massiven Styl, der hauptsächlich den Chor großartig ausbildet, so schön sie auch oft durch kräftige Charakteristik und tiefen Ausdruck in ein- zelnen Gesängen und Stellen sich darstellt.
§. 828.
In Frankreich entwickelt sich seit der Mitte des siebenzehnten Jahrhun- derts an der Oper das dramatische, sowie überhaupt das drastische, in Melodie und besonders im Rhythmus scharf zeichnende Element der Musik; doch muß auch hier dem Eindringen italienischer Gesangseinseitigkeit, das nicht abzu- wehren ist, weil die zu nüchterne, zu antike französische Art ein melodisches Gegengewicht fordert, durch den deutschen Gluck eine Schranke entgegengesetzt werden. Wie Händel den indirecten Idealismus überfüllt werdender Polyphonie zum directen Idealismus einfacherer Harmonie und energischen Gefühlsausdrucks zurückführt, so macht Gluck den dramatischen Ausdruck zum Prinzip, schneidet die Auswüchse des Formelwesens in der Gesangmusik ab, verwendet die Instru- mentalmusik zu vollerer und schärferer Charakteristik, wahrt trotz der Verein- fachung des Gesangs das dramatische Pathos, breitet über die Oper durch seine Chöre ein ächtdeutsches Element tiefer Gemüthsbewegtheit aus und schafft so zum ersten Mal eine Oper von bleibender classischer Vollendung, der jedoch die freiere Bewegtheit sowohl der Charaktere als der Einzelmelodie, die Wärme und der Schmelz des Ausdrucks, der volle, unumwundene Erguß musikalischen Gefühls und Phantasiereichthums noch fehlt. Die spätere französische Oper ermäßigt diese Nüchternheit, sie greift zu belebtern, der Melodieentwicklung günstigern Stoffen, bildet dabei das Drastische und das Pathetische immer voll- kommener aus, aber sie entbehrt fortwährend den tiefen und vollen Farbenton deutscher Musik, sie behält dieser gegenüber etwas Kühles und Aeußerliches; Frankreich gestaltet, stylisirt die Oper, welche erst Deutschland mit musika- lischem Gehalt wahrhaft zu erfüllen bestimmt ist; auch bleibt es außerhalb des Drama's in der höhern Musik unfruchtbar.
Im Wesen des französischen Geistes liegt es, daß er dem rhythmi- schen Element der Musik und Allem, was hiemit zusammenhängt, dem Drastischen u. s. w. vorzugsweise sich zuwendet; auch die Volksmelodie entwickelt sich zwar reich, denn die Fassung des Lieds in kurzen musikali- schen Ausdruck sagt der Neigung zum scharf Charakteristischen zu, aber sie entwickelt sich ebendeßwegen auch nur in dieser letztern Richtung. Die Oper erhält (wie die Malerei §. 733) in Frankreich seit Lulli Styl, dramatische Architectonik, bewegte Finale's, Märsche, Tänze, scharfe musikalischrhythmische Zeichnung der Handlung, der Situationen, der Affecte, freilich aber auch
ſehen); das zarte Gewebe der Einzelmelodie iſt zu fein und ſchwebend für dieſen maſſiven Styl, der hauptſächlich den Chor großartig ausbildet, ſo ſchön ſie auch oft durch kräftige Charakteriſtik und tiefen Ausdruck in ein- zelnen Geſängen und Stellen ſich darſtellt.
§. 828.
In Frankreich entwickelt ſich ſeit der Mitte des ſiebenzehnten Jahrhun- derts an der Oper das dramatiſche, ſowie überhaupt das draſtiſche, in Melodie und beſonders im Rhythmus ſcharf zeichnende Element der Muſik; doch muß auch hier dem Eindringen italieniſcher Geſangseinſeitigkeit, das nicht abzu- wehren iſt, weil die zu nüchterne, zu antike franzöſiſche Art ein melodiſches Gegengewicht fordert, durch den deutſchen Gluck eine Schranke entgegengeſetzt werden. Wie Händel den indirecten Idealiſmus überfüllt werdender Polyphonie zum directen Idealiſmus einfacherer Harmonie und energiſchen Gefühlsausdrucks zurückführt, ſo macht Gluck den dramatiſchen Ausdruck zum Prinzip, ſchneidet die Auswüchſe des Formelweſens in der Geſangmuſik ab, verwendet die Inſtru- mentalmuſik zu vollerer und ſchärferer Charakteriſtik, wahrt trotz der Verein- fachung des Geſangs das dramatiſche Pathos, breitet über die Oper durch ſeine Chöre ein ächtdeutſches Element tiefer Gemüthsbewegtheit aus und ſchafft ſo zum erſten Mal eine Oper von bleibender claſſiſcher Vollendung, der jedoch die freiere Bewegtheit ſowohl der Charaktere als der Einzelmelodie, die Wärme und der Schmelz des Ausdrucks, der volle, unumwundene Erguß muſikaliſchen Gefühls und Phantaſiereichthums noch fehlt. Die ſpätere franzöſiſche Oper ermäßigt dieſe Nüchternheit, ſie greift zu belebtern, der Melodieentwicklung günſtigern Stoffen, bildet dabei das Draſtiſche und das Pathetiſche immer voll- kommener aus, aber ſie entbehrt fortwährend den tiefen und vollen Farbenton deutſcher Muſik, ſie behält dieſer gegenüber etwas Kühles und Aeußerliches; Frankreich geſtaltet, ſtyliſirt die Oper, welche erſt Deutſchland mit muſika- liſchem Gehalt wahrhaft zu erfüllen beſtimmt iſt; auch bleibt es außerhalb des Drama’s in der höhern Muſik unfruchtbar.
Im Weſen des franzöſiſchen Geiſtes liegt es, daß er dem rhythmi- ſchen Element der Muſik und Allem, was hiemit zuſammenhängt, dem Draſtiſchen u. ſ. w. vorzugsweiſe ſich zuwendet; auch die Volksmelodie entwickelt ſich zwar reich, denn die Faſſung des Lieds in kurzen muſikali- ſchen Ausdruck ſagt der Neigung zum ſcharf Charakteriſtiſchen zu, aber ſie entwickelt ſich ebendeßwegen auch nur in dieſer letztern Richtung. Die Oper erhält (wie die Malerei §. 733) in Frankreich ſeit Lulli Styl, dramatiſche Architectonik, bewegte Finale’s, Märſche, Tänze, ſcharfe muſikaliſchrhythmiſche Zeichnung der Handlung, der Situationen, der Affecte, freilich aber auch
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[1142/0380]
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dieſen maſſiven Styl, der hauptſächlich den Chor großartig ausbildet, ſo
ſchön ſie auch oft durch kräftige Charakteriſtik und tiefen Ausdruck in ein-
zelnen Geſängen und Stellen ſich darſtellt.
§. 828.
In Frankreich entwickelt ſich ſeit der Mitte des ſiebenzehnten Jahrhun-
derts an der Oper das dramatiſche, ſowie überhaupt das draſtiſche, in Melodie
und beſonders im Rhythmus ſcharf zeichnende Element der Muſik; doch muß
auch hier dem Eindringen italieniſcher Geſangseinſeitigkeit, das nicht abzu-
wehren iſt, weil die zu nüchterne, zu antike franzöſiſche Art ein melodiſches
Gegengewicht fordert, durch den deutſchen Gluck eine Schranke entgegengeſetzt
werden. Wie Händel den indirecten Idealiſmus überfüllt werdender Polyphonie
zum directen Idealiſmus einfacherer Harmonie und energiſchen Gefühlsausdrucks
zurückführt, ſo macht Gluck den dramatiſchen Ausdruck zum Prinzip, ſchneidet
die Auswüchſe des Formelweſens in der Geſangmuſik ab, verwendet die Inſtru-
mentalmuſik zu vollerer und ſchärferer Charakteriſtik, wahrt trotz der Verein-
fachung des Geſangs das dramatiſche Pathos, breitet über die Oper durch ſeine
Chöre ein ächtdeutſches Element tiefer Gemüthsbewegtheit aus und ſchafft ſo
zum erſten Mal eine Oper von bleibender claſſiſcher Vollendung, der jedoch die
freiere Bewegtheit ſowohl der Charaktere als der Einzelmelodie, die Wärme
und der Schmelz des Ausdrucks, der volle, unumwundene Erguß muſikaliſchen
Gefühls und Phantaſiereichthums noch fehlt. Die ſpätere franzöſiſche Oper
ermäßigt dieſe Nüchternheit, ſie greift zu belebtern, der Melodieentwicklung
günſtigern Stoffen, bildet dabei das Draſtiſche und das Pathetiſche immer voll-
kommener aus, aber ſie entbehrt fortwährend den tiefen und vollen Farbenton
deutſcher Muſik, ſie behält dieſer gegenüber etwas Kühles und Aeußerliches;
Frankreich geſtaltet, ſtyliſirt die Oper, welche erſt Deutſchland mit muſika-
liſchem Gehalt wahrhaft zu erfüllen beſtimmt iſt; auch bleibt es außerhalb des
Drama’s in der höhern Muſik unfruchtbar.
Im Weſen des franzöſiſchen Geiſtes liegt es, daß er dem rhythmi-
ſchen Element der Muſik und Allem, was hiemit zuſammenhängt, dem
Draſtiſchen u. ſ. w. vorzugsweiſe ſich zuwendet; auch die Volksmelodie
entwickelt ſich zwar reich, denn die Faſſung des Lieds in kurzen muſikali-
ſchen Ausdruck ſagt der Neigung zum ſcharf Charakteriſtiſchen zu, aber ſie
entwickelt ſich ebendeßwegen auch nur in dieſer letztern Richtung. Die Oper
erhält (wie die Malerei §. 733) in Frankreich ſeit Lulli Styl, dramatiſche
Architectonik, bewegte Finale’s, Märſche, Tänze, ſcharfe muſikaliſchrhythmiſche
Zeichnung der Handlung, der Situationen, der Affecte, freilich aber auch
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/380>, abgerufen am 21.11.2024.
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