daß das Ganze nur eine sich fortbewegende, ruhig wogende Harmonie wird, eine Musik, welche nicht blos melodisch, sondern harmonisch anspricht, die Seele nicht blos melodischklar, sondern auch harmonischweich ergreift, sie auflöst in die mit den Wendungen der Harmonie entstehenden Stimmungs- töne (Ausdrucksschattirungen), wie die Stimmen selbst nichts für sich bedeuten wollen, sondern aus dem Ganzen nur heraustreten, um immer wieder in dasselbe zurückzugehen und zu seinem hellen weichen Klange mitzuwirken; es ist (S. 897) bestimmte Musik, umhaucht und umschwebt von der Musik überhaupt. Zugleich aber ist diese Harmonie eine so lichte, unweichliche, gediegene, von allem Süßen und Pathetischen reine, einfache, durch die antiken Tonarten allerdings sehr bestimmt gefärbte Dreiklangharmonie, daß Alles ebenso sehr klar aus einander tritt, als es zusammenklingt, und Alles ebenso ruhig sich gegen einander bewegt, als es schön in einander fließt; desgleichen ist der Rhythmus auch, wo mehr figurirt wird (von den Stim- men z. B. kleine schnellere Tongänge ausgeführt werden), so ebenmäßig, daß die Haltung des Ganzen, das zu ruhen scheint in der Bewegung, nirgends gestört oder erschüttert wird. Von dramatischer Erregtheit ist keine Spur, auch da nicht, wo mehrere Chöre einander antworten, es ist eine plastische Objectivität über das Ganze hergebreitet, die allerdings einen wärmeren und bestimmtern Ausdruck an einzelnen Puncten nicht ausschließt, aber doch in der Art, daß der gleichbemessene Rhythmus des Ganzen auch hier nur vorübergehend in einfacher Weise belebt wird, das Gleichgewicht, in dem Alles sich bewegt, somit keine Störung erleidet. Die Idealität wird noch besonders verstärkt durch die Einfachheit der Ton- und Aus- drucksmittel; die Menschenstimmen, zu mehrstimmigen Solo's oder Chören vereinigt, sprechen das Ganze aus für sich allein und ohne selbst ein subjec- tives Ausdrucksvollseinwollen in dasselbe zu legen, die Sache allein soll wirken und der Ausdruck vor Allem darin bestehen, daß nichts sich vor- drängendes Subjectives die ideale Stimmung des Ganzen störe und abschwäche.
§. 826.
Während die römische Schule den Styl Palestrina's fortsetzt sowohl nach der Seite der Großartigkeit als nach der des Ausdrucks hin, welcher letztere besonders durch Allegri eine hohe Vollendung erreicht, entwickelt sich in Italien seit dem Anfang des siebenzehnten Jahrhunderts aus der polyphonen Madrigalmusik die Oper, welcher das Oratorium und eine höhere Aus- bildung der Instrumentalmusik für den Zweck der Gesangsbegleitung auf dem Fuße folgt. Die weltliche Musik wirkt auf die kirchliche zurück und befördert das in dieser selbst erwachte Streben nach größerer Bewegtheit, nach freierer Ausbildung des melodischrhythmischen Elements, nach reicherer Figura-
daß das Ganze nur eine ſich fortbewegende, ruhig wogende Harmonie wird, eine Muſik, welche nicht blos melodiſch, ſondern harmoniſch anſpricht, die Seele nicht blos melodiſchklar, ſondern auch harmoniſchweich ergreift, ſie auflöst in die mit den Wendungen der Harmonie entſtehenden Stimmungs- töne (Ausdrucksſchattirungen), wie die Stimmen ſelbſt nichts für ſich bedeuten wollen, ſondern aus dem Ganzen nur heraustreten, um immer wieder in daſſelbe zurückzugehen und zu ſeinem hellen weichen Klange mitzuwirken; es iſt (S. 897) beſtimmte Muſik, umhaucht und umſchwebt von der Muſik überhaupt. Zugleich aber iſt dieſe Harmonie eine ſo lichte, unweichliche, gediegene, von allem Süßen und Pathetiſchen reine, einfache, durch die antiken Tonarten allerdings ſehr beſtimmt gefärbte Dreiklangharmonie, daß Alles ebenſo ſehr klar aus einander tritt, als es zuſammenklingt, und Alles ebenſo ruhig ſich gegen einander bewegt, als es ſchön in einander fließt; desgleichen iſt der Rhythmus auch, wo mehr figurirt wird (von den Stim- men z. B. kleine ſchnellere Tongänge ausgeführt werden), ſo ebenmäßig, daß die Haltung des Ganzen, das zu ruhen ſcheint in der Bewegung, nirgends geſtört oder erſchüttert wird. Von dramatiſcher Erregtheit iſt keine Spur, auch da nicht, wo mehrere Chöre einander antworten, es iſt eine plaſtiſche Objectivität über das Ganze hergebreitet, die allerdings einen wärmeren und beſtimmtern Ausdruck an einzelnen Puncten nicht ausſchließt, aber doch in der Art, daß der gleichbemeſſene Rhythmus des Ganzen auch hier nur vorübergehend in einfacher Weiſe belebt wird, das Gleichgewicht, in dem Alles ſich bewegt, ſomit keine Störung erleidet. Die Idealität wird noch beſonders verſtärkt durch die Einfachheit der Ton- und Aus- drucksmittel; die Menſchenſtimmen, zu mehrſtimmigen Solo’s oder Chören vereinigt, ſprechen das Ganze aus für ſich allein und ohne ſelbſt ein ſubjec- tives Ausdrucksvollſeinwollen in daſſelbe zu legen, die Sache allein ſoll wirken und der Ausdruck vor Allem darin beſtehen, daß nichts ſich vor- drängendes Subjectives die ideale Stimmung des Ganzen ſtöre und abſchwäche.
§. 826.
Während die römiſche Schule den Styl Paleſtrina’s fortſetzt ſowohl nach der Seite der Großartigkeit als nach der des Ausdrucks hin, welcher letztere beſonders durch Allegri eine hohe Vollendung erreicht, entwickelt ſich in Italien ſeit dem Anfang des ſiebenzehnten Jahrhunderts aus der polyphonen Madrigalmuſik die Oper, welcher das Oratorium und eine höhere Aus- bildung der Inſtrumentalmuſik für den Zweck der Geſangsbegleitung auf dem Fuße folgt. Die weltliche Muſik wirkt auf die kirchliche zurück und befördert das in dieſer ſelbſt erwachte Streben nach größerer Bewegtheit, nach freierer Ausbildung des melodiſchrhythmiſchen Elements, nach reicherer Figura-
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[1135/0373]
daß das Ganze nur eine ſich fortbewegende, ruhig wogende Harmonie wird,
eine Muſik, welche nicht blos melodiſch, ſondern harmoniſch anſpricht, die
Seele nicht blos melodiſchklar, ſondern auch harmoniſchweich ergreift, ſie
auflöst in die mit den Wendungen der Harmonie entſtehenden Stimmungs-
töne (Ausdrucksſchattirungen), wie die Stimmen ſelbſt nichts für ſich bedeuten
wollen, ſondern aus dem Ganzen nur heraustreten, um immer wieder in
daſſelbe zurückzugehen und zu ſeinem hellen weichen Klange mitzuwirken; es
iſt (S. 897) beſtimmte Muſik, umhaucht und umſchwebt von der Muſik
überhaupt. Zugleich aber iſt dieſe Harmonie eine ſo lichte, unweichliche,
gediegene, von allem Süßen und Pathetiſchen reine, einfache, durch die
antiken Tonarten allerdings ſehr beſtimmt gefärbte Dreiklangharmonie, daß
Alles ebenſo ſehr klar aus einander tritt, als es zuſammenklingt, und Alles
ebenſo ruhig ſich gegen einander bewegt, als es ſchön in einander fließt;
desgleichen iſt der Rhythmus auch, wo mehr figurirt wird (von den Stim-
men z. B. kleine ſchnellere Tongänge ausgeführt werden), ſo ebenmäßig,
daß die Haltung des Ganzen, das zu ruhen ſcheint in der Bewegung,
nirgends geſtört oder erſchüttert wird. Von dramatiſcher Erregtheit iſt keine
Spur, auch da nicht, wo mehrere Chöre einander antworten, es iſt eine
plaſtiſche Objectivität über das Ganze hergebreitet, die allerdings einen
wärmeren und beſtimmtern Ausdruck an einzelnen Puncten nicht ausſchließt,
aber doch in der Art, daß der gleichbemeſſene Rhythmus des Ganzen auch
hier nur vorübergehend in einfacher Weiſe belebt wird, das Gleichgewicht,
in dem Alles ſich bewegt, ſomit keine Störung erleidet. Die Idealität
wird noch beſonders verſtärkt durch die Einfachheit der Ton- und Aus-
drucksmittel; die Menſchenſtimmen, zu mehrſtimmigen Solo’s oder Chören
vereinigt, ſprechen das Ganze aus für ſich allein und ohne ſelbſt ein ſubjec-
tives Ausdrucksvollſeinwollen in daſſelbe zu legen, die Sache allein ſoll
wirken und der Ausdruck vor Allem darin beſtehen, daß nichts ſich vor-
drängendes Subjectives die ideale Stimmung des Ganzen ſtöre und abſchwäche.
§. 826.
Während die römiſche Schule den Styl Paleſtrina’s fortſetzt ſowohl
nach der Seite der Großartigkeit als nach der des Ausdrucks hin, welcher
letztere beſonders durch Allegri eine hohe Vollendung erreicht, entwickelt ſich in
Italien ſeit dem Anfang des ſiebenzehnten Jahrhunderts aus der polyphonen
Madrigalmuſik die Oper, welcher das Oratorium und eine höhere Aus-
bildung der Inſtrumentalmuſik für den Zweck der Geſangsbegleitung auf
dem Fuße folgt. Die weltliche Muſik wirkt auf die kirchliche zurück und
befördert das in dieſer ſelbſt erwachte Streben nach größerer Bewegtheit, nach
freierer Ausbildung des melodiſchrhythmiſchen Elements, nach reicherer Figura-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/373>, abgerufen am 30.12.2024.
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