Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

Bild:
<< vorherige Seite

daß das Ganze nur eine sich fortbewegende, ruhig wogende Harmonie wird,
eine Musik, welche nicht blos melodisch, sondern harmonisch anspricht, die
Seele nicht blos melodischklar, sondern auch harmonischweich ergreift, sie
auflöst in die mit den Wendungen der Harmonie entstehenden Stimmungs-
töne (Ausdrucksschattirungen), wie die Stimmen selbst nichts für sich bedeuten
wollen, sondern aus dem Ganzen nur heraustreten, um immer wieder in
dasselbe zurückzugehen und zu seinem hellen weichen Klange mitzuwirken; es
ist (S. 897) bestimmte Musik, umhaucht und umschwebt von der Musik
überhaupt. Zugleich aber ist diese Harmonie eine so lichte, unweichliche,
gediegene, von allem Süßen und Pathetischen reine, einfache, durch die
antiken Tonarten allerdings sehr bestimmt gefärbte Dreiklangharmonie, daß
Alles ebenso sehr klar aus einander tritt, als es zusammenklingt, und Alles
ebenso ruhig sich gegen einander bewegt, als es schön in einander fließt;
desgleichen ist der Rhythmus auch, wo mehr figurirt wird (von den Stim-
men z. B. kleine schnellere Tongänge ausgeführt werden), so ebenmäßig,
daß die Haltung des Ganzen, das zu ruhen scheint in der Bewegung,
nirgends gestört oder erschüttert wird. Von dramatischer Erregtheit ist keine
Spur, auch da nicht, wo mehrere Chöre einander antworten, es ist eine
plastische Objectivität über das Ganze hergebreitet, die allerdings einen
wärmeren und bestimmtern Ausdruck an einzelnen Puncten nicht ausschließt,
aber doch in der Art, daß der gleichbemessene Rhythmus des Ganzen auch
hier nur vorübergehend in einfacher Weise belebt wird, das Gleichgewicht,
in dem Alles sich bewegt, somit keine Störung erleidet. Die Idealität
wird noch besonders verstärkt durch die Einfachheit der Ton- und Aus-
drucksmittel; die Menschenstimmen, zu mehrstimmigen Solo's oder Chören
vereinigt, sprechen das Ganze aus für sich allein und ohne selbst ein subjec-
tives Ausdrucksvollseinwollen in dasselbe zu legen, die Sache allein soll
wirken und der Ausdruck vor Allem darin bestehen, daß nichts sich vor-
drängendes Subjectives die ideale Stimmung des Ganzen störe und abschwäche.

§. 826.

Während die römische Schule den Styl Palestrina's fortsetzt sowohl
nach der Seite der Großartigkeit als nach der des Ausdrucks hin, welcher
letztere besonders durch Allegri eine hohe Vollendung erreicht, entwickelt sich in
Italien seit dem Anfang des siebenzehnten Jahrhunderts aus der polyphonen
Madrigalmusik die Oper, welcher das Oratorium und eine höhere Aus-
bildung der Instrumentalmusik für den Zweck der Gesangsbegleitung auf
dem Fuße folgt. Die weltliche Musik wirkt auf die kirchliche zurück und
befördert das in dieser selbst erwachte Streben nach größerer Bewegtheit, nach
freierer Ausbildung des melodischrhythmischen Elements, nach reicherer Figura-

daß das Ganze nur eine ſich fortbewegende, ruhig wogende Harmonie wird,
eine Muſik, welche nicht blos melodiſch, ſondern harmoniſch anſpricht, die
Seele nicht blos melodiſchklar, ſondern auch harmoniſchweich ergreift, ſie
auflöst in die mit den Wendungen der Harmonie entſtehenden Stimmungs-
töne (Ausdrucksſchattirungen), wie die Stimmen ſelbſt nichts für ſich bedeuten
wollen, ſondern aus dem Ganzen nur heraustreten, um immer wieder in
daſſelbe zurückzugehen und zu ſeinem hellen weichen Klange mitzuwirken; es
iſt (S. 897) beſtimmte Muſik, umhaucht und umſchwebt von der Muſik
überhaupt. Zugleich aber iſt dieſe Harmonie eine ſo lichte, unweichliche,
gediegene, von allem Süßen und Pathetiſchen reine, einfache, durch die
antiken Tonarten allerdings ſehr beſtimmt gefärbte Dreiklangharmonie, daß
Alles ebenſo ſehr klar aus einander tritt, als es zuſammenklingt, und Alles
ebenſo ruhig ſich gegen einander bewegt, als es ſchön in einander fließt;
desgleichen iſt der Rhythmus auch, wo mehr figurirt wird (von den Stim-
men z. B. kleine ſchnellere Tongänge ausgeführt werden), ſo ebenmäßig,
daß die Haltung des Ganzen, das zu ruhen ſcheint in der Bewegung,
nirgends geſtört oder erſchüttert wird. Von dramatiſcher Erregtheit iſt keine
Spur, auch da nicht, wo mehrere Chöre einander antworten, es iſt eine
plaſtiſche Objectivität über das Ganze hergebreitet, die allerdings einen
wärmeren und beſtimmtern Ausdruck an einzelnen Puncten nicht ausſchließt,
aber doch in der Art, daß der gleichbemeſſene Rhythmus des Ganzen auch
hier nur vorübergehend in einfacher Weiſe belebt wird, das Gleichgewicht,
in dem Alles ſich bewegt, ſomit keine Störung erleidet. Die Idealität
wird noch beſonders verſtärkt durch die Einfachheit der Ton- und Aus-
drucksmittel; die Menſchenſtimmen, zu mehrſtimmigen Solo’s oder Chören
vereinigt, ſprechen das Ganze aus für ſich allein und ohne ſelbſt ein ſubjec-
tives Ausdrucksvollſeinwollen in daſſelbe zu legen, die Sache allein ſoll
wirken und der Ausdruck vor Allem darin beſtehen, daß nichts ſich vor-
drängendes Subjectives die ideale Stimmung des Ganzen ſtöre und abſchwäche.

§. 826.

Während die römiſche Schule den Styl Paleſtrina’s fortſetzt ſowohl
nach der Seite der Großartigkeit als nach der des Ausdrucks hin, welcher
letztere beſonders durch Allegri eine hohe Vollendung erreicht, entwickelt ſich in
Italien ſeit dem Anfang des ſiebenzehnten Jahrhunderts aus der polyphonen
Madrigalmuſik die Oper, welcher das Oratorium und eine höhere Aus-
bildung der Inſtrumentalmuſik für den Zweck der Geſangsbegleitung auf
dem Fuße folgt. Die weltliche Muſik wirkt auf die kirchliche zurück und
befördert das in dieſer ſelbſt erwachte Streben nach größerer Bewegtheit, nach
freierer Ausbildung des melodiſchrhythmiſchen Elements, nach reicherer Figura-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0373" n="1135"/>
daß das Ganze nur eine &#x017F;ich fortbewegende, ruhig wogende Harmonie wird,<lb/>
eine Mu&#x017F;ik, welche nicht blos melodi&#x017F;ch, &#x017F;ondern harmoni&#x017F;ch an&#x017F;pricht, die<lb/>
Seele nicht blos melodi&#x017F;chklar, &#x017F;ondern auch harmoni&#x017F;chweich ergreift, &#x017F;ie<lb/>
auflöst in die mit den Wendungen der Harmonie ent&#x017F;tehenden Stimmungs-<lb/>
töne (Ausdrucks&#x017F;chattirungen), wie die Stimmen &#x017F;elb&#x017F;t nichts für &#x017F;ich bedeuten<lb/>
wollen, &#x017F;ondern aus dem Ganzen nur heraustreten, um immer wieder in<lb/>
da&#x017F;&#x017F;elbe zurückzugehen und zu &#x017F;einem hellen weichen Klange mitzuwirken; es<lb/>
i&#x017F;t (S. 897) be&#x017F;timmte Mu&#x017F;ik, umhaucht und um&#x017F;chwebt von der Mu&#x017F;ik<lb/>
überhaupt. Zugleich aber i&#x017F;t die&#x017F;e Harmonie eine &#x017F;o lichte, unweichliche,<lb/>
gediegene, von allem Süßen und Patheti&#x017F;chen reine, einfache, durch die<lb/>
antiken Tonarten allerdings &#x017F;ehr be&#x017F;timmt gefärbte Dreiklangharmonie, daß<lb/>
Alles eben&#x017F;o &#x017F;ehr klar aus einander tritt, als es zu&#x017F;ammenklingt, und Alles<lb/>
eben&#x017F;o ruhig &#x017F;ich gegen einander bewegt, als es &#x017F;chön in einander fließt;<lb/>
desgleichen i&#x017F;t der Rhythmus auch, wo mehr figurirt wird (von den Stim-<lb/>
men z. B. kleine &#x017F;chnellere Tongänge ausgeführt werden), &#x017F;o ebenmäßig,<lb/>
daß die Haltung des Ganzen, das zu ruhen &#x017F;cheint in der Bewegung,<lb/>
nirgends ge&#x017F;tört oder er&#x017F;chüttert wird. Von dramati&#x017F;cher Erregtheit i&#x017F;t keine<lb/>
Spur, auch da nicht, wo mehrere Chöre einander antworten, es i&#x017F;t eine<lb/>
pla&#x017F;ti&#x017F;che Objectivität über das Ganze hergebreitet, die allerdings einen<lb/>
wärmeren und be&#x017F;timmtern Ausdruck an einzelnen Puncten nicht aus&#x017F;chließt,<lb/>
aber doch in der Art, daß der gleichbeme&#x017F;&#x017F;ene Rhythmus des Ganzen auch<lb/>
hier nur vorübergehend in einfacher Wei&#x017F;e belebt wird, das Gleichgewicht,<lb/>
in dem Alles &#x017F;ich bewegt, &#x017F;omit keine Störung erleidet. Die Idealität<lb/>
wird noch be&#x017F;onders ver&#x017F;tärkt durch die Einfachheit der Ton- und Aus-<lb/>
drucksmittel; die Men&#x017F;chen&#x017F;timmen, zu mehr&#x017F;timmigen Solo&#x2019;s oder Chören<lb/>
vereinigt, &#x017F;prechen das Ganze aus für &#x017F;ich allein und ohne &#x017F;elb&#x017F;t ein &#x017F;ubjec-<lb/>
tives Ausdrucksvoll&#x017F;einwollen in da&#x017F;&#x017F;elbe zu legen, die Sache allein &#x017F;oll<lb/>
wirken und der Ausdruck vor Allem darin be&#x017F;tehen, daß nichts &#x017F;ich vor-<lb/>
drängendes Subjectives die ideale Stimmung des Ganzen &#x017F;töre und ab&#x017F;chwäche.</hi> </p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 826.</head><lb/>
            <p> <hi rendition="#fr">Während die <hi rendition="#g">römi&#x017F;che Schule</hi> den Styl Pale&#x017F;trina&#x2019;s fort&#x017F;etzt &#x017F;owohl<lb/>
nach der Seite der Großartigkeit als nach der des Ausdrucks hin, welcher<lb/>
letztere be&#x017F;onders durch Allegri eine hohe Vollendung erreicht, entwickelt &#x017F;ich in<lb/>
Italien &#x017F;eit dem Anfang des &#x017F;iebenzehnten Jahrhunderts aus der polyphonen<lb/>
Madrigalmu&#x017F;ik <hi rendition="#g">die Oper</hi>, welcher <hi rendition="#g">das Oratorium</hi> und eine höhere Aus-<lb/>
bildung der <hi rendition="#g">In&#x017F;trumentalmu&#x017F;ik</hi> für den Zweck der Ge&#x017F;angsbegleitung auf<lb/>
dem Fuße folgt. Die weltliche Mu&#x017F;ik wirkt auf die <hi rendition="#g">kirchliche</hi> zurück und<lb/>
befördert das in die&#x017F;er &#x017F;elb&#x017F;t erwachte Streben nach größerer Bewegtheit, nach<lb/>
freierer Ausbildung des melodi&#x017F;chrhythmi&#x017F;chen Elements, nach reicherer Figura-<lb/></hi> </p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1135/0373] daß das Ganze nur eine ſich fortbewegende, ruhig wogende Harmonie wird, eine Muſik, welche nicht blos melodiſch, ſondern harmoniſch anſpricht, die Seele nicht blos melodiſchklar, ſondern auch harmoniſchweich ergreift, ſie auflöst in die mit den Wendungen der Harmonie entſtehenden Stimmungs- töne (Ausdrucksſchattirungen), wie die Stimmen ſelbſt nichts für ſich bedeuten wollen, ſondern aus dem Ganzen nur heraustreten, um immer wieder in daſſelbe zurückzugehen und zu ſeinem hellen weichen Klange mitzuwirken; es iſt (S. 897) beſtimmte Muſik, umhaucht und umſchwebt von der Muſik überhaupt. Zugleich aber iſt dieſe Harmonie eine ſo lichte, unweichliche, gediegene, von allem Süßen und Pathetiſchen reine, einfache, durch die antiken Tonarten allerdings ſehr beſtimmt gefärbte Dreiklangharmonie, daß Alles ebenſo ſehr klar aus einander tritt, als es zuſammenklingt, und Alles ebenſo ruhig ſich gegen einander bewegt, als es ſchön in einander fließt; desgleichen iſt der Rhythmus auch, wo mehr figurirt wird (von den Stim- men z. B. kleine ſchnellere Tongänge ausgeführt werden), ſo ebenmäßig, daß die Haltung des Ganzen, das zu ruhen ſcheint in der Bewegung, nirgends geſtört oder erſchüttert wird. Von dramatiſcher Erregtheit iſt keine Spur, auch da nicht, wo mehrere Chöre einander antworten, es iſt eine plaſtiſche Objectivität über das Ganze hergebreitet, die allerdings einen wärmeren und beſtimmtern Ausdruck an einzelnen Puncten nicht ausſchließt, aber doch in der Art, daß der gleichbemeſſene Rhythmus des Ganzen auch hier nur vorübergehend in einfacher Weiſe belebt wird, das Gleichgewicht, in dem Alles ſich bewegt, ſomit keine Störung erleidet. Die Idealität wird noch beſonders verſtärkt durch die Einfachheit der Ton- und Aus- drucksmittel; die Menſchenſtimmen, zu mehrſtimmigen Solo’s oder Chören vereinigt, ſprechen das Ganze aus für ſich allein und ohne ſelbſt ein ſubjec- tives Ausdrucksvollſeinwollen in daſſelbe zu legen, die Sache allein ſoll wirken und der Ausdruck vor Allem darin beſtehen, daß nichts ſich vor- drängendes Subjectives die ideale Stimmung des Ganzen ſtöre und abſchwäche. §. 826. Während die römiſche Schule den Styl Paleſtrina’s fortſetzt ſowohl nach der Seite der Großartigkeit als nach der des Ausdrucks hin, welcher letztere beſonders durch Allegri eine hohe Vollendung erreicht, entwickelt ſich in Italien ſeit dem Anfang des ſiebenzehnten Jahrhunderts aus der polyphonen Madrigalmuſik die Oper, welcher das Oratorium und eine höhere Aus- bildung der Inſtrumentalmuſik für den Zweck der Geſangsbegleitung auf dem Fuße folgt. Die weltliche Muſik wirkt auf die kirchliche zurück und befördert das in dieſer ſelbſt erwachte Streben nach größerer Bewegtheit, nach freierer Ausbildung des melodiſchrhythmiſchen Elements, nach reicherer Figura-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/373
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/373>, abgerufen am 21.11.2024.