Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

Bild:
<< vorherige Seite

Ziel, der Darstellung lebendiger Gemüthserregung, abzulenken und des
Gehalts und Ernstes sie zu berauben. Zudem bleibt Ein Mangel der
monodischen Musik, das schwebende Aufundabirren der Töne ohne feste
Baßbasis unbeseitigt, die Melodie ist nur multiplicirt, nicht aber eine Ge-
schlossenheit des Kunstwerks in sich selbst erreicht, die es nur erhält, wenn
die Harmonie sich auch nach ihrer der Melodie entgegengesetzten Seite, als
stützende und begleitende Unterlage ausbildet. Allein gerade an diesem
Mangel tritt am klarsten hervor, welches an sich doch berechtigte Motiv
dieser einseitig polyphonen Kunst zu Grund liegt, es ist die Stimmenfülle
und Stimmenselbständigkeit, an welcher jene immer mehr zum Bewußtsein
individueller Selbstberechtigung heranreifende Zeit ihre Freude hat, es ist
das in einander und um einander herum Spielen der Stimmen mit seiner
lebendigmalerischen Mannigfaltigkeit, was der an sich trockenen Kunstform
Reiz verleiht und sie sogar populär macht im Madrigale (§. 803) trotz
ihrer so abstract scheinenden Systematik. Nirgends tritt das indirect ideali-
stische Prinzip, das auf Gestaltenschönheit verzichtet und auf weitem Umweg
mit vielen Härten und Schroffheiten eine Gesammtwirkung sucht, so spre-
chend heraus und dem direct idealistischen entgegen, es tritt ihm entgegen
selber in der Weise der Form, die sonst Hauptmoment des andern Prinzips
ist, weil eben diese Form doch das Moment der Individualität, sowie das
eines naturalistischern Klang- und Figurenreichthums, zu seiner Berechtigung
bringt. Discantus, Auseinandersingen, bei belebtern Stücken auch Fuga,
Stimmenjagen (welche erst später zu dem symmetrischer gebauten Stimmgefüge,
das die jetzige Fuge darstellt, sich fortbildete), nannte man diese contrapunc-
tischen Gesänge, zum deutlichen Beweis, daß eben die Verselbständigung
und das freie Gegeneinanderspielen der Stimmen der Zeit selbst als das
Charakteristische, als das was sie eigentlich wollte, vorschwebte; kommt es doch
vor Palestrina so weit, daß man in extremster Opposition gegen die altkirch-
liche Monotonie in der Liturgie verschiedene Stücke derselben, ja nebenbei
weltliche Melodieen, zusammen und durcheinander singt, weil eben die In-
dividualität dem monotonen Concentus um keinen Preis mehr sich fügen will.

§. 825.

Die Harmonie und Polyphonie bewirkt im fünfzehnten Jahrhundert eine
Umbildung hauptsächlich der kirchlichen Vocalmusik; sie bringt in sie eine Viel-
stimmigkeit, Figurirung und Stimmenverflechtung, durch welche sie erst wirk-
licher Chorgesang, Musik einer in ihren einzelnen Gliedern lebendig von dem
religiösen Inhalte bewegten Gesammtheit wird. Die niederländischen
Meister
bilden sie in dieser Richtung immer weiter aus, das Moment des
rein Musikalischen kommt allmälig wieder zur Berechtigung, obwohl erst

Ziel, der Darſtellung lebendiger Gemüthserregung, abzulenken und des
Gehalts und Ernſtes ſie zu berauben. Zudem bleibt Ein Mangel der
monodiſchen Muſik, das ſchwebende Aufundabirren der Töne ohne feſte
Baßbaſis unbeſeitigt, die Melodie iſt nur multiplicirt, nicht aber eine Ge-
ſchloſſenheit des Kunſtwerks in ſich ſelbſt erreicht, die es nur erhält, wenn
die Harmonie ſich auch nach ihrer der Melodie entgegengeſetzten Seite, als
ſtützende und begleitende Unterlage ausbildet. Allein gerade an dieſem
Mangel tritt am klarſten hervor, welches an ſich doch berechtigte Motiv
dieſer einſeitig polyphonen Kunſt zu Grund liegt, es iſt die Stimmenfülle
und Stimmenſelbſtändigkeit, an welcher jene immer mehr zum Bewußtſein
individueller Selbſtberechtigung heranreifende Zeit ihre Freude hat, es iſt
das in einander und um einander herum Spielen der Stimmen mit ſeiner
lebendigmaleriſchen Mannigfaltigkeit, was der an ſich trockenen Kunſtform
Reiz verleiht und ſie ſogar populär macht im Madrigale (§. 803) trotz
ihrer ſo abſtract ſcheinenden Syſtematik. Nirgends tritt das indirect ideali-
ſtiſche Prinzip, das auf Geſtaltenſchönheit verzichtet und auf weitem Umweg
mit vielen Härten und Schroffheiten eine Geſammtwirkung ſucht, ſo ſpre-
chend heraus und dem direct idealiſtiſchen entgegen, es tritt ihm entgegen
ſelber in der Weiſe der Form, die ſonſt Hauptmoment des andern Prinzips
iſt, weil eben dieſe Form doch das Moment der Individualität, ſowie das
eines naturaliſtiſchern Klang- und Figurenreichthums, zu ſeiner Berechtigung
bringt. Discantus, Auseinanderſingen, bei belebtern Stücken auch Fuga,
Stimmenjagen (welche erſt ſpäter zu dem ſymmetriſcher gebauten Stimmgefüge,
das die jetzige Fuge darſtellt, ſich fortbildete), nannte man dieſe contrapunc-
tiſchen Geſänge, zum deutlichen Beweis, daß eben die Verſelbſtändigung
und das freie Gegeneinanderſpielen der Stimmen der Zeit ſelbſt als das
Charakteriſtiſche, als das was ſie eigentlich wollte, vorſchwebte; kommt es doch
vor Paleſtrina ſo weit, daß man in extremſter Oppoſition gegen die altkirch-
liche Monotonie in der Liturgie verſchiedene Stücke derſelben, ja nebenbei
weltliche Melodieen, zuſammen und durcheinander ſingt, weil eben die In-
dividualität dem monotonen Concentus um keinen Preis mehr ſich fügen will.

§. 825.

Die Harmonie und Polyphonie bewirkt im fünfzehnten Jahrhundert eine
Umbildung hauptſächlich der kirchlichen Vocalmuſik; ſie bringt in ſie eine Viel-
ſtimmigkeit, Figurirung und Stimmenverflechtung, durch welche ſie erſt wirk-
licher Chorgeſang, Muſik einer in ihren einzelnen Gliedern lebendig von dem
religiöſen Inhalte bewegten Geſammtheit wird. Die niederländiſchen
Meiſter
bilden ſie in dieſer Richtung immer weiter aus, das Moment des
rein Muſikaliſchen kommt allmälig wieder zur Berechtigung, obwohl erſt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0371" n="1133"/>
Ziel, der Dar&#x017F;tellung lebendiger Gemüthserregung, abzulenken und des<lb/>
Gehalts und Ern&#x017F;tes &#x017F;ie zu berauben. Zudem bleibt Ein Mangel der<lb/>
monodi&#x017F;chen Mu&#x017F;ik, das &#x017F;chwebende Aufundabirren der Töne ohne fe&#x017F;te<lb/>
Baßba&#x017F;is unbe&#x017F;eitigt, die Melodie i&#x017F;t nur multiplicirt, nicht aber eine Ge-<lb/>
&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enheit des Kun&#x017F;twerks in &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t erreicht, die es nur erhält, wenn<lb/>
die Harmonie &#x017F;ich auch nach ihrer der Melodie entgegenge&#x017F;etzten Seite, als<lb/>
&#x017F;tützende und begleitende Unterlage ausbildet. Allein gerade an die&#x017F;em<lb/>
Mangel tritt am klar&#x017F;ten hervor, welches an &#x017F;ich doch berechtigte Motiv<lb/>
die&#x017F;er ein&#x017F;eitig polyphonen Kun&#x017F;t zu Grund liegt, es i&#x017F;t die Stimmenfülle<lb/>
und Stimmen&#x017F;elb&#x017F;tändigkeit, an welcher jene immer mehr zum Bewußt&#x017F;ein<lb/>
individueller Selb&#x017F;tberechtigung heranreifende Zeit ihre Freude hat, es i&#x017F;t<lb/>
das in einander und um einander herum Spielen der Stimmen mit &#x017F;einer<lb/>
lebendigmaleri&#x017F;chen Mannigfaltigkeit, was der an &#x017F;ich trockenen Kun&#x017F;tform<lb/>
Reiz verleiht und &#x017F;ie &#x017F;ogar populär macht im Madrigale (§. 803) trotz<lb/>
ihrer &#x017F;o ab&#x017F;tract &#x017F;cheinenden Sy&#x017F;tematik. Nirgends tritt das indirect ideali-<lb/>
&#x017F;ti&#x017F;che Prinzip, das auf Ge&#x017F;talten&#x017F;chönheit verzichtet und auf weitem Umweg<lb/>
mit vielen Härten und Schroffheiten eine Ge&#x017F;ammtwirkung &#x017F;ucht, &#x017F;o &#x017F;pre-<lb/>
chend heraus und dem direct ideali&#x017F;ti&#x017F;chen entgegen, es tritt ihm entgegen<lb/>
&#x017F;elber in der Wei&#x017F;e der Form, die &#x017F;on&#x017F;t Hauptmoment des andern Prinzips<lb/>
i&#x017F;t, weil eben die&#x017F;e Form doch das Moment der Individualität, &#x017F;owie das<lb/>
eines naturali&#x017F;ti&#x017F;chern Klang- und Figurenreichthums, zu &#x017F;einer Berechtigung<lb/>
bringt. Discantus, Auseinander&#x017F;ingen, bei belebtern Stücken auch Fuga,<lb/>
Stimmenjagen (welche er&#x017F;t &#x017F;päter zu dem &#x017F;ymmetri&#x017F;cher gebauten Stimmgefüge,<lb/>
das die jetzige Fuge dar&#x017F;tellt, &#x017F;ich fortbildete), nannte man die&#x017F;e contrapunc-<lb/>
ti&#x017F;chen Ge&#x017F;änge, zum deutlichen Beweis, daß eben die Ver&#x017F;elb&#x017F;tändigung<lb/>
und das freie Gegeneinander&#x017F;pielen der Stimmen der Zeit &#x017F;elb&#x017F;t als das<lb/>
Charakteri&#x017F;ti&#x017F;che, als das was &#x017F;ie eigentlich wollte, vor&#x017F;chwebte; kommt es doch<lb/>
vor Pale&#x017F;trina &#x017F;o weit, daß man in extrem&#x017F;ter Oppo&#x017F;ition gegen die altkirch-<lb/>
liche Monotonie in der Liturgie ver&#x017F;chiedene Stücke der&#x017F;elben, ja nebenbei<lb/>
weltliche Melodieen, zu&#x017F;ammen und durcheinander &#x017F;ingt, weil eben die In-<lb/>
dividualität dem monotonen Concentus um keinen Preis mehr &#x017F;ich fügen will.</hi> </p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 825.</head><lb/>
            <p> <hi rendition="#fr">Die Harmonie und Polyphonie bewirkt im fünfzehnten Jahrhundert eine<lb/>
Umbildung haupt&#x017F;ächlich der kirchlichen Vocalmu&#x017F;ik; &#x017F;ie bringt in &#x017F;ie eine Viel-<lb/>
&#x017F;timmigkeit, Figurirung und Stimmenverflechtung, durch welche &#x017F;ie er&#x017F;t wirk-<lb/>
licher Chorge&#x017F;ang, Mu&#x017F;ik einer in ihren einzelnen Gliedern lebendig von dem<lb/>
religiö&#x017F;en Inhalte bewegten Ge&#x017F;ammtheit wird. Die <hi rendition="#g">niederländi&#x017F;chen<lb/>
Mei&#x017F;ter</hi> bilden &#x017F;ie in die&#x017F;er Richtung immer weiter aus, das Moment des<lb/>
rein Mu&#x017F;ikali&#x017F;chen kommt allmälig wieder zur Berechtigung, obwohl er&#x017F;t<lb/></hi> </p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1133/0371] Ziel, der Darſtellung lebendiger Gemüthserregung, abzulenken und des Gehalts und Ernſtes ſie zu berauben. Zudem bleibt Ein Mangel der monodiſchen Muſik, das ſchwebende Aufundabirren der Töne ohne feſte Baßbaſis unbeſeitigt, die Melodie iſt nur multiplicirt, nicht aber eine Ge- ſchloſſenheit des Kunſtwerks in ſich ſelbſt erreicht, die es nur erhält, wenn die Harmonie ſich auch nach ihrer der Melodie entgegengeſetzten Seite, als ſtützende und begleitende Unterlage ausbildet. Allein gerade an dieſem Mangel tritt am klarſten hervor, welches an ſich doch berechtigte Motiv dieſer einſeitig polyphonen Kunſt zu Grund liegt, es iſt die Stimmenfülle und Stimmenſelbſtändigkeit, an welcher jene immer mehr zum Bewußtſein individueller Selbſtberechtigung heranreifende Zeit ihre Freude hat, es iſt das in einander und um einander herum Spielen der Stimmen mit ſeiner lebendigmaleriſchen Mannigfaltigkeit, was der an ſich trockenen Kunſtform Reiz verleiht und ſie ſogar populär macht im Madrigale (§. 803) trotz ihrer ſo abſtract ſcheinenden Syſtematik. Nirgends tritt das indirect ideali- ſtiſche Prinzip, das auf Geſtaltenſchönheit verzichtet und auf weitem Umweg mit vielen Härten und Schroffheiten eine Geſammtwirkung ſucht, ſo ſpre- chend heraus und dem direct idealiſtiſchen entgegen, es tritt ihm entgegen ſelber in der Weiſe der Form, die ſonſt Hauptmoment des andern Prinzips iſt, weil eben dieſe Form doch das Moment der Individualität, ſowie das eines naturaliſtiſchern Klang- und Figurenreichthums, zu ſeiner Berechtigung bringt. Discantus, Auseinanderſingen, bei belebtern Stücken auch Fuga, Stimmenjagen (welche erſt ſpäter zu dem ſymmetriſcher gebauten Stimmgefüge, das die jetzige Fuge darſtellt, ſich fortbildete), nannte man dieſe contrapunc- tiſchen Geſänge, zum deutlichen Beweis, daß eben die Verſelbſtändigung und das freie Gegeneinanderſpielen der Stimmen der Zeit ſelbſt als das Charakteriſtiſche, als das was ſie eigentlich wollte, vorſchwebte; kommt es doch vor Paleſtrina ſo weit, daß man in extremſter Oppoſition gegen die altkirch- liche Monotonie in der Liturgie verſchiedene Stücke derſelben, ja nebenbei weltliche Melodieen, zuſammen und durcheinander ſingt, weil eben die In- dividualität dem monotonen Concentus um keinen Preis mehr ſich fügen will. §. 825. Die Harmonie und Polyphonie bewirkt im fünfzehnten Jahrhundert eine Umbildung hauptſächlich der kirchlichen Vocalmuſik; ſie bringt in ſie eine Viel- ſtimmigkeit, Figurirung und Stimmenverflechtung, durch welche ſie erſt wirk- licher Chorgeſang, Muſik einer in ihren einzelnen Gliedern lebendig von dem religiöſen Inhalte bewegten Geſammtheit wird. Die niederländiſchen Meiſter bilden ſie in dieſer Richtung immer weiter aus, das Moment des rein Muſikaliſchen kommt allmälig wieder zur Berechtigung, obwohl erſt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/371
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/371>, abgerufen am 21.12.2024.