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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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§. 752.

Die einzelne Stimmung ist ein nur sich selbst gleiches Mischungsverhältniß
von Lust und Unlust, das sein eigenthümliches und geschlossenes Leben hat.
Der Verlauf desselben setzt eine Theilung in Momente und einen qualitati-
ven
Unterschied derselben voraus, worin sich das Gefühl wesentlich als ein in
Schwingungen bewegtes darstellt. Die absolute Grundlage dieser Theilung bildet
ein in unendlichen Abstufungen und Wechselstellungen sich verschiebender Unter-
schied der substantiellen Haltung im objectiven Lebensgrunde und der subjectiven
Ablösung von demselben, der mit dem Gegensatze des Erhabenen und einfach
Schönen sich berührt, ohne mit ihm identisch zu sein. Die einzelne Stimmung
nimmt eine bestimmte Stelle in dieser unendlichen Reihe zum Mittelpunct ihrer
weiteren Bewegung durch dieselbe.

Es läßt sich über die einzelne Stimmung, wie sie zum Inhalt eines
Kunstwerks zu werden bestimmt ist, Näheres nicht aussagen, als was der
§. gibt. Das ganze Gefühlsleben eines Individuums legt sich in eine, so
nicht wiederkehrende Proportion seiner unendlich mischbaren Elemente, der
Lust und Unlust, und diese Stimmung hat nun ihren bestimmten Schatz
von Lebenskraft, entfaltet sich von ihrem spezifischen Mittelpunct und strömt
fort, bis sie erschöpft ist. Wir werden die Kategorie der Zeit, in der wir
uns mit dem Eintritte dieser neuen Kunstform befinden, an dem Puncte
dieser Darstellung des Gefühls ausdrücklich einführen, wo dieß gefordert
ist; vorerst handelt es sich um das, was vorausgesetzt ist, damit ein Zeit-
verlauf möglich sei: ein qualitativ Unterschiedenes, das die Momente bildet,
aus welchen die Reihe des Zeitverlaufs besteht. Es müssen jetzt jene
"weiteren Theilungen" auftreten, welche in §. 751 angekündigt sind und
von welchen gesagt ist, daß sie spezifische, von dem Grundgegensatze der
Lust und Unlust zunächst ganz verschiedene seien und nur in ihren Verbin-
dungen zusammenwirkend den letzteren darstellen. Hier treten dann zuerst
die qualitativen Theilungen im Unterschiede von den zeitlich qualitativen
auf. Sogleich die erste, durchgreifende Grundtheilung offenbart nun die
ganze Schwierigkeit der Aufgabe. Der §. sucht mit Worten zu bezeichnen,
was dem Unterschiede der Tiefe und Höhe des Tons innerlich im Gemüths-
leben entspricht. Es kann kein Vorwurf sein, daß wir zu einer annähern-
den Erfassung dieses tiefen, dunkeln Vorgangs nur durch einen Rückschluß
aus der wirklichen Kunst des Gefühls und des Systems ihrer Mittel zu
gelangen suchen. Die Thatsache eines tiefen psychischen Unterschieds in der
Wirkung des tiefen und hohen Tons liegt vor; es ist die Seele, welche
den Unterschied der Töne sich als Ausdrucksmittel bereitet; was sie aus-
drücken will, erfahren wir in diesem Gebiete nur durch dieses bestimmte

§. 752.

Die einzelne Stimmung iſt ein nur ſich ſelbſt gleiches Miſchungsverhältniß
von Luſt und Unluſt, das ſein eigenthümliches und geſchloſſenes Leben hat.
Der Verlauf deſſelben ſetzt eine Theilung in Momente und einen qualitati-
ven
Unterſchied derſelben voraus, worin ſich das Gefühl weſentlich als ein in
Schwingungen bewegtes darſtellt. Die abſolute Grundlage dieſer Theilung bildet
ein in unendlichen Abſtufungen und Wechſelſtellungen ſich verſchiebender Unter-
ſchied der ſubſtantiellen Haltung im objectiven Lebensgrunde und der ſubjectiven
Ablöſung von demſelben, der mit dem Gegenſatze des Erhabenen und einfach
Schönen ſich berührt, ohne mit ihm identiſch zu ſein. Die einzelne Stimmung
nimmt eine beſtimmte Stelle in dieſer unendlichen Reihe zum Mittelpunct ihrer
weiteren Bewegung durch dieſelbe.

Es läßt ſich über die einzelne Stimmung, wie ſie zum Inhalt eines
Kunſtwerks zu werden beſtimmt iſt, Näheres nicht ausſagen, als was der
§. gibt. Das ganze Gefühlsleben eines Individuums legt ſich in eine, ſo
nicht wiederkehrende Proportion ſeiner unendlich miſchbaren Elemente, der
Luſt und Unluſt, und dieſe Stimmung hat nun ihren beſtimmten Schatz
von Lebenskraft, entfaltet ſich von ihrem ſpezifiſchen Mittelpunct und ſtrömt
fort, bis ſie erſchöpft iſt. Wir werden die Kategorie der Zeit, in der wir
uns mit dem Eintritte dieſer neuen Kunſtform befinden, an dem Puncte
dieſer Darſtellung des Gefühls ausdrücklich einführen, wo dieß gefordert
iſt; vorerſt handelt es ſich um das, was vorausgeſetzt iſt, damit ein Zeit-
verlauf möglich ſei: ein qualitativ Unterſchiedenes, das die Momente bildet,
aus welchen die Reihe des Zeitverlaufs beſteht. Es müſſen jetzt jene
„weiteren Theilungen“ auftreten, welche in §. 751 angekündigt ſind und
von welchen geſagt iſt, daß ſie ſpezifiſche, von dem Grundgegenſatze der
Luſt und Unluſt zunächſt ganz verſchiedene ſeien und nur in ihren Verbin-
dungen zuſammenwirkend den letzteren darſtellen. Hier treten dann zuerſt
die qualitativen Theilungen im Unterſchiede von den zeitlich qualitativen
auf. Sogleich die erſte, durchgreifende Grundtheilung offenbart nun die
ganze Schwierigkeit der Aufgabe. Der §. ſucht mit Worten zu bezeichnen,
was dem Unterſchiede der Tiefe und Höhe des Tons innerlich im Gemüths-
leben entſpricht. Es kann kein Vorwurf ſein, daß wir zu einer annähern-
den Erfaſſung dieſes tiefen, dunkeln Vorgangs nur durch einen Rückſchluß
aus der wirklichen Kunſt des Gefühls und des Syſtems ihrer Mittel zu
gelangen ſuchen. Die Thatſache eines tiefen pſychiſchen Unterſchieds in der
Wirkung des tiefen und hohen Tons liegt vor; es iſt die Seele, welche
den Unterſchied der Töne ſich als Ausdrucksmittel bereitet; was ſie aus-
drücken will, erfahren wir in dieſem Gebiete nur durch dieſes beſtimmte

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[799/0037] §. 752. Die einzelne Stimmung iſt ein nur ſich ſelbſt gleiches Miſchungsverhältniß von Luſt und Unluſt, das ſein eigenthümliches und geſchloſſenes Leben hat. Der Verlauf deſſelben ſetzt eine Theilung in Momente und einen qualitati- ven Unterſchied derſelben voraus, worin ſich das Gefühl weſentlich als ein in Schwingungen bewegtes darſtellt. Die abſolute Grundlage dieſer Theilung bildet ein in unendlichen Abſtufungen und Wechſelſtellungen ſich verſchiebender Unter- ſchied der ſubſtantiellen Haltung im objectiven Lebensgrunde und der ſubjectiven Ablöſung von demſelben, der mit dem Gegenſatze des Erhabenen und einfach Schönen ſich berührt, ohne mit ihm identiſch zu ſein. Die einzelne Stimmung nimmt eine beſtimmte Stelle in dieſer unendlichen Reihe zum Mittelpunct ihrer weiteren Bewegung durch dieſelbe. Es läßt ſich über die einzelne Stimmung, wie ſie zum Inhalt eines Kunſtwerks zu werden beſtimmt iſt, Näheres nicht ausſagen, als was der §. gibt. Das ganze Gefühlsleben eines Individuums legt ſich in eine, ſo nicht wiederkehrende Proportion ſeiner unendlich miſchbaren Elemente, der Luſt und Unluſt, und dieſe Stimmung hat nun ihren beſtimmten Schatz von Lebenskraft, entfaltet ſich von ihrem ſpezifiſchen Mittelpunct und ſtrömt fort, bis ſie erſchöpft iſt. Wir werden die Kategorie der Zeit, in der wir uns mit dem Eintritte dieſer neuen Kunſtform befinden, an dem Puncte dieſer Darſtellung des Gefühls ausdrücklich einführen, wo dieß gefordert iſt; vorerſt handelt es ſich um das, was vorausgeſetzt iſt, damit ein Zeit- verlauf möglich ſei: ein qualitativ Unterſchiedenes, das die Momente bildet, aus welchen die Reihe des Zeitverlaufs beſteht. Es müſſen jetzt jene „weiteren Theilungen“ auftreten, welche in §. 751 angekündigt ſind und von welchen geſagt iſt, daß ſie ſpezifiſche, von dem Grundgegenſatze der Luſt und Unluſt zunächſt ganz verſchiedene ſeien und nur in ihren Verbin- dungen zuſammenwirkend den letzteren darſtellen. Hier treten dann zuerſt die qualitativen Theilungen im Unterſchiede von den zeitlich qualitativen auf. Sogleich die erſte, durchgreifende Grundtheilung offenbart nun die ganze Schwierigkeit der Aufgabe. Der §. ſucht mit Worten zu bezeichnen, was dem Unterſchiede der Tiefe und Höhe des Tons innerlich im Gemüths- leben entſpricht. Es kann kein Vorwurf ſein, daß wir zu einer annähern- den Erfaſſung dieſes tiefen, dunkeln Vorgangs nur durch einen Rückſchluß aus der wirklichen Kunſt des Gefühls und des Syſtems ihrer Mittel zu gelangen ſuchen. Die Thatſache eines tiefen pſychiſchen Unterſchieds in der Wirkung des tiefen und hohen Tons liegt vor; es iſt die Seele, welche den Unterſchied der Töne ſich als Ausdrucksmittel bereitet; was ſie aus- drücken will, erfahren wir in dieſem Gebiete nur durch dieſes beſtimmte

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 799. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/37>, abgerufen am 21.11.2024.