Die Vereinigung beider Gattungen ermöglicht Tonwerke größeren Um- fangs und Styls, belebterer und schärferer Charakterisirung, als die einzelne Gattung für sich sie hervorbringen könnte, Tonwerke, welche nicht einzelne Empfindungen und Stimmungen, sondern eine in sich abgeschlossene Reihe von Gefühlen schildern, die sich an ein dem Vewußtsein vorschwebendes Ganzes objectiver Anschauung, Geschichte, Handlung knüpfen, oder aus einer solchen als in ihr enthalten ihm entgegentreten. Mit Werken dieser Art realisirt die Composition eine Aufgabe, welche durch das eigenste Wesen der Musik selbst vorgezeichnet ist, und durch deren Lösung sie erst zu ihrer vollständigen Entfaltung gelangt.
Größere Tonwerke sind der Instrumentalmusik unmöglich wegen ihres Mangels an anschaulicher Inhaltsbestimmtheit, ebenso aber auch der Vocal- musik wegen ihrer Einfachheit, die bei weiterer Ausdehnung zur Einförmigkeit würde; anschaulichen Inhalt hat der Gesangtext, mannigfaltigere Formbe- lebung und schärfere Ausdrucksmittel der Instrumentenchor zu liefern. Findet sich dieß Beides zusammen, so ist das "Tonwerk" (§. 786, 2.) möglich. Es wäre schlimm für die Musik, wenn sie sich auf "Tonstücke" beschränken müßte; in ihrem Wesen liegt es, allerdings mit Hülfe eines bestimmtern Inhalt und größern Zusammenhang leihenden Textes, nicht nur einzelne Tonbilder und Tongemälde, sondern auch Reihen von solchen zu geben, die zusammen Ein umfassendes Ganzes bilden; sie strebt nach Totalität, Entwicklung weit mehr als die bildenden Künste, weil die Fixirung eines einzelnen Gebildes in schlechthin concreter sinnlicher Erscheinung ihr nicht in dem für sich befriedigenden Grade der Vollkommenheit wie jenen zusteht, und weil ihr Stoff einmal kein anderer ist als der unendlich bewegliche, unruhige, in unaufhaltsamem Fortschritt begriffene, sich selbst stets neu ge- bärende Proceß des Gefühlslebens; sie ist nicht blos Bild, sondern Reihe von Bildern und kommt erst damit zu voller Verwirklichung ihrer selbst, daß sie dieses ist, daß sie sich zu einer Folge von Stimmungsbildern ent- faltet, welche durch die Verhältnisse des Contrastes, der Motivirung, des fortschreitenden, aufundabwogenden Bewegungsrhythmus unter sich zusammen- gehalten Ein größeres Ganzes constituiren. Sodann zerfällt ja auch das Gefühlsleben selbst gar nicht blos in eine Unzahl einzelner lediglich subjectiver, einander zwar bedingender, aber dem Inhalte nach heterogener, nur durch die Individualität, an der sie haften, äußerlich zur Einheit einer Reihe zusammengehaltener Empfindungen; im Gegentheil über jenes unendliche Chaos wechselnder, singulärer, zufälliger idiopathischer Einzelempfindungen heben sich Gefühle tiefern, höhern, weitergreifenden Gehalts und Interesses,
§. 818.
Die Vereinigung beider Gattungen ermöglicht Tonwerke größeren Um- fangs und Styls, belebterer und ſchärferer Charakteriſirung, als die einzelne Gattung für ſich ſie hervorbringen könnte, Tonwerke, welche nicht einzelne Empfindungen und Stimmungen, ſondern eine in ſich abgeſchloſſene Reihe von Gefühlen ſchildern, die ſich an ein dem Vewußtſein vorſchwebendes Ganzes objectiver Anſchauung, Geſchichte, Handlung knüpfen, oder aus einer ſolchen als in ihr enthalten ihm entgegentreten. Mit Werken dieſer Art realiſirt die Compoſition eine Aufgabe, welche durch das eigenſte Weſen der Muſik ſelbſt vorgezeichnet iſt, und durch deren Löſung ſie erſt zu ihrer vollſtändigen Entfaltung gelangt.
Größere Tonwerke ſind der Inſtrumentalmuſik unmöglich wegen ihres Mangels an anſchaulicher Inhaltsbeſtimmtheit, ebenſo aber auch der Vocal- muſik wegen ihrer Einfachheit, die bei weiterer Ausdehnung zur Einförmigkeit würde; anſchaulichen Inhalt hat der Geſangtext, mannigfaltigere Formbe- lebung und ſchärfere Ausdrucksmittel der Inſtrumentenchor zu liefern. Findet ſich dieß Beides zuſammen, ſo iſt das „Tonwerk“ (§. 786, 2.) möglich. Es wäre ſchlimm für die Muſik, wenn ſie ſich auf „Tonſtücke“ beſchränken müßte; in ihrem Weſen liegt es, allerdings mit Hülfe eines beſtimmtern Inhalt und größern Zuſammenhang leihenden Textes, nicht nur einzelne Tonbilder und Tongemälde, ſondern auch Reihen von ſolchen zu geben, die zuſammen Ein umfaſſendes Ganzes bilden; ſie ſtrebt nach Totalität, Entwicklung weit mehr als die bildenden Künſte, weil die Fixirung eines einzelnen Gebildes in ſchlechthin concreter ſinnlicher Erſcheinung ihr nicht in dem für ſich befriedigenden Grade der Vollkommenheit wie jenen zuſteht, und weil ihr Stoff einmal kein anderer iſt als der unendlich bewegliche, unruhige, in unaufhaltſamem Fortſchritt begriffene, ſich ſelbſt ſtets neu ge- bärende Proceß des Gefühlslebens; ſie iſt nicht blos Bild, ſondern Reihe von Bildern und kommt erſt damit zu voller Verwirklichung ihrer ſelbſt, daß ſie dieſes iſt, daß ſie ſich zu einer Folge von Stimmungsbildern ent- faltet, welche durch die Verhältniſſe des Contraſtes, der Motivirung, des fortſchreitenden, aufundabwogenden Bewegungsrhythmus unter ſich zuſammen- gehalten Ein größeres Ganzes conſtituiren. Sodann zerfällt ja auch das Gefühlsleben ſelbſt gar nicht blos in eine Unzahl einzelner lediglich ſubjectiver, einander zwar bedingender, aber dem Inhalte nach heterogener, nur durch die Individualität, an der ſie haften, äußerlich zur Einheit einer Reihe zuſammengehaltener Empfindungen; im Gegentheil über jenes unendliche Chaos wechſelnder, ſingulärer, zufälliger idiopathiſcher Einzelempfindungen heben ſich Gefühle tiefern, höhern, weitergreifenden Gehalts und Intereſſes,
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§. 818.
Die Vereinigung beider Gattungen ermöglicht Tonwerke größeren Um-
fangs und Styls, belebterer und ſchärferer Charakteriſirung, als die einzelne
Gattung für ſich ſie hervorbringen könnte, Tonwerke, welche nicht einzelne
Empfindungen und Stimmungen, ſondern eine in ſich abgeſchloſſene Reihe von
Gefühlen ſchildern, die ſich an ein dem Vewußtſein vorſchwebendes Ganzes
objectiver Anſchauung, Geſchichte, Handlung knüpfen, oder aus
einer ſolchen als in ihr enthalten ihm entgegentreten. Mit Werken dieſer
Art realiſirt die Compoſition eine Aufgabe, welche durch das eigenſte Weſen
der Muſik ſelbſt vorgezeichnet iſt, und durch deren Löſung ſie erſt zu ihrer
vollſtändigen Entfaltung gelangt.
Größere Tonwerke ſind der Inſtrumentalmuſik unmöglich wegen ihres
Mangels an anſchaulicher Inhaltsbeſtimmtheit, ebenſo aber auch der Vocal-
muſik wegen ihrer Einfachheit, die bei weiterer Ausdehnung zur Einförmigkeit
würde; anſchaulichen Inhalt hat der Geſangtext, mannigfaltigere Formbe-
lebung und ſchärfere Ausdrucksmittel der Inſtrumentenchor zu liefern. Findet
ſich dieß Beides zuſammen, ſo iſt das „Tonwerk“ (§. 786, 2.) möglich.
Es wäre ſchlimm für die Muſik, wenn ſie ſich auf „Tonſtücke“ beſchränken
müßte; in ihrem Weſen liegt es, allerdings mit Hülfe eines beſtimmtern
Inhalt und größern Zuſammenhang leihenden Textes, nicht nur einzelne
Tonbilder und Tongemälde, ſondern auch Reihen von ſolchen zu geben, die
zuſammen Ein umfaſſendes Ganzes bilden; ſie ſtrebt nach Totalität,
Entwicklung weit mehr als die bildenden Künſte, weil die Fixirung eines
einzelnen Gebildes in ſchlechthin concreter ſinnlicher Erſcheinung ihr nicht
in dem für ſich befriedigenden Grade der Vollkommenheit wie jenen zuſteht,
und weil ihr Stoff einmal kein anderer iſt als der unendlich bewegliche,
unruhige, in unaufhaltſamem Fortſchritt begriffene, ſich ſelbſt ſtets neu ge-
bärende Proceß des Gefühlslebens; ſie iſt nicht blos Bild, ſondern Reihe
von Bildern und kommt erſt damit zu voller Verwirklichung ihrer ſelbſt,
daß ſie dieſes iſt, daß ſie ſich zu einer Folge von Stimmungsbildern ent-
faltet, welche durch die Verhältniſſe des Contraſtes, der Motivirung, des
fortſchreitenden, aufundabwogenden Bewegungsrhythmus unter ſich zuſammen-
gehalten Ein größeres Ganzes conſtituiren. Sodann zerfällt ja auch das
Gefühlsleben ſelbſt gar nicht blos in eine Unzahl einzelner lediglich ſubjectiver,
einander zwar bedingender, aber dem Inhalte nach heterogener, nur durch
die Individualität, an der ſie haften, äußerlich zur Einheit einer Reihe
zuſammengehaltener Empfindungen; im Gegentheil über jenes unendliche
Chaos wechſelnder, ſingulärer, zufälliger idiopathiſcher Einzelempfindungen
heben ſich Gefühle tiefern, höhern, weitergreifenden Gehalts und Intereſſes,
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/338>, abgerufen am 30.12.2024.
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