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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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Die im §. angegebenen Unterschiede sind durch die §§. über Melodie,
allgemeine Musikformen, Stylarten, Vocal- und Instrumentalmusik hin-
länglich motivirt und vorbereitet, so daß sie keiner speziellern Rechtfertigung
bedürfen. In welcher Art diese Unterschiede bei den einzelnen Formen sich
vielfach kreuzen und combiniren, wird bei der Entwicklung von selbst her-
vortreten. Der Unterschied des Volks- und Kunstgesangs ist in die allge-
meine Eintheilung nicht aufgenommen, da er nur innerhalb der Liedform
seine Geltung hat. -- Ein Zweifel könnte bei einigen in den nächsten §§.
besprochenen Formen der Vocalmusik, die in der Regel Instrumentalbegleitung
fordern (Arie u. s. w.), darüber entstehen, ob sie nicht etwa erst zur dritten
Hauptgattung gehören, welche durch Vereinigung der Vocal- und Instru-
mentalmusik zu Stande kommt; allein so lange die letztere blos begleitend
auftritt, nicht aber zugleich sich selbständig entwickelt und eben durch diese
selbständige Entwicklung ihres eigenen Wesens zum Ganzen mitwirkt, haben
wir immer noch Vocalmusik in Vereinigung mit Instrumenten, nicht aber
eine Einheit beider Hauptzweige, durch welche eine ganz neue Gattung
entsteht.

§. 800.

Die erste Stufe der Vocalmusik ist das Lied, das "Stimmungsbild" der
Musik, die einfache Melodie, welche die in ein lyrisches Gedicht niedergelegte
Stimmung in ihrer einfachen Allgemeinheit musikalisch wiedergibt, entweder
mehr volksmäßig natürlich, in ungebundener Weise vor Allem den Ausdruck
anstrebend, oder in kunstmäßiger, die eine oder andere Stylart principiell durch-
führender, die Tendenz auf Ausdruck jedoch gleichfalls voranstellender Form;
endlich entweder mit oder ohne Begleitung von Instrumenten und Nebenstimmen,
mit oder ohne Mehrstimmigkeit.

Den Naturgesang ohne Worte, das zum Jodeln ausgebildete Jauchzen,
von dem schon S. 816 die Rede war, übergehen wir hier und wenden uns
gleich zu der bestimmtern Form des Liedes, die aus dem poetischen Liede
hervorwächst und selbst wiederum es mitproduciren hilft, indem das Ge-
sangsbedürfniß ebenso zur Liederdichtung anregt, wie die Liederdichtung zur
Liedercomposition weiterführt. Das Lied ist zunächst rein lyrisch, die Lieder-
melodie will nichts sein als der Ausdruck der Gesammtstimmung des Ge-
dichtes nach ihrem eigenthümlichen Charakter der Erregtheit, der Lust, des
Scherzes, der Trauer, der Wehmuth u. s. w. Das Lied geht einerseits
auf bestimmten Ausdruck und hat eben in ihm sein Wesen, nicht etwa in
selbständigerer Ausbildung der musikalischen Form, es ist einfache Musik,
deren Werth ausschließlich in dem Sprechenden, Treffenden, Charakteristischen
besteht; aber andrerseits bleibt es bei der Gesammtstimmung stehen, es ver-

Die im §. angegebenen Unterſchiede ſind durch die §§. über Melodie,
allgemeine Muſikformen, Stylarten, Vocal- und Inſtrumentalmuſik hin-
länglich motivirt und vorbereitet, ſo daß ſie keiner ſpeziellern Rechtfertigung
bedürfen. In welcher Art dieſe Unterſchiede bei den einzelnen Formen ſich
vielfach kreuzen und combiniren, wird bei der Entwicklung von ſelbſt her-
vortreten. Der Unterſchied des Volks- und Kunſtgeſangs iſt in die allge-
meine Eintheilung nicht aufgenommen, da er nur innerhalb der Liedform
ſeine Geltung hat. — Ein Zweifel könnte bei einigen in den nächſten §§.
beſprochenen Formen der Vocalmuſik, die in der Regel Inſtrumentalbegleitung
fordern (Arie u. ſ. w.), darüber entſtehen, ob ſie nicht etwa erſt zur dritten
Hauptgattung gehören, welche durch Vereinigung der Vocal- und Inſtru-
mentalmuſik zu Stande kommt; allein ſo lange die letztere blos begleitend
auftritt, nicht aber zugleich ſich ſelbſtändig entwickelt und eben durch dieſe
ſelbſtändige Entwicklung ihres eigenen Weſens zum Ganzen mitwirkt, haben
wir immer noch Vocalmuſik in Vereinigung mit Inſtrumenten, nicht aber
eine Einheit beider Hauptzweige, durch welche eine ganz neue Gattung
entſteht.

§. 800.

Die erſte Stufe der Vocalmuſik iſt das Lied, das „Stimmungsbild“ der
Muſik, die einfache Melodie, welche die in ein lyriſches Gedicht niedergelegte
Stimmung in ihrer einfachen Allgemeinheit muſikaliſch wiedergibt, entweder
mehr volksmäßig natürlich, in ungebundener Weiſe vor Allem den Ausdruck
anſtrebend, oder in kunſtmäßiger, die eine oder andere Stylart principiell durch-
führender, die Tendenz auf Ausdruck jedoch gleichfalls voranſtellender Form;
endlich entweder mit oder ohne Begleitung von Inſtrumenten und Nebenſtimmen,
mit oder ohne Mehrſtimmigkeit.

Den Naturgeſang ohne Worte, das zum Jodeln ausgebildete Jauchzen,
von dem ſchon S. 816 die Rede war, übergehen wir hier und wenden uns
gleich zu der beſtimmtern Form des Liedes, die aus dem poetiſchen Liede
hervorwächst und ſelbſt wiederum es mitproduciren hilft, indem das Ge-
ſangsbedürfniß ebenſo zur Liederdichtung anregt, wie die Liederdichtung zur
Liedercompoſition weiterführt. Das Lied iſt zunächſt rein lyriſch, die Lieder-
melodie will nichts ſein als der Ausdruck der Geſammtſtimmung des Ge-
dichtes nach ihrem eigenthümlichen Charakter der Erregtheit, der Luſt, des
Scherzes, der Trauer, der Wehmuth u. ſ. w. Das Lied geht einerſeits
auf beſtimmten Ausdruck und hat eben in ihm ſein Weſen, nicht etwa in
ſelbſtändigerer Ausbildung der muſikaliſchen Form, es iſt einfache Muſik,
deren Werth ausſchließlich in dem Sprechenden, Treffenden, Charakteriſtiſchen
beſteht; aber andrerſeits bleibt es bei der Geſammtſtimmung ſtehen, es ver-

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[989/0227] Die im §. angegebenen Unterſchiede ſind durch die §§. über Melodie, allgemeine Muſikformen, Stylarten, Vocal- und Inſtrumentalmuſik hin- länglich motivirt und vorbereitet, ſo daß ſie keiner ſpeziellern Rechtfertigung bedürfen. In welcher Art dieſe Unterſchiede bei den einzelnen Formen ſich vielfach kreuzen und combiniren, wird bei der Entwicklung von ſelbſt her- vortreten. Der Unterſchied des Volks- und Kunſtgeſangs iſt in die allge- meine Eintheilung nicht aufgenommen, da er nur innerhalb der Liedform ſeine Geltung hat. — Ein Zweifel könnte bei einigen in den nächſten §§. beſprochenen Formen der Vocalmuſik, die in der Regel Inſtrumentalbegleitung fordern (Arie u. ſ. w.), darüber entſtehen, ob ſie nicht etwa erſt zur dritten Hauptgattung gehören, welche durch Vereinigung der Vocal- und Inſtru- mentalmuſik zu Stande kommt; allein ſo lange die letztere blos begleitend auftritt, nicht aber zugleich ſich ſelbſtändig entwickelt und eben durch dieſe ſelbſtändige Entwicklung ihres eigenen Weſens zum Ganzen mitwirkt, haben wir immer noch Vocalmuſik in Vereinigung mit Inſtrumenten, nicht aber eine Einheit beider Hauptzweige, durch welche eine ganz neue Gattung entſteht. §. 800. Die erſte Stufe der Vocalmuſik iſt das Lied, das „Stimmungsbild“ der Muſik, die einfache Melodie, welche die in ein lyriſches Gedicht niedergelegte Stimmung in ihrer einfachen Allgemeinheit muſikaliſch wiedergibt, entweder mehr volksmäßig natürlich, in ungebundener Weiſe vor Allem den Ausdruck anſtrebend, oder in kunſtmäßiger, die eine oder andere Stylart principiell durch- führender, die Tendenz auf Ausdruck jedoch gleichfalls voranſtellender Form; endlich entweder mit oder ohne Begleitung von Inſtrumenten und Nebenſtimmen, mit oder ohne Mehrſtimmigkeit. Den Naturgeſang ohne Worte, das zum Jodeln ausgebildete Jauchzen, von dem ſchon S. 816 die Rede war, übergehen wir hier und wenden uns gleich zu der beſtimmtern Form des Liedes, die aus dem poetiſchen Liede hervorwächst und ſelbſt wiederum es mitproduciren hilft, indem das Ge- ſangsbedürfniß ebenſo zur Liederdichtung anregt, wie die Liederdichtung zur Liedercompoſition weiterführt. Das Lied iſt zunächſt rein lyriſch, die Lieder- melodie will nichts ſein als der Ausdruck der Geſammtſtimmung des Ge- dichtes nach ihrem eigenthümlichen Charakter der Erregtheit, der Luſt, des Scherzes, der Trauer, der Wehmuth u. ſ. w. Das Lied geht einerſeits auf beſtimmten Ausdruck und hat eben in ihm ſein Weſen, nicht etwa in ſelbſtändigerer Ausbildung der muſikaliſchen Form, es iſt einfache Muſik, deren Werth ausſchließlich in dem Sprechenden, Treffenden, Charakteriſtiſchen beſteht; aber andrerſeits bleibt es bei der Geſammtſtimmung ſtehen, es ver-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 989. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/227>, abgerufen am 30.12.2024.