Der Unterschied zwischen Vocal- und Instrumentalmusik ist dem zwischen einfacher und zusammengesetzter Kunstform in gewisser Oeziehung analog; er kommt nämlich darauf zurück, daß die Vocalmusik die subjectivere, aber un- mittelbarere, gebundenere, weniger formenreiche, die Instrumentalmusik die objectivere, aber freiere, beweglichere und mannigfaltigere Musikform ist.
Sowohl die Erörterung des Tonmaterials als insbesondere die Be- trachtung der einfachern und zusammengesetztern Musikformen führte schon früher mehrmals zur Berührung des Unterschiedes zwischen Vocal- und Instrumentalmusik. Jene Formen sind zwar durch diese Theilung nicht erst bedingt, sondern unabhängig von ihr, aber sie stehen zu ihr in wesentlicher Beziehung, indem sich nicht alle Hauptformen gleich gut und gleich voll- ständig in Vocal- und in Instrumentalmusik verwirklichen lassen, sondern die einen mehr auf jene, die andern mehr auf diese angewiesen sind. Was der eigentlichen Melodie näher steht, sei sie nun einstimmig oder mehr- stimmig, homophon oder polyphon, fällt der Vocalmusik, was nicht mehr einfach melodisch, sondern melodiös, figurirt ist, der Instrumentalmusik vor- zugsweise anheim, und zu diesem Unterschiede treten nun die weitern, jedoch verwandten Momente hinzu, daß die Vocalmusik überhaupt weniger for- menreich, mehr für unmittelbaren subjectiven Gefühlserguß bestimmt, die Instrumentalmusik dagegen sowohl durch die Mannigfaltigkeit und charakte- ristische Eigenthümlichkeit der Organe, die ihr zu Gebote stehen, als durch die größere Freiheit der Handhabung derselben zu den verschiedenartigsten, nüancirtesten, bewegungsreichsten Tonschöpfungen, sowie zu einer über den bloßen Gefühlsausdruck hinausgehenden objectivern Darstellung musikalischer Gedanken befähigt ist.
"Singen" und "Spielen" ist (vgl. S. 892) der populäre, in der That höchst treffende Ausdruck für die beiden Musikarten. Die Vocalmusik singt; sie entsteht dadurch, daß eine Empfindung unmittelbar sich äußert, und sie enthält und will nichts Anderes, als eben diese unmittelbare Em- pfindungsäußerung. Sie ist somit durchaus innerlich, subjectiv; denn die Empfindung, die innere Bewegung tritt in ihr wirklich so ganz und gar unmittelbar heraus, wie sie nur überhaupt in der Kunst heraustreten kann, und eben nur dieses Heraustreten-, Lautwerdenlassen eines Gefühls ist der Zweck; der Singende will seinem Gefühle freien Lauf verstatten und Sprache verleihen, der Hörende will im Gesang eben dieses sich unmittelbar äußernde Gefühl vernehmen, allerdings zugleich in schöner Form, aber doch in solcher Form, die nichts als die sich vernehmenlassen wollende Stimmung oder Empfindung selbst zum Inhalte hat. Schärfere, speziell darstellende (ma-
§. 796.
Der Unterſchied zwiſchen Vocal- und Inſtrumentalmuſik iſt dem zwiſchen einfacher und zuſammengeſetzter Kunſtform in gewiſſer Oeziehung analog; er kommt nämlich darauf zurück, daß die Vocalmuſik die ſubjectivere, aber un- mittelbarere, gebundenere, weniger formenreiche, die Inſtrumentalmuſik die objectivere, aber freiere, beweglichere und mannigfaltigere Muſikform iſt.
Sowohl die Erörterung des Tonmaterials als insbeſondere die Be- trachtung der einfachern und zuſammengeſetztern Muſikformen führte ſchon früher mehrmals zur Berührung des Unterſchiedes zwiſchen Vocal- und Inſtrumentalmuſik. Jene Formen ſind zwar durch dieſe Theilung nicht erſt bedingt, ſondern unabhängig von ihr, aber ſie ſtehen zu ihr in weſentlicher Beziehung, indem ſich nicht alle Hauptformen gleich gut und gleich voll- ſtändig in Vocal- und in Inſtrumentalmuſik verwirklichen laſſen, ſondern die einen mehr auf jene, die andern mehr auf dieſe angewieſen ſind. Was der eigentlichen Melodie näher ſteht, ſei ſie nun einſtimmig oder mehr- ſtimmig, homophon oder polyphon, fällt der Vocalmuſik, was nicht mehr einfach melodiſch, ſondern melodiös, figurirt iſt, der Inſtrumentalmuſik vor- zugsweiſe anheim, und zu dieſem Unterſchiede treten nun die weitern, jedoch verwandten Momente hinzu, daß die Vocalmuſik überhaupt weniger for- menreich, mehr für unmittelbaren ſubjectiven Gefühlserguß beſtimmt, die Inſtrumentalmuſik dagegen ſowohl durch die Mannigfaltigkeit und charakte- riſtiſche Eigenthümlichkeit der Organe, die ihr zu Gebote ſtehen, als durch die größere Freiheit der Handhabung derſelben zu den verſchiedenartigſten, nüancirteſten, bewegungsreichſten Tonſchöpfungen, ſowie zu einer über den bloßen Gefühlsausdruck hinausgehenden objectivern Darſtellung muſikaliſcher Gedanken befähigt iſt.
„Singen“ und „Spielen“ iſt (vgl. S. 892) der populäre, in der That höchſt treffende Ausdruck für die beiden Muſikarten. Die Vocalmuſik ſingt; ſie entſteht dadurch, daß eine Empfindung unmittelbar ſich äußert, und ſie enthält und will nichts Anderes, als eben dieſe unmittelbare Em- pfindungsäußerung. Sie iſt ſomit durchaus innerlich, ſubjectiv; denn die Empfindung, die innere Bewegung tritt in ihr wirklich ſo ganz und gar unmittelbar heraus, wie ſie nur überhaupt in der Kunſt heraustreten kann, und eben nur dieſes Heraustreten-, Lautwerdenlaſſen eines Gefühls iſt der Zweck; der Singende will ſeinem Gefühle freien Lauf verſtatten und Sprache verleihen, der Hörende will im Geſang eben dieſes ſich unmittelbar äußernde Gefühl vernehmen, allerdings zugleich in ſchöner Form, aber doch in ſolcher Form, die nichts als die ſich vernehmenlaſſen wollende Stimmung oder Empfindung ſelbſt zum Inhalte hat. Schärfere, ſpeziell darſtellende (ma-
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Der Unterſchied zwiſchen Vocal- und Inſtrumentalmuſik iſt dem zwiſchen
einfacher und zuſammengeſetzter Kunſtform in gewiſſer Oeziehung analog; er
kommt nämlich darauf zurück, daß die Vocalmuſik die ſubjectivere, aber un-
mittelbarere, gebundenere, weniger formenreiche, die Inſtrumentalmuſik die
objectivere, aber freiere, beweglichere und mannigfaltigere Muſikform iſt.
Sowohl die Erörterung des Tonmaterials als insbeſondere die Be-
trachtung der einfachern und zuſammengeſetztern Muſikformen führte ſchon
früher mehrmals zur Berührung des Unterſchiedes zwiſchen Vocal- und
Inſtrumentalmuſik. Jene Formen ſind zwar durch dieſe Theilung nicht erſt
bedingt, ſondern unabhängig von ihr, aber ſie ſtehen zu ihr in weſentlicher
Beziehung, indem ſich nicht alle Hauptformen gleich gut und gleich voll-
ſtändig in Vocal- und in Inſtrumentalmuſik verwirklichen laſſen, ſondern
die einen mehr auf jene, die andern mehr auf dieſe angewieſen ſind. Was
der eigentlichen Melodie näher ſteht, ſei ſie nun einſtimmig oder mehr-
ſtimmig, homophon oder polyphon, fällt der Vocalmuſik, was nicht mehr
einfach melodiſch, ſondern melodiös, figurirt iſt, der Inſtrumentalmuſik vor-
zugsweiſe anheim, und zu dieſem Unterſchiede treten nun die weitern, jedoch
verwandten Momente hinzu, daß die Vocalmuſik überhaupt weniger for-
menreich, mehr für unmittelbaren ſubjectiven Gefühlserguß beſtimmt, die
Inſtrumentalmuſik dagegen ſowohl durch die Mannigfaltigkeit und charakte-
riſtiſche Eigenthümlichkeit der Organe, die ihr zu Gebote ſtehen, als durch
die größere Freiheit der Handhabung derſelben zu den verſchiedenartigſten,
nüancirteſten, bewegungsreichſten Tonſchöpfungen, ſowie zu einer über den
bloßen Gefühlsausdruck hinausgehenden objectivern Darſtellung muſikaliſcher
Gedanken befähigt iſt.
„Singen“ und „Spielen“ iſt (vgl. S. 892) der populäre, in der
That höchſt treffende Ausdruck für die beiden Muſikarten. Die Vocalmuſik
ſingt; ſie entſteht dadurch, daß eine Empfindung unmittelbar ſich äußert,
und ſie enthält und will nichts Anderes, als eben dieſe unmittelbare Em-
pfindungsäußerung. Sie iſt ſomit durchaus innerlich, ſubjectiv; denn die
Empfindung, die innere Bewegung tritt in ihr wirklich ſo ganz und gar
unmittelbar heraus, wie ſie nur überhaupt in der Kunſt heraustreten kann,
und eben nur dieſes Heraustreten-, Lautwerdenlaſſen eines Gefühls iſt der
Zweck; der Singende will ſeinem Gefühle freien Lauf verſtatten und Sprache
verleihen, der Hörende will im Geſang eben dieſes ſich unmittelbar äußernde
Gefühl vernehmen, allerdings zugleich in ſchöner Form, aber doch in ſolcher
Form, die nichts als die ſich vernehmenlaſſen wollende Stimmung oder
Empfindung ſelbſt zum Inhalte hat. Schärfere, ſpeziell darſtellende (ma-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 980. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/218>, abgerufen am 21.12.2024.
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