Ernste und Gewichtige ist sie nicht die geeignete Form; dafür ist sie wie- derum zu unruhig und bewegt; sie ist Erregtheit durch etwas Ernstes, aber nicht der Ernst selbst; sie hat vom directen Idealismus, in dessen Gebiet das einfach Ernste (wie es z. B. im weniger kunstreichern vollen Chor- gesange sich darstellt) gehört, nur das Element der strengen Einheit und Gesetzmäßigkeit, in der Hauptsache aber gehört sie dem indirecten Idealis- mus an, indem ihr ästhetischer Eindruck doch erst aus der Totalität der in ihr vereinigten und nur in der Vereinigung wirksamen Elemente entspringt; es fehlt ihr wie die einfache Formschönheit so die ruhige Erhabenheit, sie hat architectonische Gemessenheit der Construction, aber nicht ruhige archi- tectonische Haltung, sie ist lebendige Erregungs-, nicht an sich haltende Stimmungsmusik.
Dem Werth der Fuge, den sie an ihrem Orte hat, soll durch diese Bemerkungen nicht das Geringste entzogen werden; es gibt Vieles, was nur die Fuge aussprechen und malen kann, und sie wird nie veralten, so lange die Musik nicht aufhören wird, mit ernsten Dingen und insbeson- dere mit massenbewegenden Empfindungen sich zu befassen. Aber wie diese nicht das Einzige sind, wie es neben ihnen mit gleichem Rechte einerseits auch einen erhaben ruhigen Ernst und andrerseits einen unabsehbaren Kreis frei sich ergehender individueller Gefühle gibt, so ist auch die Fuge nur eine der vielen Formen der Musik, die nicht einseitig gepflegt und geschätzt werden darf, und wie jene "ernsten Erregungen" psychologisch schon ganz auf dem Uebergange von der ernsten Stimmung zu einer eben ganz unruhig werden wollenden Beweglichkeit stehen, so ist auch die Fuge diese Mitte zwischen gemessener Einheit und lebendiger Mannigfaltigkeit, die beide Ele- mente schon in Spannung gegen einander zeigt und daher bereits auf andere Kunstformen hinausweist, in welchen diese Spannung durch Freilassung der Mannigfaltigkeit sich wiederum lösen muß.
§. 785.
Wie bei Rhythmus und Harmonie, so tritt auch bei der polyphonen Musik der Unterschied einer strengern und freiern Behandlung ein, durch welche letztere diese Musikform aus den engen Grenzen ihrer Gattung heraustritt und auch für andere, freiere Musikgattungen anwendbar wird.
Schon bei der Nachahmung wurde darauf hingewiesen, daß sie der mannigfaltigsten Anwendungen und Formen fähig sei; es ist dieß der Fall, sofern sie theils nach Belieben vorübergehend an jeder passenden Stelle eines sonst ganz frei sich bewegenden Tonstücks gebraucht werden kann, theils auch sie selbst nicht nothwendig "streng" sein muß, indem sie sich
Ernſte und Gewichtige iſt ſie nicht die geeignete Form; dafür iſt ſie wie- derum zu unruhig und bewegt; ſie iſt Erregtheit durch etwas Ernſtes, aber nicht der Ernſt ſelbſt; ſie hat vom directen Idealiſmus, in deſſen Gebiet das einfach Ernſte (wie es z. B. im weniger kunſtreichern vollen Chor- geſange ſich darſtellt) gehört, nur das Element der ſtrengen Einheit und Geſetzmäßigkeit, in der Hauptſache aber gehört ſie dem indirecten Idealis- mus an, indem ihr äſthetiſcher Eindruck doch erſt aus der Totalität der in ihr vereinigten und nur in der Vereinigung wirkſamen Elemente entſpringt; es fehlt ihr wie die einfache Formſchönheit ſo die ruhige Erhabenheit, ſie hat architectoniſche Gemeſſenheit der Conſtruction, aber nicht ruhige archi- tectoniſche Haltung, ſie iſt lebendige Erregungs-, nicht an ſich haltende Stimmungsmuſik.
Dem Werth der Fuge, den ſie an ihrem Orte hat, ſoll durch dieſe Bemerkungen nicht das Geringſte entzogen werden; es gibt Vieles, was nur die Fuge ausſprechen und malen kann, und ſie wird nie veralten, ſo lange die Muſik nicht aufhören wird, mit ernſten Dingen und insbeſon- dere mit maſſenbewegenden Empfindungen ſich zu befaſſen. Aber wie dieſe nicht das Einzige ſind, wie es neben ihnen mit gleichem Rechte einerſeits auch einen erhaben ruhigen Ernſt und andrerſeits einen unabſehbaren Kreis frei ſich ergehender individueller Gefühle gibt, ſo iſt auch die Fuge nur eine der vielen Formen der Muſik, die nicht einſeitig gepflegt und geſchätzt werden darf, und wie jene „ernſten Erregungen“ pſychologiſch ſchon ganz auf dem Uebergange von der ernſten Stimmung zu einer eben ganz unruhig werden wollenden Beweglichkeit ſtehen, ſo iſt auch die Fuge dieſe Mitte zwiſchen gemeſſener Einheit und lebendiger Mannigfaltigkeit, die beide Ele- mente ſchon in Spannung gegen einander zeigt und daher bereits auf andere Kunſtformen hinausweist, in welchen dieſe Spannung durch Freilaſſung der Mannigfaltigkeit ſich wiederum löſen muß.
§. 785.
Wie bei Rhythmus und Harmonie, ſo tritt auch bei der polyphonen Muſik der Unterſchied einer ſtrengern und freiern Behandlung ein, durch welche letztere dieſe Muſikform aus den engen Grenzen ihrer Gattung heraustritt und auch für andere, freiere Muſikgattungen anwendbar wird.
Schon bei der Nachahmung wurde darauf hingewieſen, daß ſie der mannigfaltigſten Anwendungen und Formen fähig ſei; es iſt dieß der Fall, ſofern ſie theils nach Belieben vorübergehend an jeder paſſenden Stelle eines ſonſt ganz frei ſich bewegenden Tonſtücks gebraucht werden kann, theils auch ſie ſelbſt nicht nothwendig „ſtreng“ ſein muß, indem ſie ſich
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><hirendition="#et"><pbn="948"facs="#f0186"/>
Ernſte und Gewichtige iſt ſie nicht die geeignete Form; dafür iſt ſie wie-<lb/>
derum zu unruhig und bewegt; ſie iſt Erregtheit durch etwas Ernſtes, aber<lb/>
nicht der Ernſt ſelbſt; ſie hat vom directen Idealiſmus, in deſſen Gebiet<lb/>
das einfach Ernſte (wie es z. B. im weniger kunſtreichern vollen Chor-<lb/>
geſange ſich darſtellt) gehört, nur das Element der ſtrengen Einheit und<lb/>
Geſetzmäßigkeit, in der Hauptſache aber gehört ſie dem indirecten Idealis-<lb/>
mus an, indem ihr äſthetiſcher Eindruck doch erſt aus der Totalität der in<lb/>
ihr vereinigten und nur in der Vereinigung wirkſamen Elemente entſpringt;<lb/>
es fehlt ihr wie die einfache Formſchönheit ſo die ruhige Erhabenheit, ſie<lb/>
hat architectoniſche Gemeſſenheit der Conſtruction, aber nicht ruhige archi-<lb/>
tectoniſche Haltung, ſie iſt lebendige Erregungs-, nicht an ſich haltende<lb/>
Stimmungsmuſik.</hi></p><lb/><p><hirendition="#et">Dem Werth der Fuge, den ſie an ihrem Orte hat, ſoll durch dieſe<lb/>
Bemerkungen nicht das Geringſte entzogen werden; es gibt Vieles, was<lb/>
nur die Fuge ausſprechen und malen kann, und ſie wird nie veralten, ſo<lb/>
lange die Muſik nicht aufhören wird, mit ernſten Dingen und insbeſon-<lb/>
dere mit maſſenbewegenden Empfindungen ſich zu befaſſen. Aber wie dieſe<lb/>
nicht das Einzige ſind, wie es neben ihnen mit gleichem Rechte einerſeits<lb/>
auch einen erhaben ruhigen Ernſt und andrerſeits einen unabſehbaren Kreis<lb/>
frei ſich ergehender individueller Gefühle gibt, ſo iſt auch die Fuge nur eine<lb/>
der vielen Formen der Muſik, die nicht einſeitig gepflegt und geſchätzt<lb/>
werden darf, und wie jene „ernſten Erregungen“ pſychologiſch ſchon ganz<lb/>
auf dem Uebergange von der ernſten Stimmung zu einer eben ganz unruhig<lb/>
werden wollenden Beweglichkeit ſtehen, ſo iſt auch die Fuge dieſe Mitte<lb/>
zwiſchen gemeſſener Einheit und lebendiger Mannigfaltigkeit, die beide Ele-<lb/>
mente ſchon in Spannung gegen einander zeigt und daher bereits auf andere<lb/>
Kunſtformen hinausweist, in welchen dieſe Spannung durch Freilaſſung<lb/>
der Mannigfaltigkeit ſich wiederum löſen muß.</hi></p></div><lb/><divn="4"><head>§. 785.</head><lb/><p><hirendition="#fr">Wie bei Rhythmus und Harmonie, ſo tritt auch bei der polyphonen Muſik<lb/>
der Unterſchied einer <hirendition="#g">ſtrengern und freiern Behandlung</hi> ein, durch welche<lb/>
letztere dieſe Muſikform aus den engen Grenzen ihrer Gattung heraustritt und<lb/>
auch für andere, freiere Muſikgattungen anwendbar wird.</hi></p><lb/><p><hirendition="#et">Schon bei der <hirendition="#g">Nachahmung</hi> wurde darauf hingewieſen, daß ſie<lb/>
der mannigfaltigſten Anwendungen und Formen fähig ſei; es iſt dieß der<lb/>
Fall, ſofern ſie theils nach Belieben vorübergehend an jeder paſſenden Stelle<lb/>
eines ſonſt ganz frei ſich bewegenden Tonſtücks gebraucht werden kann,<lb/>
theils auch ſie ſelbſt nicht nothwendig „ſtreng“ſein muß, indem ſie ſich<lb/></hi></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[948/0186]
Ernſte und Gewichtige iſt ſie nicht die geeignete Form; dafür iſt ſie wie-
derum zu unruhig und bewegt; ſie iſt Erregtheit durch etwas Ernſtes, aber
nicht der Ernſt ſelbſt; ſie hat vom directen Idealiſmus, in deſſen Gebiet
das einfach Ernſte (wie es z. B. im weniger kunſtreichern vollen Chor-
geſange ſich darſtellt) gehört, nur das Element der ſtrengen Einheit und
Geſetzmäßigkeit, in der Hauptſache aber gehört ſie dem indirecten Idealis-
mus an, indem ihr äſthetiſcher Eindruck doch erſt aus der Totalität der in
ihr vereinigten und nur in der Vereinigung wirkſamen Elemente entſpringt;
es fehlt ihr wie die einfache Formſchönheit ſo die ruhige Erhabenheit, ſie
hat architectoniſche Gemeſſenheit der Conſtruction, aber nicht ruhige archi-
tectoniſche Haltung, ſie iſt lebendige Erregungs-, nicht an ſich haltende
Stimmungsmuſik.
Dem Werth der Fuge, den ſie an ihrem Orte hat, ſoll durch dieſe
Bemerkungen nicht das Geringſte entzogen werden; es gibt Vieles, was
nur die Fuge ausſprechen und malen kann, und ſie wird nie veralten, ſo
lange die Muſik nicht aufhören wird, mit ernſten Dingen und insbeſon-
dere mit maſſenbewegenden Empfindungen ſich zu befaſſen. Aber wie dieſe
nicht das Einzige ſind, wie es neben ihnen mit gleichem Rechte einerſeits
auch einen erhaben ruhigen Ernſt und andrerſeits einen unabſehbaren Kreis
frei ſich ergehender individueller Gefühle gibt, ſo iſt auch die Fuge nur eine
der vielen Formen der Muſik, die nicht einſeitig gepflegt und geſchätzt
werden darf, und wie jene „ernſten Erregungen“ pſychologiſch ſchon ganz
auf dem Uebergange von der ernſten Stimmung zu einer eben ganz unruhig
werden wollenden Beweglichkeit ſtehen, ſo iſt auch die Fuge dieſe Mitte
zwiſchen gemeſſener Einheit und lebendiger Mannigfaltigkeit, die beide Ele-
mente ſchon in Spannung gegen einander zeigt und daher bereits auf andere
Kunſtformen hinausweist, in welchen dieſe Spannung durch Freilaſſung
der Mannigfaltigkeit ſich wiederum löſen muß.
§. 785.
Wie bei Rhythmus und Harmonie, ſo tritt auch bei der polyphonen Muſik
der Unterſchied einer ſtrengern und freiern Behandlung ein, durch welche
letztere dieſe Muſikform aus den engen Grenzen ihrer Gattung heraustritt und
auch für andere, freiere Muſikgattungen anwendbar wird.
Schon bei der Nachahmung wurde darauf hingewieſen, daß ſie
der mannigfaltigſten Anwendungen und Formen fähig ſei; es iſt dieß der
Fall, ſofern ſie theils nach Belieben vorübergehend an jeder paſſenden Stelle
eines ſonſt ganz frei ſich bewegenden Tonſtücks gebraucht werden kann,
theils auch ſie ſelbſt nicht nothwendig „ſtreng“ ſein muß, indem ſie ſich
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 948. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/186>, abgerufen am 04.03.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.