auch concretere rhythmische Verhältnisse ein; da der bewegtere charakteristisch- melodische Gang an die Stimmen sich abwechselnd vertheilt, so ergibt sich von selbst, daß die eine Stimme, nachdem sie denselben an die andere ab- gegeben hat, eine zuwartende, aushaltende, mehr begleitende Stellung einnimmt, bis die Fortführung der Melodie wieder an sie kommt u. s. f. Einer bestimmteren methodischen Behandlung unterliegen diese zwei Arten der Stimmenverbindung der Natur der Sache nach nicht, da es sich bei ihnen ganz nur um das Einfache handelt, einander ablösende oder in ein- ander eingreifende Stimmen zu erfinden; aber obwohl in Folge hievon diese Stimmführung weit weniger Gegenstand der Musikwissenschaft ist, als die künstlichern polyphonen Formen, so sind sie dessen ungeachtet von der größten Wichtigkeit in der Praxis, sie stellen der Homophonie ein Entsprechen, ein Hinundhergehen, ein Ineinanderfließen, kurz eine lebendige Verkettung und Wechselwirkung der Stimmen gegenüber, welche mit dem gewichtigern Ein- druck des bereits Kunstvollern die Klarheit des immer noch einfach Schönen ansprechend verbindet.
§. 783.
Die vollständig entwickelte Polyphonie realisirt sich zunächst in zwei Haupt- formen, Contrapunct und Nachahmung, die sich dadurch unterscheiden, daß die erste Stimmen mit verschiedenen Melodieen einander gegenüberstellt, die zweite aber dieselbe Melodie oder dieselben melodischen Sätze an verschiedene und zu verschiedenen Zeiten eintretende Stimmen vertheilt.
Die bei der §. 782 betrachteten Form der Stimmverflechtung ver- loren gegangene Selbständigkeit der Einzelstimmen wird hergestellt, wenn jede Stimme Melodie für sich ist und doch alle zusammen ein Ganzes, eine harmonische Verknüpfung oder Verflechtung von Melodieen bilden. Auch hier sind nämlich Verknüpfung und Verflechtung, nur von anderer Art, zu unterscheiden. Melodieenverknüpfung ist ein Nacheinander von Melodieen oder melodischen Sätzen, von der in §. 782 besprochenen Verknüpfung melodischer Bruchtheile dadurch verschieden, daß es hier größere selbständige melodische Sätze oder geradezu ganze Melodieen sind, die mit einander ver- einigt werden, einander antworten und einander ablösen (wie häufig in Duetten, Terzetten u. s. w.); jeder Satz tönt für sich, läßt hierauf den andern folgen, wiederholt sich oder setzt sich fort, nachdem der andere ver- klungen ist u. s. w., so daß das Ganze wie eine Kette von Ringen erscheint, die in schönem Wechsel sich an einander reihen. Das Wesen der Polyphonie ist hierin freilich beinahe ganz zurückgetreten, indem die verschiedenen Stimmen nur an einzelnen Knotenpuncten, nämlich in den Takten, in welchen sie einander ablösen, vorübergehend gleichzeitig ertönen; ja selbst dieses Letztere
auch concretere rhythmiſche Verhältniſſe ein; da der bewegtere charakteriſtiſch- melodiſche Gang an die Stimmen ſich abwechſelnd vertheilt, ſo ergibt ſich von ſelbſt, daß die eine Stimme, nachdem ſie denſelben an die andere ab- gegeben hat, eine zuwartende, aushaltende, mehr begleitende Stellung einnimmt, bis die Fortführung der Melodie wieder an ſie kommt u. ſ. f. Einer beſtimmteren methodiſchen Behandlung unterliegen dieſe zwei Arten der Stimmenverbindung der Natur der Sache nach nicht, da es ſich bei ihnen ganz nur um das Einfache handelt, einander ablöſende oder in ein- ander eingreifende Stimmen zu erfinden; aber obwohl in Folge hievon dieſe Stimmführung weit weniger Gegenſtand der Muſikwiſſenſchaft iſt, als die künſtlichern polyphonen Formen, ſo ſind ſie deſſen ungeachtet von der größten Wichtigkeit in der Praxis, ſie ſtellen der Homophonie ein Entſprechen, ein Hinundhergehen, ein Ineinanderfließen, kurz eine lebendige Verkettung und Wechſelwirkung der Stimmen gegenüber, welche mit dem gewichtigern Ein- druck des bereits Kunſtvollern die Klarheit des immer noch einfach Schönen anſprechend verbindet.
§. 783.
Die vollſtändig entwickelte Polyphonie realiſirt ſich zunächſt in zwei Haupt- formen, Contrapunct und Nachahmung, die ſich dadurch unterſcheiden, daß die erſte Stimmen mit verſchiedenen Melodieen einander gegenüberſtellt, die zweite aber dieſelbe Melodie oder dieſelben melodiſchen Sätze an verſchiedene und zu verſchiedenen Zeiten eintretende Stimmen vertheilt.
Die bei der §. 782 betrachteten Form der Stimmverflechtung ver- loren gegangene Selbſtändigkeit der Einzelſtimmen wird hergeſtellt, wenn jede Stimme Melodie für ſich iſt und doch alle zuſammen ein Ganzes, eine harmoniſche Verknüpfung oder Verflechtung von Melodieen bilden. Auch hier ſind nämlich Verknüpfung und Verflechtung, nur von anderer Art, zu unterſcheiden. Melodieenverknüpfung iſt ein Nacheinander von Melodieen oder melodiſchen Sätzen, von der in §. 782 beſprochenen Verknüpfung melodiſcher Bruchtheile dadurch verſchieden, daß es hier größere ſelbſtändige melodiſche Sätze oder geradezu ganze Melodieen ſind, die mit einander ver- einigt werden, einander antworten und einander ablöſen (wie häufig in Duetten, Terzetten u. ſ. w.); jeder Satz tönt für ſich, läßt hierauf den andern folgen, wiederholt ſich oder ſetzt ſich fort, nachdem der andere ver- klungen iſt u. ſ. w., ſo daß das Ganze wie eine Kette von Ringen erſcheint, die in ſchönem Wechſel ſich an einander reihen. Das Weſen der Polyphonie iſt hierin freilich beinahe ganz zurückgetreten, indem die verſchiedenen Stimmen nur an einzelnen Knotenpuncten, nämlich in den Takten, in welchen ſie einander ablöſen, vorübergehend gleichzeitig ertönen; ja ſelbſt dieſes Letztere
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[938/0176]
auch concretere rhythmiſche Verhältniſſe ein; da der bewegtere charakteriſtiſch-
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von ſelbſt, daß die eine Stimme, nachdem ſie denſelben an die andere ab-
gegeben hat, eine zuwartende, aushaltende, mehr begleitende Stellung
einnimmt, bis die Fortführung der Melodie wieder an ſie kommt u. ſ. f.
Einer beſtimmteren methodiſchen Behandlung unterliegen dieſe zwei Arten
der Stimmenverbindung der Natur der Sache nach nicht, da es ſich bei
ihnen ganz nur um das Einfache handelt, einander ablöſende oder in ein-
ander eingreifende Stimmen zu erfinden; aber obwohl in Folge hievon dieſe
Stimmführung weit weniger Gegenſtand der Muſikwiſſenſchaft iſt, als die
künſtlichern polyphonen Formen, ſo ſind ſie deſſen ungeachtet von der größten
Wichtigkeit in der Praxis, ſie ſtellen der Homophonie ein Entſprechen, ein
Hinundhergehen, ein Ineinanderfließen, kurz eine lebendige Verkettung und
Wechſelwirkung der Stimmen gegenüber, welche mit dem gewichtigern Ein-
druck des bereits Kunſtvollern die Klarheit des immer noch einfach Schönen
anſprechend verbindet.
§. 783.
Die vollſtändig entwickelte Polyphonie realiſirt ſich zunächſt in zwei Haupt-
formen, Contrapunct und Nachahmung, die ſich dadurch unterſcheiden,
daß die erſte Stimmen mit verſchiedenen Melodieen einander gegenüberſtellt,
die zweite aber dieſelbe Melodie oder dieſelben melodiſchen Sätze an verſchiedene
und zu verſchiedenen Zeiten eintretende Stimmen vertheilt.
Die bei der §. 782 betrachteten Form der Stimmverflechtung ver-
loren gegangene Selbſtändigkeit der Einzelſtimmen wird hergeſtellt, wenn
jede Stimme Melodie für ſich iſt und doch alle zuſammen ein Ganzes, eine
harmoniſche Verknüpfung oder Verflechtung von Melodieen bilden. Auch
hier ſind nämlich Verknüpfung und Verflechtung, nur von anderer Art, zu
unterſcheiden. Melodieenverknüpfung iſt ein Nacheinander von Melodieen
oder melodiſchen Sätzen, von der in §. 782 beſprochenen Verknüpfung
melodiſcher Bruchtheile dadurch verſchieden, daß es hier größere ſelbſtändige
melodiſche Sätze oder geradezu ganze Melodieen ſind, die mit einander ver-
einigt werden, einander antworten und einander ablöſen (wie häufig in
Duetten, Terzetten u. ſ. w.); jeder Satz tönt für ſich, läßt hierauf den
andern folgen, wiederholt ſich oder ſetzt ſich fort, nachdem der andere ver-
klungen iſt u. ſ. w., ſo daß das Ganze wie eine Kette von Ringen erſcheint,
die in ſchönem Wechſel ſich an einander reihen. Das Weſen der Polyphonie
iſt hierin freilich beinahe ganz zurückgetreten, indem die verſchiedenen Stimmen
nur an einzelnen Knotenpuncten, nämlich in den Takten, in welchen ſie
einander ablöſen, vorübergehend gleichzeitig ertönen; ja ſelbſt dieſes Letztere
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 938. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/176>, abgerufen am 21.11.2024.
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