hinundherfahrende, in Tönen herumwühlende Lebendigkeit ohne Gliederung, ohne Ausgestaltung selbständiger, sich gegen einander abhebender Gedanken- gruppen, keine Gliederung ohne Lebendigkeit, keine einseitige Erregtheit ohne besonnenes Zurückstreben zur Ruhe, dieß sind auch in der Musik Grund- gesetze, die nie veralten, sondern immer nur in neuen Formen angewendet werden können.
Natürliche, fließende, Einheit in's Ganze bringende Fort- und Ueber- gänge zwischen den größern und kleinern Theilen, trotz aller Absonderung und Gliederung, verstehen sich von selbst. Dieses Moment mußte aber doch besonders erwähnt werden; denn namentlich im zweiten Theil, wo das Tonstück vom bewegteren Gang zum beruhigtern und oft geradezu zur Wiederholung von Sätzen des ersten zurücklenkt, ist es von großer Wich- tigkeit, daß dieses Zurücklenken durch passende Uebergänge, z. B. von der ersten Periode des zweiten Theils zur zweiten, das Ganze abschließenden gehörig motivirt und ausgeführt erscheine. Die Uebergänge sind, obwohl schon mehr in größern Werken, kaum minder wichtig und schwierig als die Schlüsse; ob der Componist das Tonmaterial wirklich beherrscht, dieses muß sich ganz besonders daran zeigen, ob er im Stande ist, Uebergänge einzu- führen und zu bilden, welche wie in melodischer Beziehung so rücksichtlich des Bewegungsrhythmus des Tonwerks deutlich umlenken, ohne doch irgend schroff oder willkürlich abzubrechen, und fließend weiter leiten, ohne an dem bestimmten Eindruck, daß das Einschlagen einer andern Richtung oder der Rückgang zu schon Dagewesenem sich vorbereite, irgend etwas vermissen zu lassen.
§. 781.
Die Harmonie, welche die Melodie begleitet, zerfällt in mehrere, höhere und niedere Stimmen, deren Gang seiner Bezogenheit auf die Melodie unge- achtet sehr mannigfaltig sein und daher auch mit einer gewissen, der Melodie analogen charakteristischen Selbständigkeit ausgestattet werden kann. An diese Selbständigkeit der Einzelstimmen knüpft sich die Entstehung der ersten über die einfache Melodie hinausgehenden Form des zusammengesetzten musika- lischen Kunstwerks, die Entstehung der polyphonen Musik im Gegensatz zur homophonen.
Die Melodie ist die Grundform der Musik; aber sie tritt zugleich, worauf schon §. 779 mehrfach hinwies, als eigene Form, als "einfache Melodie" andern und reichern Formen der Musik gegenüber, sofern das Wesen der Musik einen Fortschritt über die einfache Melodie hinaus zu entwickeltern und zusammengesetztern melodischen und melodiösen Compo- sitionen fordert, wenn sie nicht abstract eintönig werden und auf zu enge,
hinundherfahrende, in Tönen herumwühlende Lebendigkeit ohne Gliederung, ohne Ausgeſtaltung ſelbſtändiger, ſich gegen einander abhebender Gedanken- gruppen, keine Gliederung ohne Lebendigkeit, keine einſeitige Erregtheit ohne beſonnenes Zurückſtreben zur Ruhe, dieß ſind auch in der Muſik Grund- geſetze, die nie veralten, ſondern immer nur in neuen Formen angewendet werden können.
Natürliche, fließende, Einheit in’s Ganze bringende Fort- und Ueber- gänge zwiſchen den größern und kleinern Theilen, trotz aller Abſonderung und Gliederung, verſtehen ſich von ſelbſt. Dieſes Moment mußte aber doch beſonders erwähnt werden; denn namentlich im zweiten Theil, wo das Tonſtück vom bewegteren Gang zum beruhigtern und oft geradezu zur Wiederholung von Sätzen des erſten zurücklenkt, iſt es von großer Wich- tigkeit, daß dieſes Zurücklenken durch paſſende Uebergänge, z. B. von der erſten Periode des zweiten Theils zur zweiten, das Ganze abſchließenden gehörig motivirt und ausgeführt erſcheine. Die Uebergänge ſind, obwohl ſchon mehr in größern Werken, kaum minder wichtig und ſchwierig als die Schlüſſe; ob der Componiſt das Tonmaterial wirklich beherrſcht, dieſes muß ſich ganz beſonders daran zeigen, ob er im Stande iſt, Uebergänge einzu- führen und zu bilden, welche wie in melodiſcher Beziehung ſo rückſichtlich des Bewegungsrhythmus des Tonwerks deutlich umlenken, ohne doch irgend ſchroff oder willkürlich abzubrechen, und fließend weiter leiten, ohne an dem beſtimmten Eindruck, daß das Einſchlagen einer andern Richtung oder der Rückgang zu ſchon Dageweſenem ſich vorbereite, irgend etwas vermiſſen zu laſſen.
§. 781.
Die Harmonie, welche die Melodie begleitet, zerfällt in mehrere, höhere und niedere Stimmen, deren Gang ſeiner Bezogenheit auf die Melodie unge- achtet ſehr mannigfaltig ſein und daher auch mit einer gewiſſen, der Melodie analogen charakteriſtiſchen Selbſtändigkeit ausgeſtattet werden kann. An dieſe Selbſtändigkeit der Einzelſtimmen knüpft ſich die Entſtehung der erſten über die einfache Melodie hinausgehenden Form des zuſammengeſetzten muſika- liſchen Kunſtwerks, die Entſtehung der polyphonen Muſik im Gegenſatz zur homophonen.
Die Melodie iſt die Grundform der Muſik; aber ſie tritt zugleich, worauf ſchon §. 779 mehrfach hinwies, als eigene Form, als „einfache Melodie“ andern und reichern Formen der Muſik gegenüber, ſofern das Weſen der Muſik einen Fortſchritt über die einfache Melodie hinaus zu entwickeltern und zuſammengeſetztern melodiſchen und melodiöſen Compo- ſitionen fordert, wenn ſie nicht abſtract eintönig werden und auf zu enge,
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hinundherfahrende, in Tönen herumwühlende Lebendigkeit ohne Gliederung,
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beſonnenes Zurückſtreben zur Ruhe, dieß ſind auch in der Muſik Grund-
geſetze, die nie veralten, ſondern immer nur in neuen Formen angewendet
werden können.
Natürliche, fließende, Einheit in’s Ganze bringende Fort- und Ueber-
gänge zwiſchen den größern und kleinern Theilen, trotz aller Abſonderung
und Gliederung, verſtehen ſich von ſelbſt. Dieſes Moment mußte aber doch
beſonders erwähnt werden; denn namentlich im zweiten Theil, wo das
Tonſtück vom bewegteren Gang zum beruhigtern und oft geradezu zur
Wiederholung von Sätzen des erſten zurücklenkt, iſt es von großer Wich-
tigkeit, daß dieſes Zurücklenken durch paſſende Uebergänge, z. B. von der
erſten Periode des zweiten Theils zur zweiten, das Ganze abſchließenden
gehörig motivirt und ausgeführt erſcheine. Die Uebergänge ſind, obwohl
ſchon mehr in größern Werken, kaum minder wichtig und ſchwierig als die
Schlüſſe; ob der Componiſt das Tonmaterial wirklich beherrſcht, dieſes muß
ſich ganz beſonders daran zeigen, ob er im Stande iſt, Uebergänge einzu-
führen und zu bilden, welche wie in melodiſcher Beziehung ſo rückſichtlich
des Bewegungsrhythmus des Tonwerks deutlich umlenken, ohne doch irgend
ſchroff oder willkürlich abzubrechen, und fließend weiter leiten, ohne an dem
beſtimmten Eindruck, daß das Einſchlagen einer andern Richtung oder der
Rückgang zu ſchon Dageweſenem ſich vorbereite, irgend etwas vermiſſen zu
laſſen.
§. 781.
Die Harmonie, welche die Melodie begleitet, zerfällt in mehrere, höhere
und niedere Stimmen, deren Gang ſeiner Bezogenheit auf die Melodie unge-
achtet ſehr mannigfaltig ſein und daher auch mit einer gewiſſen, der Melodie
analogen charakteriſtiſchen Selbſtändigkeit ausgeſtattet werden kann. An dieſe
Selbſtändigkeit der Einzelſtimmen knüpft ſich die Entſtehung der erſten über die
einfache Melodie hinausgehenden Form des zuſammengeſetzten muſika-
liſchen Kunſtwerks, die Entſtehung der polyphonen Muſik im
Gegenſatz zur homophonen.
Die Melodie iſt die Grundform der Muſik; aber ſie tritt zugleich,
worauf ſchon §. 779 mehrfach hinwies, als eigene Form, als „einfache
Melodie“ andern und reichern Formen der Muſik gegenüber, ſofern das
Weſen der Muſik einen Fortſchritt über die einfache Melodie hinaus zu
entwickeltern und zuſammengeſetztern melodiſchen und melodiöſen Compo-
ſitionen fordert, wenn ſie nicht abſtract eintönig werden und auf zu enge,
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 932. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/170>, abgerufen am 21.11.2024.
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