Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

Bild:
<< vorherige Seite

hinundherfahrende, in Tönen herumwühlende Lebendigkeit ohne Gliederung,
ohne Ausgestaltung selbständiger, sich gegen einander abhebender Gedanken-
gruppen, keine Gliederung ohne Lebendigkeit, keine einseitige Erregtheit ohne
besonnenes Zurückstreben zur Ruhe, dieß sind auch in der Musik Grund-
gesetze, die nie veralten, sondern immer nur in neuen Formen angewendet
werden können.

Natürliche, fließende, Einheit in's Ganze bringende Fort- und Ueber-
gänge zwischen den größern und kleinern Theilen, trotz aller Absonderung
und Gliederung, verstehen sich von selbst. Dieses Moment mußte aber doch
besonders erwähnt werden; denn namentlich im zweiten Theil, wo das
Tonstück vom bewegteren Gang zum beruhigtern und oft geradezu zur
Wiederholung von Sätzen des ersten zurücklenkt, ist es von großer Wich-
tigkeit, daß dieses Zurücklenken durch passende Uebergänge, z. B. von der
ersten Periode des zweiten Theils zur zweiten, das Ganze abschließenden
gehörig motivirt und ausgeführt erscheine. Die Uebergänge sind, obwohl
schon mehr in größern Werken, kaum minder wichtig und schwierig als die
Schlüsse; ob der Componist das Tonmaterial wirklich beherrscht, dieses muß
sich ganz besonders daran zeigen, ob er im Stande ist, Uebergänge einzu-
führen und zu bilden, welche wie in melodischer Beziehung so rücksichtlich
des Bewegungsrhythmus des Tonwerks deutlich umlenken, ohne doch irgend
schroff oder willkürlich abzubrechen, und fließend weiter leiten, ohne an dem
bestimmten Eindruck, daß das Einschlagen einer andern Richtung oder der
Rückgang zu schon Dagewesenem sich vorbereite, irgend etwas vermissen zu
lassen.

§. 781.

Die Harmonie, welche die Melodie begleitet, zerfällt in mehrere, höhere
und niedere Stimmen, deren Gang seiner Bezogenheit auf die Melodie unge-
achtet sehr mannigfaltig sein und daher auch mit einer gewissen, der Melodie
analogen charakteristischen Selbständigkeit ausgestattet werden kann. An diese
Selbständigkeit der Einzelstimmen knüpft sich die Entstehung der ersten über die
einfache Melodie hinausgehenden Form des zusammengesetzten musika-
lischen Kunstwerks
, die Entstehung der polyphonen Musik im
Gegensatz zur homophonen.

Die Melodie ist die Grundform der Musik; aber sie tritt zugleich,
worauf schon §. 779 mehrfach hinwies, als eigene Form, als "einfache
Melodie" andern und reichern Formen der Musik gegenüber, sofern das
Wesen der Musik einen Fortschritt über die einfache Melodie hinaus zu
entwickeltern und zusammengesetztern melodischen und melodiösen Compo-
sitionen fordert, wenn sie nicht abstract eintönig werden und auf zu enge,

hinundherfahrende, in Tönen herumwühlende Lebendigkeit ohne Gliederung,
ohne Ausgeſtaltung ſelbſtändiger, ſich gegen einander abhebender Gedanken-
gruppen, keine Gliederung ohne Lebendigkeit, keine einſeitige Erregtheit ohne
beſonnenes Zurückſtreben zur Ruhe, dieß ſind auch in der Muſik Grund-
geſetze, die nie veralten, ſondern immer nur in neuen Formen angewendet
werden können.

Natürliche, fließende, Einheit in’s Ganze bringende Fort- und Ueber-
gänge zwiſchen den größern und kleinern Theilen, trotz aller Abſonderung
und Gliederung, verſtehen ſich von ſelbſt. Dieſes Moment mußte aber doch
beſonders erwähnt werden; denn namentlich im zweiten Theil, wo das
Tonſtück vom bewegteren Gang zum beruhigtern und oft geradezu zur
Wiederholung von Sätzen des erſten zurücklenkt, iſt es von großer Wich-
tigkeit, daß dieſes Zurücklenken durch paſſende Uebergänge, z. B. von der
erſten Periode des zweiten Theils zur zweiten, das Ganze abſchließenden
gehörig motivirt und ausgeführt erſcheine. Die Uebergänge ſind, obwohl
ſchon mehr in größern Werken, kaum minder wichtig und ſchwierig als die
Schlüſſe; ob der Componiſt das Tonmaterial wirklich beherrſcht, dieſes muß
ſich ganz beſonders daran zeigen, ob er im Stande iſt, Uebergänge einzu-
führen und zu bilden, welche wie in melodiſcher Beziehung ſo rückſichtlich
des Bewegungsrhythmus des Tonwerks deutlich umlenken, ohne doch irgend
ſchroff oder willkürlich abzubrechen, und fließend weiter leiten, ohne an dem
beſtimmten Eindruck, daß das Einſchlagen einer andern Richtung oder der
Rückgang zu ſchon Dageweſenem ſich vorbereite, irgend etwas vermiſſen zu
laſſen.

§. 781.

Die Harmonie, welche die Melodie begleitet, zerfällt in mehrere, höhere
und niedere Stimmen, deren Gang ſeiner Bezogenheit auf die Melodie unge-
achtet ſehr mannigfaltig ſein und daher auch mit einer gewiſſen, der Melodie
analogen charakteriſtiſchen Selbſtändigkeit ausgeſtattet werden kann. An dieſe
Selbſtändigkeit der Einzelſtimmen knüpft ſich die Entſtehung der erſten über die
einfache Melodie hinausgehenden Form des zuſammengeſetzten muſika-
liſchen Kunſtwerks
, die Entſtehung der polyphonen Muſik im
Gegenſatz zur homophonen.

Die Melodie iſt die Grundform der Muſik; aber ſie tritt zugleich,
worauf ſchon §. 779 mehrfach hinwies, als eigene Form, als „einfache
Melodie“ andern und reichern Formen der Muſik gegenüber, ſofern das
Weſen der Muſik einen Fortſchritt über die einfache Melodie hinaus zu
entwickeltern und zuſammengeſetztern melodiſchen und melodiöſen Compo-
ſitionen fordert, wenn ſie nicht abſtract eintönig werden und auf zu enge,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0170" n="932"/>
hinundherfahrende, in Tönen herumwühlende Lebendigkeit ohne Gliederung,<lb/>
ohne Ausge&#x017F;taltung &#x017F;elb&#x017F;tändiger, &#x017F;ich gegen einander abhebender Gedanken-<lb/>
gruppen, keine Gliederung ohne Lebendigkeit, keine ein&#x017F;eitige Erregtheit ohne<lb/>
be&#x017F;onnenes Zurück&#x017F;treben zur Ruhe, dieß &#x017F;ind auch in der Mu&#x017F;ik Grund-<lb/>
ge&#x017F;etze, die nie veralten, &#x017F;ondern immer nur in neuen Formen angewendet<lb/>
werden können.</hi> </p><lb/>
              <p> <hi rendition="#et">Natürliche, fließende, Einheit in&#x2019;s Ganze bringende Fort- und Ueber-<lb/>
gänge zwi&#x017F;chen den größern und kleinern Theilen, trotz aller Ab&#x017F;onderung<lb/>
und Gliederung, ver&#x017F;tehen &#x017F;ich von &#x017F;elb&#x017F;t. Die&#x017F;es Moment mußte aber doch<lb/>
be&#x017F;onders erwähnt werden; denn namentlich im zweiten Theil, wo das<lb/>
Ton&#x017F;tück vom bewegteren Gang zum beruhigtern und oft geradezu zur<lb/>
Wiederholung von Sätzen des er&#x017F;ten zurücklenkt, i&#x017F;t es von großer Wich-<lb/>
tigkeit, daß die&#x017F;es Zurücklenken durch pa&#x017F;&#x017F;ende Uebergänge, z. B. von der<lb/>
er&#x017F;ten Periode des zweiten Theils zur zweiten, das Ganze ab&#x017F;chließenden<lb/>
gehörig motivirt und ausgeführt er&#x017F;cheine. Die Uebergänge &#x017F;ind, obwohl<lb/>
&#x017F;chon mehr in größern Werken, kaum minder wichtig und &#x017F;chwierig als die<lb/>
Schlü&#x017F;&#x017F;e; ob der Componi&#x017F;t das Tonmaterial wirklich beherr&#x017F;cht, die&#x017F;es muß<lb/>
&#x017F;ich ganz be&#x017F;onders daran zeigen, ob er im Stande i&#x017F;t, Uebergänge einzu-<lb/>
führen und zu bilden, welche wie in melodi&#x017F;cher Beziehung &#x017F;o rück&#x017F;ichtlich<lb/>
des Bewegungsrhythmus des Tonwerks deutlich umlenken, ohne doch irgend<lb/>
&#x017F;chroff oder willkürlich abzubrechen, und fließend weiter leiten, ohne an dem<lb/>
be&#x017F;timmten Eindruck, daß das Ein&#x017F;chlagen einer andern Richtung oder der<lb/>
Rückgang zu &#x017F;chon Dagewe&#x017F;enem &#x017F;ich vorbereite, irgend etwas vermi&#x017F;&#x017F;en zu<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en.</hi> </p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 781.</head><lb/>
              <p> <hi rendition="#fr">Die Harmonie, welche die Melodie begleitet, zerfällt in mehrere, höhere<lb/>
und niedere Stimmen, deren Gang &#x017F;einer Bezogenheit auf die Melodie unge-<lb/>
achtet &#x017F;ehr mannigfaltig &#x017F;ein und daher auch mit einer gewi&#x017F;&#x017F;en, der Melodie<lb/>
analogen charakteri&#x017F;ti&#x017F;chen Selb&#x017F;tändigkeit ausge&#x017F;tattet werden kann. An die&#x017F;e<lb/>
Selb&#x017F;tändigkeit der Einzel&#x017F;timmen knüpft &#x017F;ich die Ent&#x017F;tehung der er&#x017F;ten über die<lb/>
einfache Melodie hinausgehenden Form <hi rendition="#g">des zu&#x017F;ammenge&#x017F;etzten mu&#x017F;ika-<lb/>
li&#x017F;chen Kun&#x017F;twerks</hi>, die Ent&#x017F;tehung der <hi rendition="#g">polyphonen Mu&#x017F;ik</hi> im<lb/>
Gegen&#x017F;atz zur homophonen.</hi> </p><lb/>
              <p> <hi rendition="#et">Die Melodie i&#x017F;t die Grundform der Mu&#x017F;ik; aber &#x017F;ie tritt zugleich,<lb/>
worauf &#x017F;chon §. 779 mehrfach hinwies, als eigene Form, als &#x201E;einfache<lb/>
Melodie&#x201C; andern und reichern Formen der Mu&#x017F;ik gegenüber, &#x017F;ofern das<lb/>
We&#x017F;en der Mu&#x017F;ik einen Fort&#x017F;chritt über die einfache Melodie hinaus zu<lb/>
entwickeltern und zu&#x017F;ammenge&#x017F;etztern melodi&#x017F;chen und melodiö&#x017F;en Compo-<lb/>
&#x017F;itionen fordert, wenn &#x017F;ie nicht ab&#x017F;tract eintönig werden und auf zu enge,<lb/></hi> </p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[932/0170] hinundherfahrende, in Tönen herumwühlende Lebendigkeit ohne Gliederung, ohne Ausgeſtaltung ſelbſtändiger, ſich gegen einander abhebender Gedanken- gruppen, keine Gliederung ohne Lebendigkeit, keine einſeitige Erregtheit ohne beſonnenes Zurückſtreben zur Ruhe, dieß ſind auch in der Muſik Grund- geſetze, die nie veralten, ſondern immer nur in neuen Formen angewendet werden können. Natürliche, fließende, Einheit in’s Ganze bringende Fort- und Ueber- gänge zwiſchen den größern und kleinern Theilen, trotz aller Abſonderung und Gliederung, verſtehen ſich von ſelbſt. Dieſes Moment mußte aber doch beſonders erwähnt werden; denn namentlich im zweiten Theil, wo das Tonſtück vom bewegteren Gang zum beruhigtern und oft geradezu zur Wiederholung von Sätzen des erſten zurücklenkt, iſt es von großer Wich- tigkeit, daß dieſes Zurücklenken durch paſſende Uebergänge, z. B. von der erſten Periode des zweiten Theils zur zweiten, das Ganze abſchließenden gehörig motivirt und ausgeführt erſcheine. Die Uebergänge ſind, obwohl ſchon mehr in größern Werken, kaum minder wichtig und ſchwierig als die Schlüſſe; ob der Componiſt das Tonmaterial wirklich beherrſcht, dieſes muß ſich ganz beſonders daran zeigen, ob er im Stande iſt, Uebergänge einzu- führen und zu bilden, welche wie in melodiſcher Beziehung ſo rückſichtlich des Bewegungsrhythmus des Tonwerks deutlich umlenken, ohne doch irgend ſchroff oder willkürlich abzubrechen, und fließend weiter leiten, ohne an dem beſtimmten Eindruck, daß das Einſchlagen einer andern Richtung oder der Rückgang zu ſchon Dageweſenem ſich vorbereite, irgend etwas vermiſſen zu laſſen. §. 781. Die Harmonie, welche die Melodie begleitet, zerfällt in mehrere, höhere und niedere Stimmen, deren Gang ſeiner Bezogenheit auf die Melodie unge- achtet ſehr mannigfaltig ſein und daher auch mit einer gewiſſen, der Melodie analogen charakteriſtiſchen Selbſtändigkeit ausgeſtattet werden kann. An dieſe Selbſtändigkeit der Einzelſtimmen knüpft ſich die Entſtehung der erſten über die einfache Melodie hinausgehenden Form des zuſammengeſetzten muſika- liſchen Kunſtwerks, die Entſtehung der polyphonen Muſik im Gegenſatz zur homophonen. Die Melodie iſt die Grundform der Muſik; aber ſie tritt zugleich, worauf ſchon §. 779 mehrfach hinwies, als eigene Form, als „einfache Melodie“ andern und reichern Formen der Muſik gegenüber, ſofern das Weſen der Muſik einen Fortſchritt über die einfache Melodie hinaus zu entwickeltern und zuſammengeſetztern melodiſchen und melodiöſen Compo- ſitionen fordert, wenn ſie nicht abſtract eintönig werden und auf zu enge,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/170
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 932. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/170>, abgerufen am 21.11.2024.