2. Die chromatische Leiter, die sich in Halbtönen auf- und ab- wärts bewegt, kann der in Ganz- und Halbtönen gehenden, "diatonischen" gegenüber nur eine Nebenart sein. Sie ist theils zu indifferent, weil in ihr Alles gleich ist und namentlich die Intervallverhältnisse sich ganz verwischen, theils nicht von freier und rüstiger Bewegung; es drängt sich in ihr Alles zusammen, will nicht recht auseinander; es ist eine Linie, die sich fort- während in kleinsten Windungen schlängelt, ohne je auch zu einer einfach decidirten geradausgehenden Bewegung zu kommen; es ist die abstracte Leiter, die das Prinzip der Continuität übertreibt, die nur kleine, gleich zugemessene Schritte machen will. Natürlich kann die chromatische Leiter ebendarum für gewisse Zwecke sehr bezeichnend und wirksam sein. Das einerseits nicht recht von der Stelle wollende, andererseits trotz des erschwerten Fortgangs unauf- haltsam vor sich gehende Fortrücken, Fortdrücken und Fortschieben eignet sich trefflich, ein langsames Austönen einer innigen, von sich selbst nur mit Mühe, mit Bedacht loskommenden Empfindung (so am Schluß des zweiten Satzes des Beethoven'schen Septetts), oder ein gewaltsames, dringliches Hinausstreben zu einem Abschluß, oder ein mächtiges Herandringen eines Affectes, einer Seelenbewegung, auch Verwunderung, die nicht recht von der Stelle kommt, Furcht, die sich nicht zu rühren wagt, auszudrücken (wie z. B. im Sextett des Don Juan das Chromatische in mehrfachen Beziehungen dieser Art angewandt ist). Außerdem aber kann die chroma- tische Leiter, für sich oder mit der diatonischen combinirt, wegen ihrer Klein- theiligkeit auch den mehr formellen Eindruck des Zierlichen, Feinen, des zierlich Fortfließenden und Fortrollenden hervorbringen; nach dieser Seite, als figurirendes, ornamentisches Element, hat sie namentlich für die In- strummentalmusik Bedeutung, welche um der Formenmannigfaltigkeit willen, die ihr Gesetz ist, nicht immer auf die diatonische Leiter oder Melodie sich beschränken kann. Die chromatische Tonleiter ist vollständiger als die diatonische, sie enthält alle überhaupt zur Anwendung kommenden Töne, sie ist das ganz in seine kleinsten Theile zerlegte Tonsystem, das Tonsystem als abstracte, unterschiedslose, aber überall stetig in sich zusammengehaltene, ihre Glieder wie an einer Perlenschnur engst aneinander reihende Tonfolge; darin liegt sowohl ihre Einseitigkeit als ihre Eigenthümlichkeit.
§. 772.
Der innere Unterschied des Dur und Moll ist so wesentlich, daß jede der beiden Tonweisen eine eigene Art von Tonsystem, ein eigenes Tongeschlecht, begründet. Beide Tongeschlechter haben ihre Berechtigung und charakteristische Bedeutung; aber Dur ist nicht nur das kräftigere und freiere, sondern auch das einfachere, naturgemäßere, einer weit umfassendern Anwendung fähige
2. Die chromatiſche Leiter, die ſich in Halbtönen auf- und ab- wärts bewegt, kann der in Ganz- und Halbtönen gehenden, „diatoniſchen“ gegenüber nur eine Nebenart ſein. Sie iſt theils zu indifferent, weil in ihr Alles gleich iſt und namentlich die Intervallverhältniſſe ſich ganz verwiſchen, theils nicht von freier und rüſtiger Bewegung; es drängt ſich in ihr Alles zuſammen, will nicht recht auseinander; es iſt eine Linie, die ſich fort- während in kleinſten Windungen ſchlängelt, ohne je auch zu einer einfach decidirten geradausgehenden Bewegung zu kommen; es iſt die abſtracte Leiter, die das Prinzip der Continuität übertreibt, die nur kleine, gleich zugemeſſene Schritte machen will. Natürlich kann die chromatiſche Leiter ebendarum für gewiſſe Zwecke ſehr bezeichnend und wirkſam ſein. Das einerſeits nicht recht von der Stelle wollende, andererſeits trotz des erſchwerten Fortgangs unauf- haltſam vor ſich gehende Fortrücken, Fortdrücken und Fortſchieben eignet ſich trefflich, ein langſames Austönen einer innigen, von ſich ſelbſt nur mit Mühe, mit Bedacht loskommenden Empfindung (ſo am Schluß des zweiten Satzes des Beethoven’ſchen Septetts), oder ein gewaltſames, dringliches Hinausſtreben zu einem Abſchluß, oder ein mächtiges Herandringen eines Affectes, einer Seelenbewegung, auch Verwunderung, die nicht recht von der Stelle kommt, Furcht, die ſich nicht zu rühren wagt, auszudrücken (wie z. B. im Sextett des Don Juan das Chromatiſche in mehrfachen Beziehungen dieſer Art angewandt iſt). Außerdem aber kann die chroma- tiſche Leiter, für ſich oder mit der diatoniſchen combinirt, wegen ihrer Klein- theiligkeit auch den mehr formellen Eindruck des Zierlichen, Feinen, des zierlich Fortfließenden und Fortrollenden hervorbringen; nach dieſer Seite, als figurirendes, ornamentiſches Element, hat ſie namentlich für die In- ſtrummentalmuſik Bedeutung, welche um der Formenmannigfaltigkeit willen, die ihr Geſetz iſt, nicht immer auf die diatoniſche Leiter oder Melodie ſich beſchränken kann. Die chromatiſche Tonleiter iſt vollſtändiger als die diatoniſche, ſie enthält alle überhaupt zur Anwendung kommenden Töne, ſie iſt das ganz in ſeine kleinſten Theile zerlegte Tonſyſtem, das Tonſyſtem als abſtracte, unterſchiedsloſe, aber überall ſtetig in ſich zuſammengehaltene, ihre Glieder wie an einer Perlenſchnur engſt aneinander reihende Tonfolge; darin liegt ſowohl ihre Einſeitigkeit als ihre Eigenthümlichkeit.
§. 772.
Der innere Unterſchied des Dur und Moll iſt ſo weſentlich, daß jede der beiden Tonweiſen eine eigene Art von Tonſyſtem, ein eigenes Tongeſchlecht, begründet. Beide Tongeſchlechter haben ihre Berechtigung und charakteriſtiſche Bedeutung; aber Dur iſt nicht nur das kräftigere und freiere, ſondern auch das einfachere, naturgemäßere, einer weit umfaſſendern Anwendung fähige
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2. Die chromatiſche Leiter, die ſich in Halbtönen auf- und ab-
wärts bewegt, kann der in Ganz- und Halbtönen gehenden, „diatoniſchen“
gegenüber nur eine Nebenart ſein. Sie iſt theils zu indifferent, weil in ihr
Alles gleich iſt und namentlich die Intervallverhältniſſe ſich ganz verwiſchen,
theils nicht von freier und rüſtiger Bewegung; es drängt ſich in ihr Alles
zuſammen, will nicht recht auseinander; es iſt eine Linie, die ſich fort-
während in kleinſten Windungen ſchlängelt, ohne je auch zu einer einfach
decidirten geradausgehenden Bewegung zu kommen; es iſt die abſtracte Leiter,
die das Prinzip der Continuität übertreibt, die nur kleine, gleich zugemeſſene
Schritte machen will. Natürlich kann die chromatiſche Leiter ebendarum für
gewiſſe Zwecke ſehr bezeichnend und wirkſam ſein. Das einerſeits nicht recht
von der Stelle wollende, andererſeits trotz des erſchwerten Fortgangs unauf-
haltſam vor ſich gehende Fortrücken, Fortdrücken und Fortſchieben eignet ſich
trefflich, ein langſames Austönen einer innigen, von ſich ſelbſt nur mit
Mühe, mit Bedacht loskommenden Empfindung (ſo am Schluß des zweiten
Satzes des Beethoven’ſchen Septetts), oder ein gewaltſames, dringliches
Hinausſtreben zu einem Abſchluß, oder ein mächtiges Herandringen eines
Affectes, einer Seelenbewegung, auch Verwunderung, die nicht recht von
der Stelle kommt, Furcht, die ſich nicht zu rühren wagt, auszudrücken
(wie z. B. im Sextett des Don Juan das Chromatiſche in mehrfachen
Beziehungen dieſer Art angewandt iſt). Außerdem aber kann die chroma-
tiſche Leiter, für ſich oder mit der diatoniſchen combinirt, wegen ihrer Klein-
theiligkeit auch den mehr formellen Eindruck des Zierlichen, Feinen, des
zierlich Fortfließenden und Fortrollenden hervorbringen; nach dieſer Seite,
als figurirendes, ornamentiſches Element, hat ſie namentlich für die In-
ſtrummentalmuſik Bedeutung, welche um der Formenmannigfaltigkeit willen,
die ihr Geſetz iſt, nicht immer auf die diatoniſche Leiter oder Melodie ſich
beſchränken kann. Die chromatiſche Tonleiter iſt vollſtändiger als die
diatoniſche, ſie enthält alle überhaupt zur Anwendung kommenden Töne,
ſie iſt das ganz in ſeine kleinſten Theile zerlegte Tonſyſtem, das Tonſyſtem
als abſtracte, unterſchiedsloſe, aber überall ſtetig in ſich zuſammengehaltene,
ihre Glieder wie an einer Perlenſchnur engſt aneinander reihende Tonfolge;
darin liegt ſowohl ihre Einſeitigkeit als ihre Eigenthümlichkeit.
§. 772.
Der innere Unterſchied des Dur und Moll iſt ſo weſentlich, daß jede der
beiden Tonweiſen eine eigene Art von Tonſyſtem, ein eigenes Tongeſchlecht,
begründet. Beide Tongeſchlechter haben ihre Berechtigung und charakteriſtiſche
Bedeutung; aber Dur iſt nicht nur das kräftigere und freiere, ſondern auch
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 869. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/107>, abgerufen am 21.12.2024.
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