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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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der innern Unendlichkeit. Für diese neue Welt des Ausdrucks bietet
nun der malerische Styl das ganze feinere System der Mimik und
Physiognomik auf, das die breiter ausholende Bildnerkunst kaum an den
Grenzen berühren kann: der Physiognomik, welche jetzt nicht nur die an-
gebornen Züge, sondern auch das ganze Feld ihrer Veränderungen zum
Gegenstand hat, die aus dem Innern fließen und sich mit dem Angebo-
renen durchdringen, -- wobei wir nur vom Gesammtbilde der Züge, wie
sie sich zum Charakter zusammenschließen, vorerst noch absehen. Jetzt, da
die Farbe mitwirkt, kann ein Ruck, die Spannung oder Schlaffheit eines
Häutchens, ein Fältchen die tiefsten Veränderungen im Ausdruck hervor-
bringen. Insbesondere tritt nun der Mundwinkel, die Parthie um das
Auge, das Auge selbst in seine volle Bedeutung; das Spiel der Hände
wird im feineren Detail geltend. Man bedenke u. A., wie der böse Wille
im Ganzen und Großen seiner mimischen Erscheinung, eben dem Gebiete,
das der Plastik allein offen ist, sich beherrscht, dagegen nun in diesem fei-
neren Theile die lauernde Bosheit und Gemeinheit sich verräth; wie spre-
chend ist z. B. das niederträchtige, feine Falten-Netz am äußern Augen-
winkel des Pharisäers auf Titian's Bild vom Zinsgroschen! In Leonar-
do's da Vinci Abendmahl treten uns auf den ersten Anblick lauter glän-
zende Augen, gesticulirende Hände entgegen. Bei dem Auge wirkt nun
namentlich auch die Art, wie seine Höhle heller gehalten oder in Schat-
ten gestellt wird; durch die Schattenstellung haben namentlich Pietro Pe-
rugino, Fra Bartolomeo den ihnen eigenthümlichen Ausdruck, jener die
tief verschleierte, wehmüthig selige Dämmerung des Gefühlslebens, dieser
die prophetische Verzückung erzielt; Raphael hat in der sixt. Madonna
durch grünlich dunkelnde Schattenringe um das Auge und überhaupt durch
eine unsagbare und doch mit den wenigsten Mitteln ausgeführte Behand-
lung dieser Parthie den doch so menschlich gesunden, in unbefangen vollem
Dasein athmenden Köpfen ein süßes, wunderbares, himmlisches Kranksein
gegeben: aus dem innersten Himmel so eben herschwebend zu den Heili-
gen, die für ihre Gemeinde auf Erden Schutz erflehen, scheinen sie sagen
zu wollen: kein irdischer Name nennt, keine Lippe kann stammeln, was
Herrliches wir schauen; verzehrt ist unser Irdisches und doch lebt und
schwebt es in Wundern der Verklärung! -- Die Wirkung des Auges
selbst, des Weißen, des Sterns, des Lichtpuncts wird eben durch diese
Behandlung des Umgebenden erst vollendet; die unendliche Welt von Un-
terschieden des Ausdrucks, wie sie in diesem Focus der Ausstrahlung des
innern Lebens liegt, entzieht sich nun aber jedem Versuch einer auch
nur ungefähren Verfolgung des Einzelnen. Man bedenke die zahllosen
Arten und Abstufungen der Färbung, Reinheit, Durchsichtigkeit der weißen
Haut und der Iris, der Lichtheit, Schärfe oder Trübe des Lichtpuncts,

der innern Unendlichkeit. Für dieſe neue Welt des Ausdrucks bietet
nun der maleriſche Styl das ganze feinere Syſtem der Mimik und
Phyſiognomik auf, das die breiter ausholende Bildnerkunſt kaum an den
Grenzen berühren kann: der Phyſiognomik, welche jetzt nicht nur die an-
gebornen Züge, ſondern auch das ganze Feld ihrer Veränderungen zum
Gegenſtand hat, die aus dem Innern fließen und ſich mit dem Angebo-
renen durchdringen, — wobei wir nur vom Geſammtbilde der Züge, wie
ſie ſich zum Charakter zuſammenſchließen, vorerſt noch abſehen. Jetzt, da
die Farbe mitwirkt, kann ein Ruck, die Spannung oder Schlaffheit eines
Häutchens, ein Fältchen die tiefſten Veränderungen im Ausdruck hervor-
bringen. Insbeſondere tritt nun der Mundwinkel, die Parthie um das
Auge, das Auge ſelbſt in ſeine volle Bedeutung; das Spiel der Hände
wird im feineren Detail geltend. Man bedenke u. A., wie der böſe Wille
im Ganzen und Großen ſeiner mimiſchen Erſcheinung, eben dem Gebiete,
das der Plaſtik allein offen iſt, ſich beherrſcht, dagegen nun in dieſem fei-
neren Theile die lauernde Bosheit und Gemeinheit ſich verräth; wie ſpre-
chend iſt z. B. das niederträchtige, feine Falten-Netz am äußern Augen-
winkel des Phariſäers auf Titian’s Bild vom Zinsgroſchen! In Leonar-
do’s da Vinci Abendmahl treten uns auf den erſten Anblick lauter glän-
zende Augen, geſticulirende Hände entgegen. Bei dem Auge wirkt nun
namentlich auch die Art, wie ſeine Höhle heller gehalten oder in Schat-
ten geſtellt wird; durch die Schattenſtellung haben namentlich Pietro Pe-
rugino, Fra Bartolomeo den ihnen eigenthümlichen Ausdruck, jener die
tief verſchleierte, wehmüthig ſelige Dämmerung des Gefühlslebens, dieſer
die prophetiſche Verzückung erzielt; Raphael hat in der ſixt. Madonna
durch grünlich dunkelnde Schattenringe um das Auge und überhaupt durch
eine unſagbare und doch mit den wenigſten Mitteln ausgeführte Behand-
lung dieſer Parthie den doch ſo menſchlich geſunden, in unbefangen vollem
Daſein athmenden Köpfen ein ſüßes, wunderbares, himmliſches Krankſein
gegeben: aus dem innerſten Himmel ſo eben herſchwebend zu den Heili-
gen, die für ihre Gemeinde auf Erden Schutz erflehen, ſcheinen ſie ſagen
zu wollen: kein irdiſcher Name nennt, keine Lippe kann ſtammeln, was
Herrliches wir ſchauen; verzehrt iſt unſer Irdiſches und doch lebt und
ſchwebt es in Wundern der Verklärung! — Die Wirkung des Auges
ſelbſt, des Weißen, des Sterns, des Lichtpuncts wird eben durch dieſe
Behandlung des Umgebenden erſt vollendet; die unendliche Welt von Un-
terſchieden des Ausdrucks, wie ſie in dieſem Focus der Ausſtrahlung des
innern Lebens liegt, entzieht ſich nun aber jedem Verſuch einer auch
nur ungefähren Verfolgung des Einzelnen. Man bedenke die zahlloſen
Arten und Abſtufungen der Färbung, Reinheit, Durchſichtigkeit der weißen
Haut und der Iris, der Lichtheit, Schärfe oder Trübe des Lichtpuncts,

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[594/0102] der innern Unendlichkeit. Für dieſe neue Welt des Ausdrucks bietet nun der maleriſche Styl das ganze feinere Syſtem der Mimik und Phyſiognomik auf, das die breiter ausholende Bildnerkunſt kaum an den Grenzen berühren kann: der Phyſiognomik, welche jetzt nicht nur die an- gebornen Züge, ſondern auch das ganze Feld ihrer Veränderungen zum Gegenſtand hat, die aus dem Innern fließen und ſich mit dem Angebo- renen durchdringen, — wobei wir nur vom Geſammtbilde der Züge, wie ſie ſich zum Charakter zuſammenſchließen, vorerſt noch abſehen. Jetzt, da die Farbe mitwirkt, kann ein Ruck, die Spannung oder Schlaffheit eines Häutchens, ein Fältchen die tiefſten Veränderungen im Ausdruck hervor- bringen. Insbeſondere tritt nun der Mundwinkel, die Parthie um das Auge, das Auge ſelbſt in ſeine volle Bedeutung; das Spiel der Hände wird im feineren Detail geltend. Man bedenke u. A., wie der böſe Wille im Ganzen und Großen ſeiner mimiſchen Erſcheinung, eben dem Gebiete, das der Plaſtik allein offen iſt, ſich beherrſcht, dagegen nun in dieſem fei- neren Theile die lauernde Bosheit und Gemeinheit ſich verräth; wie ſpre- chend iſt z. B. das niederträchtige, feine Falten-Netz am äußern Augen- winkel des Phariſäers auf Titian’s Bild vom Zinsgroſchen! In Leonar- do’s da Vinci Abendmahl treten uns auf den erſten Anblick lauter glän- zende Augen, geſticulirende Hände entgegen. Bei dem Auge wirkt nun namentlich auch die Art, wie ſeine Höhle heller gehalten oder in Schat- ten geſtellt wird; durch die Schattenſtellung haben namentlich Pietro Pe- rugino, Fra Bartolomeo den ihnen eigenthümlichen Ausdruck, jener die tief verſchleierte, wehmüthig ſelige Dämmerung des Gefühlslebens, dieſer die prophetiſche Verzückung erzielt; Raphael hat in der ſixt. Madonna durch grünlich dunkelnde Schattenringe um das Auge und überhaupt durch eine unſagbare und doch mit den wenigſten Mitteln ausgeführte Behand- lung dieſer Parthie den doch ſo menſchlich geſunden, in unbefangen vollem Daſein athmenden Köpfen ein ſüßes, wunderbares, himmliſches Krankſein gegeben: aus dem innerſten Himmel ſo eben herſchwebend zu den Heili- gen, die für ihre Gemeinde auf Erden Schutz erflehen, ſcheinen ſie ſagen zu wollen: kein irdiſcher Name nennt, keine Lippe kann ſtammeln, was Herrliches wir ſchauen; verzehrt iſt unſer Irdiſches und doch lebt und ſchwebt es in Wundern der Verklärung! — Die Wirkung des Auges ſelbſt, des Weißen, des Sterns, des Lichtpuncts wird eben durch dieſe Behandlung des Umgebenden erſt vollendet; die unendliche Welt von Un- terſchieden des Ausdrucks, wie ſie in dieſem Focus der Ausſtrahlung des innern Lebens liegt, entzieht ſich nun aber jedem Verſuch einer auch nur ungefähren Verfolgung des Einzelnen. Man bedenke die zahlloſen Arten und Abſtufungen der Färbung, Reinheit, Durchſichtigkeit der weißen Haut und der Iris, der Lichtheit, Schärfe oder Trübe des Lichtpuncts,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 594. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/102>, abgerufen am 26.04.2024.