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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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schlichter Einheit mit sich und naiver Sinnenheiterkeit, wie solche dem mehr
bildnerischen Style zusagt, sich betheiligen.

Die Lehre vom Styl hat, nachdem in der allgemeinen Darstellung
die wesentlichen Grundlagen entwickelt sind, auch hier nur die concreteren
Ergebnisse zu ziehen und so den Gegensatz gegen die Styl-Aufgabe der
Bildnerkunst (vergl. §. 605, 1. 624) in volles Licht zu stellen. Wir ha-
ben gesehen, daß die Malerei es mit der in sich concentrirten Subjectivi-
tät zu thun hat, die sowohl innerlich aus ihrem eigenen Sinnenleben, wie
auch als ganze Persönlichkeit aus der substantiellen Einheit mit der sitt-
lichen Welt des Volkes, Staates sich zurückgenommen hat und diesen
Bruch wieder in Versöhnung aufhebt oder zum Bösen steigert oder in un-
endlichen Formen halbgelöst in sich trägt. Es ergibt sich hieraus nun
im Bestimmteren zunächst überhaupt eine ganze Welt von Stimmungen,
Affecten, Eigenschaften als Aufgabe für die malerische Behandlung des
Ausdrucks, die wir als unzugänglich für die Plastik erkannten. In treff-
licher Weise, nur zum Theil schon mit zu bestimmter Beiziehung des ro-
mantisch religiösen Ideals hat Hegel diese Welt dargestellt (Aesth. Th. 3
S. 31 ff.) Die Plastik kann nicht darstellen die Schaam im tieferen
Sinne, wie sie auf dem Bewußtsein ruht, das der zu sich gekommene
Geist von den thierischen Bedingungen seines Leibes und deren Fortsetzung
in den Trieben der Seele hat; sie kann nicht darstellen ein tief, mystisch
versenktes Träumen und Brüten in sich oder das Gegentheil, eine augen-
blickliche, leicht spielende Zerstreutheit; nicht die Welt der Liebe, wie sie
dem innerlich gewordenen Menschen aufgegangen ist, sei es Geschlechter-
liebe, Menschenliebe, Versenkung in das Meer der ewigen Liebe, Andacht;
auch nicht die unendliche Welt der Schmerzen, durch welche ein Gemüth
kann hindurchgehen müssen, bis es den Kampf zwischen dem Trotze seiner
Subjectivität, die ein Unendliches für sich sein will, und der Sehnsucht,
sich an ein Anderes, sei es Geliebte, Freund, Menschheit, Gottheit, auf-
zugeben, durchgekämpft hat; nicht die Hölle der Reue, Zerknirschung, die
tiefe Wehmuth, das unendliche Seelenweinen; nicht einen Sturm des Lei-
dens von außen, das seine ganze Bedeutung erst erreicht, indem es zum
innern, unendlichen Leiden wird, gegen das nun der Geist seine reine
Willenskraft, seinen geheimen Schatz von Liebe, von Glauben an die Idee
aufbietet, aber auch nicht die Seligkeit in der Hingebung, im Sieg, in
der Versöhnung; sie kann das beharrende Sträuben des Eigenwillens,
die Formenwelt des tief innerlichen Trotzes, Hasses, die hämische List, die
Wildheit und die geheime oder offene Verzweiflung des Bösen nicht in
den Marmor graben; sie kann etwas von dem Allem, aber immer ohne
die aus der vertieften Form des Bewußtseins erst entspringende Resonanz

ſchlichter Einheit mit ſich und naiver Sinnenheiterkeit, wie ſolche dem mehr
bildneriſchen Style zuſagt, ſich betheiligen.

Die Lehre vom Styl hat, nachdem in der allgemeinen Darſtellung
die weſentlichen Grundlagen entwickelt ſind, auch hier nur die concreteren
Ergebniſſe zu ziehen und ſo den Gegenſatz gegen die Styl-Aufgabe der
Bildnerkunſt (vergl. §. 605, 1. 624) in volles Licht zu ſtellen. Wir ha-
ben geſehen, daß die Malerei es mit der in ſich concentrirten Subjectivi-
tät zu thun hat, die ſowohl innerlich aus ihrem eigenen Sinnenleben, wie
auch als ganze Perſönlichkeit aus der ſubſtantiellen Einheit mit der ſitt-
lichen Welt des Volkes, Staates ſich zurückgenommen hat und dieſen
Bruch wieder in Verſöhnung aufhebt oder zum Böſen ſteigert oder in un-
endlichen Formen halbgelöst in ſich trägt. Es ergibt ſich hieraus nun
im Beſtimmteren zunächſt überhaupt eine ganze Welt von Stimmungen,
Affecten, Eigenſchaften als Aufgabe für die maleriſche Behandlung des
Ausdrucks, die wir als unzugänglich für die Plaſtik erkannten. In treff-
licher Weiſe, nur zum Theil ſchon mit zu beſtimmter Beiziehung des ro-
mantiſch religiöſen Ideals hat Hegel dieſe Welt dargeſtellt (Aeſth. Th. 3
S. 31 ff.) Die Plaſtik kann nicht darſtellen die Schaam im tieferen
Sinne, wie ſie auf dem Bewußtſein ruht, das der zu ſich gekommene
Geiſt von den thieriſchen Bedingungen ſeines Leibes und deren Fortſetzung
in den Trieben der Seele hat; ſie kann nicht darſtellen ein tief, myſtiſch
verſenktes Träumen und Brüten in ſich oder das Gegentheil, eine augen-
blickliche, leicht ſpielende Zerſtreutheit; nicht die Welt der Liebe, wie ſie
dem innerlich gewordenen Menſchen aufgegangen iſt, ſei es Geſchlechter-
liebe, Menſchenliebe, Verſenkung in das Meer der ewigen Liebe, Andacht;
auch nicht die unendliche Welt der Schmerzen, durch welche ein Gemüth
kann hindurchgehen müſſen, bis es den Kampf zwiſchen dem Trotze ſeiner
Subjectivität, die ein Unendliches für ſich ſein will, und der Sehnſucht,
ſich an ein Anderes, ſei es Geliebte, Freund, Menſchheit, Gottheit, auf-
zugeben, durchgekämpft hat; nicht die Hölle der Reue, Zerknirſchung, die
tiefe Wehmuth, das unendliche Seelenweinen; nicht einen Sturm des Lei-
dens von außen, das ſeine ganze Bedeutung erſt erreicht, indem es zum
innern, unendlichen Leiden wird, gegen das nun der Geiſt ſeine reine
Willenskraft, ſeinen geheimen Schatz von Liebe, von Glauben an die Idee
aufbietet, aber auch nicht die Seligkeit in der Hingebung, im Sieg, in
der Verſöhnung; ſie kann das beharrende Sträuben des Eigenwillens,
die Formenwelt des tief innerlichen Trotzes, Haſſes, die hämiſche Liſt, die
Wildheit und die geheime oder offene Verzweiflung des Böſen nicht in
den Marmor graben; ſie kann etwas von dem Allem, aber immer ohne
die aus der vertieften Form des Bewußtſeins erſt entſpringende Reſonanz

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[593/0101] ſchlichter Einheit mit ſich und naiver Sinnenheiterkeit, wie ſolche dem mehr bildneriſchen Style zuſagt, ſich betheiligen. Die Lehre vom Styl hat, nachdem in der allgemeinen Darſtellung die weſentlichen Grundlagen entwickelt ſind, auch hier nur die concreteren Ergebniſſe zu ziehen und ſo den Gegenſatz gegen die Styl-Aufgabe der Bildnerkunſt (vergl. §. 605, 1. 624) in volles Licht zu ſtellen. Wir ha- ben geſehen, daß die Malerei es mit der in ſich concentrirten Subjectivi- tät zu thun hat, die ſowohl innerlich aus ihrem eigenen Sinnenleben, wie auch als ganze Perſönlichkeit aus der ſubſtantiellen Einheit mit der ſitt- lichen Welt des Volkes, Staates ſich zurückgenommen hat und dieſen Bruch wieder in Verſöhnung aufhebt oder zum Böſen ſteigert oder in un- endlichen Formen halbgelöst in ſich trägt. Es ergibt ſich hieraus nun im Beſtimmteren zunächſt überhaupt eine ganze Welt von Stimmungen, Affecten, Eigenſchaften als Aufgabe für die maleriſche Behandlung des Ausdrucks, die wir als unzugänglich für die Plaſtik erkannten. In treff- licher Weiſe, nur zum Theil ſchon mit zu beſtimmter Beiziehung des ro- mantiſch religiöſen Ideals hat Hegel dieſe Welt dargeſtellt (Aeſth. Th. 3 S. 31 ff.) Die Plaſtik kann nicht darſtellen die Schaam im tieferen Sinne, wie ſie auf dem Bewußtſein ruht, das der zu ſich gekommene Geiſt von den thieriſchen Bedingungen ſeines Leibes und deren Fortſetzung in den Trieben der Seele hat; ſie kann nicht darſtellen ein tief, myſtiſch verſenktes Träumen und Brüten in ſich oder das Gegentheil, eine augen- blickliche, leicht ſpielende Zerſtreutheit; nicht die Welt der Liebe, wie ſie dem innerlich gewordenen Menſchen aufgegangen iſt, ſei es Geſchlechter- liebe, Menſchenliebe, Verſenkung in das Meer der ewigen Liebe, Andacht; auch nicht die unendliche Welt der Schmerzen, durch welche ein Gemüth kann hindurchgehen müſſen, bis es den Kampf zwiſchen dem Trotze ſeiner Subjectivität, die ein Unendliches für ſich ſein will, und der Sehnſucht, ſich an ein Anderes, ſei es Geliebte, Freund, Menſchheit, Gottheit, auf- zugeben, durchgekämpft hat; nicht die Hölle der Reue, Zerknirſchung, die tiefe Wehmuth, das unendliche Seelenweinen; nicht einen Sturm des Lei- dens von außen, das ſeine ganze Bedeutung erſt erreicht, indem es zum innern, unendlichen Leiden wird, gegen das nun der Geiſt ſeine reine Willenskraft, ſeinen geheimen Schatz von Liebe, von Glauben an die Idee aufbietet, aber auch nicht die Seligkeit in der Hingebung, im Sieg, in der Verſöhnung; ſie kann das beharrende Sträuben des Eigenwillens, die Formenwelt des tief innerlichen Trotzes, Haſſes, die hämiſche Liſt, die Wildheit und die geheime oder offene Verzweiflung des Böſen nicht in den Marmor graben; ſie kann etwas von dem Allem, aber immer ohne die aus der vertieften Form des Bewußtſeins erſt entſpringende Reſonanz

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 593. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/101>, abgerufen am 26.04.2024.