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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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§. 663.

Dennoch beginnt schon im Gebiete der Zeichnung der Austritt aus den
Grenzen der Plastik. Sie zieht mehr in ihr Bereich, als diese, indem sie auch
Körper von unbestimmtem Umriß andeutend wiedergibt, und da sie mit eigenen
Mitteln den Schein der Erstreckung in die Tiefe erzeugen soll, so hat sie
Körper der verschiedensten Art in der Veränderung und Verkleinerung darzu-
stellen, welche ihre Gestalt und Größe nach den Graden des Zurückweichens von
einem bestimmten Sehpunct anzunehmen scheint: Verkürzung im Einzelnen,
Linear-Perspective im Ganzen. Die Malerei ist hiedurch an ein beson-
deres Gebiet wissenschaftlicher Kenntnisse gewiesen.

Die leichte Linie kann, wie auch schon zu §. 651 berührt ist, bereits
mehr geben, als die Mittel der Bildnerkunst; schon Griffel, Blei, Kohle,
Kreide, Feder vermag das Kleine, Dünne, unbestimmt Gebildete, conti-
nuirlich Ausgebreitete theilweise nachzubilden, das Brüchige, Verwitternde,
Rauhere oder Glattere der Oberfläche von Erdformen und Gebäuden,
Wolken, Wellen, Blätter und Gräser, Fältchen, Haare u. s. w. anzudeu-
ten. Dieses Reich des Unbestimmten spielt eigentlich bereits in die Per-
spective hinüber, denn es besteht zum Theil in Einzelnheiten, die gegen-
über dem Maaßstab unserer Sehkraft so in's Kleine sich verlieren, daß
wir sie nur zerflossen, nur in Massen sehen, und eben dieß Unbestimmte
kann der Zeichner auch unbestimmt wiedergeben. Es ist nicht der leichteste
Theil seiner Aufgabe und erst einer reifen Kunst gelingt ein geniales
Hinwerfen dieser Zufälligkeiten. Die plastische Richtung wird sich inzwi-
schen auch hier geltend machen, indem sie nach dieser Seite hin theils
strenger ausscheiden, theils zu genau und deutlich nachbilden wird (z. B.
den Baumschlag in der heroischen Landschaft). An sich aber ist das pla-
stische Gebiet, sofern es sich durch die Zeichnung in der Malerei wieder-
holt, hiemit um so mehr schon überschritten, da die meisten dieser unbe-
stimmten Andeutungen sich bereits auf die mitdargestellte, in die Tiefe sich
hineinverlaufende Umgebung beziehen. -- Die eigentliche Perspective nun
aber hat es mit allen Körpern, sowohl den fest, als den unbestimmt ge-
bildeten und massenhaft ausgebreiteten, sowohl den großen, als den klei-
nen zu thun. Es entsteht hier ein neues Gebiet künstlerischer Aufgabe
dadurch, daß der optische Schein, nach dessen Gesetzen das Auge die wirk-
lichen Dinge im Raume sieht, auf der Fläche künstlich wiederzugeben,
daß ein Schein dieses Scheins herzustellen ist. Die Gegenstände, wie sie
vom Sehpunct aus in die Tiefe zurücktreten, verändern je nach ihrer
Stellung scheinbar ihre Form: das Runde scheint oval, die in gleicher
Breite fortlaufende Straße scheint pyramidalisch u. s. w.; zugleich verklei-

§. 663.

Dennoch beginnt ſchon im Gebiete der Zeichnung der Austritt aus den
Grenzen der Plaſtik. Sie zieht mehr in ihr Bereich, als dieſe, indem ſie auch
Körper von unbeſtimmtem Umriß andeutend wiedergibt, und da ſie mit eigenen
Mitteln den Schein der Erſtreckung in die Tiefe erzeugen ſoll, ſo hat ſie
Körper der verſchiedenſten Art in der Veränderung und Verkleinerung darzu-
ſtellen, welche ihre Geſtalt und Größe nach den Graden des Zurückweichens von
einem beſtimmten Sehpunct anzunehmen ſcheint: Verkürzung im Einzelnen,
Linear-Perſpective im Ganzen. Die Malerei iſt hiedurch an ein beſon-
deres Gebiet wiſſenſchaftlicher Kenntniſſe gewieſen.

Die leichte Linie kann, wie auch ſchon zu §. 651 berührt iſt, bereits
mehr geben, als die Mittel der Bildnerkunſt; ſchon Griffel, Blei, Kohle,
Kreide, Feder vermag das Kleine, Dünne, unbeſtimmt Gebildete, conti-
nuirlich Ausgebreitete theilweiſe nachzubilden, das Brüchige, Verwitternde,
Rauhere oder Glattere der Oberfläche von Erdformen und Gebäuden,
Wolken, Wellen, Blätter und Gräſer, Fältchen, Haare u. ſ. w. anzudeu-
ten. Dieſes Reich des Unbeſtimmten ſpielt eigentlich bereits in die Per-
ſpective hinüber, denn es beſteht zum Theil in Einzelnheiten, die gegen-
über dem Maaßſtab unſerer Sehkraft ſo in’s Kleine ſich verlieren, daß
wir ſie nur zerfloſſen, nur in Maſſen ſehen, und eben dieß Unbeſtimmte
kann der Zeichner auch unbeſtimmt wiedergeben. Es iſt nicht der leichteſte
Theil ſeiner Aufgabe und erſt einer reifen Kunſt gelingt ein geniales
Hinwerfen dieſer Zufälligkeiten. Die plaſtiſche Richtung wird ſich inzwi-
ſchen auch hier geltend machen, indem ſie nach dieſer Seite hin theils
ſtrenger ausſcheiden, theils zu genau und deutlich nachbilden wird (z. B.
den Baumſchlag in der heroiſchen Landſchaft). An ſich aber iſt das pla-
ſtiſche Gebiet, ſofern es ſich durch die Zeichnung in der Malerei wieder-
holt, hiemit um ſo mehr ſchon überſchritten, da die meiſten dieſer unbe-
ſtimmten Andeutungen ſich bereits auf die mitdargeſtellte, in die Tiefe ſich
hineinverlaufende Umgebung beziehen. — Die eigentliche Perſpective nun
aber hat es mit allen Körpern, ſowohl den feſt, als den unbeſtimmt ge-
bildeten und maſſenhaft ausgebreiteten, ſowohl den großen, als den klei-
nen zu thun. Es entſteht hier ein neues Gebiet künſtleriſcher Aufgabe
dadurch, daß der optiſche Schein, nach deſſen Geſetzen das Auge die wirk-
lichen Dinge im Raume ſieht, auf der Fläche künſtlich wiederzugeben,
daß ein Schein dieſes Scheins herzuſtellen iſt. Die Gegenſtände, wie ſie
vom Sehpunct aus in die Tiefe zurücktreten, verändern je nach ihrer
Stellung ſcheinbar ihre Form: das Runde ſcheint oval, die in gleicher
Breite fortlaufende Straße ſcheint pyramidaliſch u. ſ. w.; zugleich verklei-

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[549/0057] §. 663. Dennoch beginnt ſchon im Gebiete der Zeichnung der Austritt aus den Grenzen der Plaſtik. Sie zieht mehr in ihr Bereich, als dieſe, indem ſie auch Körper von unbeſtimmtem Umriß andeutend wiedergibt, und da ſie mit eigenen Mitteln den Schein der Erſtreckung in die Tiefe erzeugen ſoll, ſo hat ſie Körper der verſchiedenſten Art in der Veränderung und Verkleinerung darzu- ſtellen, welche ihre Geſtalt und Größe nach den Graden des Zurückweichens von einem beſtimmten Sehpunct anzunehmen ſcheint: Verkürzung im Einzelnen, Linear-Perſpective im Ganzen. Die Malerei iſt hiedurch an ein beſon- deres Gebiet wiſſenſchaftlicher Kenntniſſe gewieſen. Die leichte Linie kann, wie auch ſchon zu §. 651 berührt iſt, bereits mehr geben, als die Mittel der Bildnerkunſt; ſchon Griffel, Blei, Kohle, Kreide, Feder vermag das Kleine, Dünne, unbeſtimmt Gebildete, conti- nuirlich Ausgebreitete theilweiſe nachzubilden, das Brüchige, Verwitternde, Rauhere oder Glattere der Oberfläche von Erdformen und Gebäuden, Wolken, Wellen, Blätter und Gräſer, Fältchen, Haare u. ſ. w. anzudeu- ten. Dieſes Reich des Unbeſtimmten ſpielt eigentlich bereits in die Per- ſpective hinüber, denn es beſteht zum Theil in Einzelnheiten, die gegen- über dem Maaßſtab unſerer Sehkraft ſo in’s Kleine ſich verlieren, daß wir ſie nur zerfloſſen, nur in Maſſen ſehen, und eben dieß Unbeſtimmte kann der Zeichner auch unbeſtimmt wiedergeben. Es iſt nicht der leichteſte Theil ſeiner Aufgabe und erſt einer reifen Kunſt gelingt ein geniales Hinwerfen dieſer Zufälligkeiten. Die plaſtiſche Richtung wird ſich inzwi- ſchen auch hier geltend machen, indem ſie nach dieſer Seite hin theils ſtrenger ausſcheiden, theils zu genau und deutlich nachbilden wird (z. B. den Baumſchlag in der heroiſchen Landſchaft). An ſich aber iſt das pla- ſtiſche Gebiet, ſofern es ſich durch die Zeichnung in der Malerei wieder- holt, hiemit um ſo mehr ſchon überſchritten, da die meiſten dieſer unbe- ſtimmten Andeutungen ſich bereits auf die mitdargeſtellte, in die Tiefe ſich hineinverlaufende Umgebung beziehen. — Die eigentliche Perſpective nun aber hat es mit allen Körpern, ſowohl den feſt, als den unbeſtimmt ge- bildeten und maſſenhaft ausgebreiteten, ſowohl den großen, als den klei- nen zu thun. Es entſteht hier ein neues Gebiet künſtleriſcher Aufgabe dadurch, daß der optiſche Schein, nach deſſen Geſetzen das Auge die wirk- lichen Dinge im Raume ſieht, auf der Fläche künſtlich wiederzugeben, daß ein Schein dieſes Scheins herzuſtellen iſt. Die Gegenſtände, wie ſie vom Sehpunct aus in die Tiefe zurücktreten, verändern je nach ihrer Stellung ſcheinbar ihre Form: das Runde ſcheint oval, die in gleicher Breite fortlaufende Straße ſcheint pyramidaliſch u. ſ. w.; zugleich verklei-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 549. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/57>, abgerufen am 21.11.2024.