sondern vielmehr die Form ist, aus der er selbst hervorgeht, die er, nach- dem er aus ihr hervorgegangen, zwar unendlich hinter sich zurückläßt, aber nun wieder zu sich heraufnimmt, durchdringt, füllt, durchstrahlt und so erst wahrhaft, im realen, concreten Sinne setzt. Nun ist all das Viele un- endlich bedeutend und werthvoll, nun erst ist es wahrhaft frei, selbständig, denn der Blitz des Geistes strahlt aus ihm und in es. Der Verschluß, der den Gott gefangen hielt, ist aufgegangen; der Gott strömt als Geist über in alle Welt. Schon zu §. 632, bei der Vergleichung von Statue und Gruppe, haben wir die Bezeichnung eines Ausgießens gebraucht und auf die Kunstform hinübergewiesen, von welcher diese Bezeichnung im volleren Sinne gilt. Die Malerei ist das Pfingstfest der bildenden Kunst. Ihre Weite und Tiefe ist jetzt als Eines erkannt. Die Tiefe hat das Band gelockert, ja scheinbar gelöst, das zwischen dem Geist als dem Ei- nigenden und der Natur als Mutter der Vielheit bestand, und die Weite ist aufgegangen, aber die Tiefe stellt das Band um so inniger wieder her, der Geist hat es nur gelöst, weil er diese tiefere Herstellung wollte; er hat die Natur fallen lassen, um sie desto inniger und wärmer zu verklä- ren, sie breitet sich nun frei aus in [...]ihrer Wesenfülle und wird doch vom Wehen des unsichtbar sichtbaren Geheimnisses wieder eingeholt und in die Feier der Innerlichkeit getaucht. -- Der wesentliche Inhalt dieses §. ist schon von Hegel ausgesprochen (Aesth. Th. 2. S. 256. Th. 3. S. 5. 6. 15. 17 u. a.); die Erläuterung unseres §. sucht die Sache in eingänglicheres Licht zu stellen und der Schlußsatz desselben faßt Alles in die möglichst schlagende Formel zusammen.
§. 654.
Die landschaftliche Natur, der umgebende Raum überhaupt erscheint nun als stimmungsvoller Widerhall des persönlichen Lebens. Tiefer tritt dasselbe Verhältniß innerhalb der Persönlichkeit selbst auf. Vom Bande der unmittel- baren Einheit mit dem Geist entlassen spielt die Gestalt und die Welt der man- nigfaltigen innern Neigungen, Zustände, Kräfte in freierer Willkühr, die zu- gleich zu jeder Einseitigkeit sich verhärten kann, öffnet sich in bewegter Beziehung zur Außenwelt ihren wechselvollen Erregungen und läßt dieselben bis zur tief- sten Aufwühlung und Zerreißung der Seele eindringen; aber das Licht des Geistes scheint in diese bis zur Entzweiung losgelassene Außenseite und erhebt ihre mannigfaltigen Brechungen zum bedeutungsvollen Ausdruck seiner Tiefe. Das Gute hat jetzt nicht mehr die Form einfacher Substantialität des Charakters, das Böse ist als Stoff für die Kunst erschlossen.
Das neue Licht, in welchem die Welt aufgefaßt wird, ist zunächst in Anwendung auf die äußere Natur bestimmter in's Auge zu fassen. Seine
ſondern vielmehr die Form iſt, aus der er ſelbſt hervorgeht, die er, nach- dem er aus ihr hervorgegangen, zwar unendlich hinter ſich zurückläßt, aber nun wieder zu ſich heraufnimmt, durchdringt, füllt, durchſtrahlt und ſo erſt wahrhaft, im realen, concreten Sinne ſetzt. Nun iſt all das Viele un- endlich bedeutend und werthvoll, nun erſt iſt es wahrhaft frei, ſelbſtändig, denn der Blitz des Geiſtes ſtrahlt aus ihm und in es. Der Verſchluß, der den Gott gefangen hielt, iſt aufgegangen; der Gott ſtrömt als Geiſt über in alle Welt. Schon zu §. 632, bei der Vergleichung von Statue und Gruppe, haben wir die Bezeichnung eines Ausgießens gebraucht und auf die Kunſtform hinübergewieſen, von welcher dieſe Bezeichnung im volleren Sinne gilt. Die Malerei iſt das Pfingſtfeſt der bildenden Kunſt. Ihre Weite und Tiefe iſt jetzt als Eines erkannt. Die Tiefe hat das Band gelockert, ja ſcheinbar gelöst, das zwiſchen dem Geiſt als dem Ei- nigenden und der Natur als Mutter der Vielheit beſtand, und die Weite iſt aufgegangen, aber die Tiefe ſtellt das Band um ſo inniger wieder her, der Geiſt hat es nur gelöst, weil er dieſe tiefere Herſtellung wollte; er hat die Natur fallen laſſen, um ſie deſto inniger und wärmer zu verklä- ren, ſie breitet ſich nun frei aus in […]ihrer Weſenfülle und wird doch vom Wehen des unſichtbar ſichtbaren Geheimniſſes wieder eingeholt und in die Feier der Innerlichkeit getaucht. — Der weſentliche Inhalt dieſes §. iſt ſchon von Hegel ausgeſprochen (Aeſth. Th. 2. S. 256. Th. 3. S. 5. 6. 15. 17 u. a.); die Erläuterung unſeres §. ſucht die Sache in eingänglicheres Licht zu ſtellen und der Schlußſatz deſſelben faßt Alles in die möglichſt ſchlagende Formel zuſammen.
§. 654.
Die landſchaftliche Natur, der umgebende Raum überhaupt erſcheint nun als ſtimmungsvoller Widerhall des perſönlichen Lebens. Tiefer tritt daſſelbe Verhältniß innerhalb der Perſönlichkeit ſelbſt auf. Vom Bande der unmittel- baren Einheit mit dem Geiſt entlaſſen ſpielt die Geſtalt und die Welt der man- nigfaltigen innern Neigungen, Zuſtände, Kräfte in freierer Willkühr, die zu- gleich zu jeder Einſeitigkeit ſich verhärten kann, öffnet ſich in bewegter Beziehung zur Außenwelt ihren wechſelvollen Erregungen und läßt dieſelben bis zur tief- ſten Aufwühlung und Zerreißung der Seele eindringen; aber das Licht des Geiſtes ſcheint in dieſe bis zur Entzweiung losgelaſſene Außenſeite und erhebt ihre mannigfaltigen Brechungen zum bedeutungsvollen Ausdruck ſeiner Tiefe. Das Gute hat jetzt nicht mehr die Form einfacher Subſtantialität des Charakters, das Böſe iſt als Stoff für die Kunſt erſchloſſen.
Das neue Licht, in welchem die Welt aufgefaßt wird, iſt zunächſt in Anwendung auf die äußere Natur beſtimmter in’s Auge zu faſſen. Seine
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[524/0032]
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dem er aus ihr hervorgegangen, zwar unendlich hinter ſich zurückläßt, aber
nun wieder zu ſich heraufnimmt, durchdringt, füllt, durchſtrahlt und ſo erſt
wahrhaft, im realen, concreten Sinne ſetzt. Nun iſt all das Viele un-
endlich bedeutend und werthvoll, nun erſt iſt es wahrhaft frei, ſelbſtändig,
denn der Blitz des Geiſtes ſtrahlt aus ihm und in es. Der Verſchluß,
der den Gott gefangen hielt, iſt aufgegangen; der Gott ſtrömt als Geiſt
über in alle Welt. Schon zu §. 632, bei der Vergleichung von Statue
und Gruppe, haben wir die Bezeichnung eines Ausgießens gebraucht und
auf die Kunſtform hinübergewieſen, von welcher dieſe Bezeichnung im
volleren Sinne gilt. Die Malerei iſt das Pfingſtfeſt der bildenden Kunſt.
Ihre Weite und Tiefe iſt jetzt als Eines erkannt. Die Tiefe hat das
Band gelockert, ja ſcheinbar gelöst, das zwiſchen dem Geiſt als dem Ei-
nigenden und der Natur als Mutter der Vielheit beſtand, und die Weite
iſt aufgegangen, aber die Tiefe ſtellt das Band um ſo inniger wieder her,
der Geiſt hat es nur gelöst, weil er dieſe tiefere Herſtellung wollte; er
hat die Natur fallen laſſen, um ſie deſto inniger und wärmer zu verklä-
ren, ſie breitet ſich nun frei aus in ihrer Weſenfülle und wird doch
vom Wehen des unſichtbar ſichtbaren Geheimniſſes wieder eingeholt und
in die Feier der Innerlichkeit getaucht. — Der weſentliche Inhalt dieſes
§. iſt ſchon von Hegel ausgeſprochen (Aeſth. Th. 2. S. 256. Th. 3.
S. 5. 6. 15. 17 u. a.); die Erläuterung unſeres §. ſucht die Sache in
eingänglicheres Licht zu ſtellen und der Schlußſatz deſſelben faßt Alles in
die möglichſt ſchlagende Formel zuſammen.
§. 654.
Die landſchaftliche Natur, der umgebende Raum überhaupt erſcheint nun
als ſtimmungsvoller Widerhall des perſönlichen Lebens. Tiefer tritt daſſelbe
Verhältniß innerhalb der Perſönlichkeit ſelbſt auf. Vom Bande der unmittel-
baren Einheit mit dem Geiſt entlaſſen ſpielt die Geſtalt und die Welt der man-
nigfaltigen innern Neigungen, Zuſtände, Kräfte in freierer Willkühr, die zu-
gleich zu jeder Einſeitigkeit ſich verhärten kann, öffnet ſich in bewegter Beziehung
zur Außenwelt ihren wechſelvollen Erregungen und läßt dieſelben bis zur tief-
ſten Aufwühlung und Zerreißung der Seele eindringen; aber das Licht des
Geiſtes ſcheint in dieſe bis zur Entzweiung losgelaſſene Außenſeite und erhebt
ihre mannigfaltigen Brechungen zum bedeutungsvollen Ausdruck ſeiner Tiefe.
Das Gute hat jetzt nicht mehr die Form einfacher Subſtantialität des Charakters,
das Böſe iſt als Stoff für die Kunſt erſchloſſen.
Das neue Licht, in welchem die Welt aufgefaßt wird, iſt zunächſt in
Anwendung auf die äußere Natur beſtimmter in’s Auge zu faſſen. Seine
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 524. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/32>, abgerufen am 21.02.2025.
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