Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

führen oder wenigstens ein Thema nach allen Seiten, wie in den Todten-
tänzen, durchspielen. Man sieht, wie hier die Malerei mehr und mehr
frei dichtend auftritt, was auf §. 694 zurückführt. Die Anlehnung an
einen gegebenen Text kann dabei auch wegfallen, im Ganzen aber bleibt
sie ein Hauptmerkmal der Unselbständigkeit des, obwohl so großen und
bedeutenden, Gebiets, das uns hier vorliegt. Es wäre sehr interessant,
das Verhältniß zum Texte näher zu beleuchten, wie er bald den Witz erst
vollendet, wie bald umgekehrt die Caricatur ganz an die Stelle des Wor-
tes, eine komische Hieroglyphe, tritt, wie sie ein andermal nur ein Motiv
aus ihm entnimmt; das Letztere liebt namentlich jenes von satyrischer
Absicht freiere humoristische Sittenbild: der Text sagt, was die dargestell-
ten Personen sprechen, der Künstler zeigt uns, wie Menschen bei solcher
Unterhaltung, wo sie sich ganz gehen lassen, ganz naiv hinträumen u. s. w.,
eben gerade aussehen. Der Text kann dabei einen Witz enthalten (vergl.
§. 193 Anm. 1) oder nicht. Hier fällt dann freilich mit der Satyre auch die
Uebertreibung, also das Grundmerkmal, das der Caricatur den Namen
gibt, häufig ganz weg und man befindet sich im reinen Sittenbilde;
allein die Kunst hat eine Masse flüchtiger Gedanken, die sie nur rasch
hinwerfen, in die Welt schleudern will, und so übergibt sie dieselben, leicht
und geistreich ausgeführt, der vervielfältigenden Technik, durch deren Mittel
nun dieses ganze Gebiet seine große praktische Bedeutung verwirklicht. --
Eine Geschichte der Caricatur nach Styl und Stoffen wäre eine höchst
lohnende Aufgabe; die Geschichte der Staaten, der Religion, der Gesell-
schaft wäre dabei so tief betheiligt, als die Geschichte der Kunst, der na-
tionalen Auffassungen und Formen. In neuerer Zeit hat sich neben dem
geistreichen Wurfe und der leicht aufschäumenden, eleganten, freilich oft
mehr frivolen, als komischen Bosheit der französischen, neben der markig
groben Herbe, der schwer und tief einschneidenden, grasser überladenden
Schärfe der englischen Caricatur entschieden ein eigener deutscher Carica-
turstyl ausgebildet, der ganz den deutschen Charakter ausdrückt, indem
bei aller Schärfe doch der Humor über den bittern Ernst vorwiegt und
in gutmüthiger Laune hanswurstartig die Miene einer gewissen gemüth-
lichen Dummlichkeit annimmt; das Hauptverdienst bleibt den fliegenden
Blättern.

§. 743.

Durch die Nachbildung in Metall, Holz, Stein bietet die ver-
vielfältigende
Technik, die aber hier ein bedeutendes reproductives Kunst-
talent in Anspruch nimmt, sowohl einen Ersatz für die Anschauung des ausge-
führten Gemäldes, als auch eine Form leichter Mittheilung der augenblicklichen

führen oder wenigſtens ein Thema nach allen Seiten, wie in den Todten-
tänzen, durchſpielen. Man ſieht, wie hier die Malerei mehr und mehr
frei dichtend auftritt, was auf §. 694 zurückführt. Die Anlehnung an
einen gegebenen Text kann dabei auch wegfallen, im Ganzen aber bleibt
ſie ein Hauptmerkmal der Unſelbſtändigkeit des, obwohl ſo großen und
bedeutenden, Gebiets, das uns hier vorliegt. Es wäre ſehr intereſſant,
das Verhältniß zum Texte näher zu beleuchten, wie er bald den Witz erſt
vollendet, wie bald umgekehrt die Caricatur ganz an die Stelle des Wor-
tes, eine komiſche Hieroglyphe, tritt, wie ſie ein andermal nur ein Motiv
aus ihm entnimmt; das Letztere liebt namentlich jenes von ſatyriſcher
Abſicht freiere humoriſtiſche Sittenbild: der Text ſagt, was die dargeſtell-
ten Perſonen ſprechen, der Künſtler zeigt uns, wie Menſchen bei ſolcher
Unterhaltung, wo ſie ſich ganz gehen laſſen, ganz naiv hinträumen u. ſ. w.,
eben gerade ausſehen. Der Text kann dabei einen Witz enthalten (vergl.
§. 193 Anm. 1) oder nicht. Hier fällt dann freilich mit der Satyre auch die
Uebertreibung, alſo das Grundmerkmal, das der Caricatur den Namen
gibt, häufig ganz weg und man befindet ſich im reinen Sittenbilde;
allein die Kunſt hat eine Maſſe flüchtiger Gedanken, die ſie nur raſch
hinwerfen, in die Welt ſchleudern will, und ſo übergibt ſie dieſelben, leicht
und geiſtreich ausgeführt, der vervielfältigenden Technik, durch deren Mittel
nun dieſes ganze Gebiet ſeine große praktiſche Bedeutung verwirklicht. —
Eine Geſchichte der Caricatur nach Styl und Stoffen wäre eine höchſt
lohnende Aufgabe; die Geſchichte der Staaten, der Religion, der Geſell-
ſchaft wäre dabei ſo tief betheiligt, als die Geſchichte der Kunſt, der na-
tionalen Auffaſſungen und Formen. In neuerer Zeit hat ſich neben dem
geiſtreichen Wurfe und der leicht aufſchäumenden, eleganten, freilich oft
mehr frivolen, als komiſchen Bosheit der franzöſiſchen, neben der markig
groben Herbe, der ſchwer und tief einſchneidenden, graſſer überladenden
Schärfe der engliſchen Caricatur entſchieden ein eigener deutſcher Carica-
turſtyl ausgebildet, der ganz den deutſchen Charakter ausdrückt, indem
bei aller Schärfe doch der Humor über den bittern Ernſt vorwiegt und
in gutmüthiger Laune hanswurſtartig die Miene einer gewiſſen gemüth-
lichen Dummlichkeit annimmt; das Hauptverdienſt bleibt den fliegenden
Blättern.

§. 743.

Durch die Nachbildung in Metall, Holz, Stein bietet die ver-
vielfältigende
Technik, die aber hier ein bedeutendes reproductives Kunſt-
talent in Anſpruch nimmt, ſowohl einen Erſatz für die Anſchauung des ausge-
führten Gemäldes, als auch eine Form leichter Mittheilung der augenblicklichen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p>
              <pb facs="#f0270" n="762"/> <hi rendition="#et">führen oder wenig&#x017F;tens ein Thema nach allen Seiten, wie in den Todten-<lb/>
tänzen, durch&#x017F;pielen. Man &#x017F;ieht, wie hier die Malerei mehr und mehr<lb/>
frei <hi rendition="#g">dichtend</hi> auftritt, was auf §. 694 zurückführt. Die Anlehnung an<lb/>
einen gegebenen Text kann dabei auch wegfallen, im Ganzen aber bleibt<lb/>
&#x017F;ie ein Hauptmerkmal der Un&#x017F;elb&#x017F;tändigkeit des, obwohl &#x017F;o großen und<lb/>
bedeutenden, Gebiets, das uns hier vorliegt. Es wäre &#x017F;ehr intere&#x017F;&#x017F;ant,<lb/>
das Verhältniß zum Texte näher zu beleuchten, wie er bald den Witz er&#x017F;t<lb/>
vollendet, wie bald umgekehrt die Caricatur ganz an die Stelle des Wor-<lb/>
tes, eine komi&#x017F;che Hieroglyphe, tritt, wie &#x017F;ie ein andermal nur ein Motiv<lb/>
aus ihm entnimmt; das Letztere liebt namentlich jenes von &#x017F;atyri&#x017F;cher<lb/>
Ab&#x017F;icht freiere humori&#x017F;ti&#x017F;che Sittenbild: der Text &#x017F;agt, was die darge&#x017F;tell-<lb/>
ten Per&#x017F;onen &#x017F;prechen, der Kün&#x017F;tler zeigt uns, wie Men&#x017F;chen bei &#x017F;olcher<lb/>
Unterhaltung, wo &#x017F;ie &#x017F;ich ganz gehen la&#x017F;&#x017F;en, ganz naiv hinträumen u. &#x017F;. w.,<lb/>
eben gerade aus&#x017F;ehen. Der Text kann dabei einen Witz enthalten (vergl.<lb/>
§. 193 Anm. 1) oder nicht. Hier fällt dann freilich mit der Satyre auch die<lb/>
Uebertreibung, al&#x017F;o das Grundmerkmal, das der Caricatur den Namen<lb/>
gibt, häufig ganz weg und man befindet &#x017F;ich im reinen Sittenbilde;<lb/>
allein die Kun&#x017F;t hat eine Ma&#x017F;&#x017F;e flüchtiger Gedanken, die &#x017F;ie nur ra&#x017F;ch<lb/>
hinwerfen, in die Welt &#x017F;chleudern will, und &#x017F;o übergibt &#x017F;ie die&#x017F;elben, leicht<lb/>
und gei&#x017F;treich ausgeführt, der vervielfältigenden Technik, durch deren Mittel<lb/>
nun die&#x017F;es ganze Gebiet &#x017F;eine große prakti&#x017F;che Bedeutung verwirklicht. &#x2014;<lb/>
Eine Ge&#x017F;chichte der Caricatur nach Styl und Stoffen wäre eine höch&#x017F;t<lb/>
lohnende Aufgabe; die Ge&#x017F;chichte der Staaten, der Religion, der Ge&#x017F;ell-<lb/>
&#x017F;chaft wäre dabei &#x017F;o tief betheiligt, als die Ge&#x017F;chichte der Kun&#x017F;t, der na-<lb/>
tionalen Auffa&#x017F;&#x017F;ungen und Formen. In neuerer Zeit hat &#x017F;ich neben dem<lb/>
gei&#x017F;treichen Wurfe und der leicht auf&#x017F;chäumenden, eleganten, freilich oft<lb/>
mehr frivolen, als komi&#x017F;chen Bosheit der franzö&#x017F;i&#x017F;chen, neben der markig<lb/>
groben Herbe, der &#x017F;chwer und tief ein&#x017F;chneidenden, gra&#x017F;&#x017F;er überladenden<lb/>
Schärfe der engli&#x017F;chen Caricatur ent&#x017F;chieden ein eigener deut&#x017F;cher Carica-<lb/>
tur&#x017F;tyl ausgebildet, der ganz den deut&#x017F;chen Charakter ausdrückt, indem<lb/>
bei aller Schärfe doch der Humor über den bittern Ern&#x017F;t vorwiegt und<lb/>
in gutmüthiger Laune hanswur&#x017F;tartig die Miene einer gewi&#x017F;&#x017F;en gemüth-<lb/>
lichen Dummlichkeit annimmt; das Hauptverdien&#x017F;t bleibt den fliegenden<lb/>
Blättern.</hi> </p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 743.</head><lb/>
            <p> <hi rendition="#fr">Durch die Nachbildung in <hi rendition="#g">Metall, Holz, Stein</hi> bietet die <hi rendition="#g">ver-<lb/>
vielfältigende</hi> Technik, die aber hier ein bedeutendes reproductives Kun&#x017F;t-<lb/>
talent in An&#x017F;pruch nimmt, &#x017F;owohl einen Er&#x017F;atz für die An&#x017F;chauung des ausge-<lb/>
führten Gemäldes, als auch eine Form leichter Mittheilung der augenblicklichen<lb/></hi> </p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[762/0270] führen oder wenigſtens ein Thema nach allen Seiten, wie in den Todten- tänzen, durchſpielen. Man ſieht, wie hier die Malerei mehr und mehr frei dichtend auftritt, was auf §. 694 zurückführt. Die Anlehnung an einen gegebenen Text kann dabei auch wegfallen, im Ganzen aber bleibt ſie ein Hauptmerkmal der Unſelbſtändigkeit des, obwohl ſo großen und bedeutenden, Gebiets, das uns hier vorliegt. Es wäre ſehr intereſſant, das Verhältniß zum Texte näher zu beleuchten, wie er bald den Witz erſt vollendet, wie bald umgekehrt die Caricatur ganz an die Stelle des Wor- tes, eine komiſche Hieroglyphe, tritt, wie ſie ein andermal nur ein Motiv aus ihm entnimmt; das Letztere liebt namentlich jenes von ſatyriſcher Abſicht freiere humoriſtiſche Sittenbild: der Text ſagt, was die dargeſtell- ten Perſonen ſprechen, der Künſtler zeigt uns, wie Menſchen bei ſolcher Unterhaltung, wo ſie ſich ganz gehen laſſen, ganz naiv hinträumen u. ſ. w., eben gerade ausſehen. Der Text kann dabei einen Witz enthalten (vergl. §. 193 Anm. 1) oder nicht. Hier fällt dann freilich mit der Satyre auch die Uebertreibung, alſo das Grundmerkmal, das der Caricatur den Namen gibt, häufig ganz weg und man befindet ſich im reinen Sittenbilde; allein die Kunſt hat eine Maſſe flüchtiger Gedanken, die ſie nur raſch hinwerfen, in die Welt ſchleudern will, und ſo übergibt ſie dieſelben, leicht und geiſtreich ausgeführt, der vervielfältigenden Technik, durch deren Mittel nun dieſes ganze Gebiet ſeine große praktiſche Bedeutung verwirklicht. — Eine Geſchichte der Caricatur nach Styl und Stoffen wäre eine höchſt lohnende Aufgabe; die Geſchichte der Staaten, der Religion, der Geſell- ſchaft wäre dabei ſo tief betheiligt, als die Geſchichte der Kunſt, der na- tionalen Auffaſſungen und Formen. In neuerer Zeit hat ſich neben dem geiſtreichen Wurfe und der leicht aufſchäumenden, eleganten, freilich oft mehr frivolen, als komiſchen Bosheit der franzöſiſchen, neben der markig groben Herbe, der ſchwer und tief einſchneidenden, graſſer überladenden Schärfe der engliſchen Caricatur entſchieden ein eigener deutſcher Carica- turſtyl ausgebildet, der ganz den deutſchen Charakter ausdrückt, indem bei aller Schärfe doch der Humor über den bittern Ernſt vorwiegt und in gutmüthiger Laune hanswurſtartig die Miene einer gewiſſen gemüth- lichen Dummlichkeit annimmt; das Hauptverdienſt bleibt den fliegenden Blättern. §. 743. Durch die Nachbildung in Metall, Holz, Stein bietet die ver- vielfältigende Technik, die aber hier ein bedeutendes reproductives Kunſt- talent in Anſpruch nimmt, ſowohl einen Erſatz für die Anſchauung des ausge- führten Gemäldes, als auch eine Form leichter Mittheilung der augenblicklichen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/270
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 762. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/270>, abgerufen am 21.12.2024.