Menschlichkeit, in welche er einen kirchlich mythischen Stoff umsetzt: so in der herrlichen Gruppe der Madonna und der Bürgermeisterfamilie in Dresden. Aber er kann auf diesem Wege nicht fortgehen, die Nation, die Zeit trägt ihn nicht, die erforderlichen Zweige der Kunst sind noch nicht reif zum Ausschlüpfen und so wirft er sich mit seiner plastisch geläu- terten Physiognomik zuletzt ganz auf das Porträt; von dieser Seite haben wir die wunderbare Natur des Mannes schon zu §. 708 besprochen. -- H. Holbein steht allerdings nicht ganz allein; in der fränkischen Gruppe der Schüler Dürers und verwandter Richtungen leuchtet M. Grünewald mit seinem tieferen Gefühl der Grazie hervor, in Ulm eignet sich der offene, milde M. Schaffner italienischen Zug der Zeichnung an, der Gmünder Hans Baldung Grien zeigt vollere Formen und Kenntniß des Correggio; allein auch diese Männer stehen vereinzelt und der Sinn für die gereinigte Form hat in ihnen weit nicht die Kraft und Fülle wie in H. Holbein. So bleibt es dabei, daß es für eine wahre innere Ver- schmelzung des nöthigen Maaßes plastischer Schönheit mit dem streng malerischen Style zu spät und zu früh war. Unter wachsender sittenbild- licher Behandlung der religiösen Stoffe sehen wir auch am Niederrhein seelenvolle Empfindung mitten in scharf individueller Umgebung sich in anmuthvollere Form kleiden; wir erinnern an den Kölner Meister vom Tode der Maria (sonst mit Schoreel verwechselt) und Andere; besonders interessant aber wendet sich die Sache in den Niederlanden, was zum Schluß noch ausdrücklich hervorzuheben ist.
§. 732.
Zwei bezeichnende Erscheinungen treten als Ausläufer dieses Zeitraums in den Niederlanden hervor: die ersten Uebergänge zum reinen Sittenbild und zur Landschaft, zugleich aber statt einer organischen Fortbildung jener Einflüsse des italienischen Styls eine völlig unfreie, des eigenen Geistes sich entäußernde, leere Nachahmung seiner Formen.
Nicht eine letzte große Blüthe, die gewaltig auf ein neues Ideal hinüberweise, wie die venetianische Schule, bildet die in das sechzehnte Jahrhundert tiefer hineinlaufenden Schlußpuncte dieser Periode der deut- schen Malerei. Eine solche hätte ja nur in einer entschiedenen, schwung- haften Wendung zu dem sogenannten Profanen und in einer Läuterung des Styls zu reinen Formen bestehen können. Jene Wendung tritt noch nicht ein, aber vereinzelte merkwürdige Uebergänge, und zwar da, wo später die betreffenden Zweige zuerst aufblühen sollten: in Flandern und Holland. Merkwürdiger Weise wirft ein und derselbe Künstler, der im
Menſchlichkeit, in welche er einen kirchlich mythiſchen Stoff umſetzt: ſo in der herrlichen Gruppe der Madonna und der Bürgermeiſterfamilie in Dresden. Aber er kann auf dieſem Wege nicht fortgehen, die Nation, die Zeit trägt ihn nicht, die erforderlichen Zweige der Kunſt ſind noch nicht reif zum Ausſchlüpfen und ſo wirft er ſich mit ſeiner plaſtiſch geläu- terten Phyſiognomik zuletzt ganz auf das Porträt; von dieſer Seite haben wir die wunderbare Natur des Mannes ſchon zu §. 708 beſprochen. — H. Holbein ſteht allerdings nicht ganz allein; in der fränkiſchen Gruppe der Schüler Dürers und verwandter Richtungen leuchtet M. Grünewald mit ſeinem tieferen Gefühl der Grazie hervor, in Ulm eignet ſich der offene, milde M. Schaffner italieniſchen Zug der Zeichnung an, der Gmünder Hans Baldung Grien zeigt vollere Formen und Kenntniß des Correggio; allein auch dieſe Männer ſtehen vereinzelt und der Sinn für die gereinigte Form hat in ihnen weit nicht die Kraft und Fülle wie in H. Holbein. So bleibt es dabei, daß es für eine wahre innere Ver- ſchmelzung des nöthigen Maaßes plaſtiſcher Schönheit mit dem ſtreng maleriſchen Style zu ſpät und zu früh war. Unter wachſender ſittenbild- licher Behandlung der religiöſen Stoffe ſehen wir auch am Niederrhein ſeelenvolle Empfindung mitten in ſcharf individueller Umgebung ſich in anmuthvollere Form kleiden; wir erinnern an den Kölner Meiſter vom Tode der Maria (ſonſt mit Schoreel verwechſelt) und Andere; beſonders intereſſant aber wendet ſich die Sache in den Niederlanden, was zum Schluß noch ausdrücklich hervorzuheben iſt.
§. 732.
Zwei bezeichnende Erſcheinungen treten als Ausläufer dieſes Zeitraums in den Niederlanden hervor: die erſten Uebergänge zum reinen Sittenbild und zur Landſchaft, zugleich aber ſtatt einer organiſchen Fortbildung jener Einflüſſe des italieniſchen Styls eine völlig unfreie, des eigenen Geiſtes ſich entäußernde, leere Nachahmung ſeiner Formen.
Nicht eine letzte große Blüthe, die gewaltig auf ein neues Ideal hinüberweiſe, wie die venetianiſche Schule, bildet die in das ſechzehnte Jahrhundert tiefer hineinlaufenden Schlußpuncte dieſer Periode der deut- ſchen Malerei. Eine ſolche hätte ja nur in einer entſchiedenen, ſchwung- haften Wendung zu dem ſogenannten Profanen und in einer Läuterung des Styls zu reinen Formen beſtehen können. Jene Wendung tritt noch nicht ein, aber vereinzelte merkwürdige Uebergänge, und zwar da, wo ſpäter die betreffenden Zweige zuerſt aufblühen ſollten: in Flandern und Holland. Merkwürdiger Weiſe wirft ein und derſelbe Künſtler, der im
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Menſchlichkeit, in welche er einen kirchlich mythiſchen Stoff umſetzt: ſo in
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Dresden. Aber er kann auf dieſem Wege nicht fortgehen, die Nation,
die Zeit trägt ihn nicht, die erforderlichen Zweige der Kunſt ſind noch
nicht reif zum Ausſchlüpfen und ſo wirft er ſich mit ſeiner plaſtiſch geläu-
terten Phyſiognomik zuletzt ganz auf das Porträt; von dieſer Seite haben
wir die wunderbare Natur des Mannes ſchon zu §. 708 beſprochen. —
H. Holbein ſteht allerdings nicht ganz allein; in der fränkiſchen Gruppe
der Schüler Dürers und verwandter Richtungen leuchtet M. Grünewald
mit ſeinem tieferen Gefühl der Grazie hervor, in Ulm eignet ſich der
offene, milde M. Schaffner italieniſchen Zug der Zeichnung an, der
Gmünder Hans Baldung Grien zeigt vollere Formen und Kenntniß
des Correggio; allein auch dieſe Männer ſtehen vereinzelt und der Sinn
für die gereinigte Form hat in ihnen weit nicht die Kraft und Fülle wie
in H. Holbein. So bleibt es dabei, daß es für eine wahre innere Ver-
ſchmelzung des nöthigen Maaßes plaſtiſcher Schönheit mit dem ſtreng
maleriſchen Style zu ſpät und zu früh war. Unter wachſender ſittenbild-
licher Behandlung der religiöſen Stoffe ſehen wir auch am Niederrhein
ſeelenvolle Empfindung mitten in ſcharf individueller Umgebung ſich in
anmuthvollere Form kleiden; wir erinnern an den Kölner Meiſter vom
Tode der Maria (ſonſt mit Schoreel verwechſelt) und Andere; beſonders
intereſſant aber wendet ſich die Sache in den Niederlanden, was zum
Schluß noch ausdrücklich hervorzuheben iſt.
§. 732.
Zwei bezeichnende Erſcheinungen treten als Ausläufer dieſes Zeitraums
in den Niederlanden hervor: die erſten Uebergänge zum reinen Sittenbild und zur
Landſchaft, zugleich aber ſtatt einer organiſchen Fortbildung jener Einflüſſe des
italieniſchen Styls eine völlig unfreie, des eigenen Geiſtes ſich entäußernde,
leere Nachahmung ſeiner Formen.
Nicht eine letzte große Blüthe, die gewaltig auf ein neues Ideal
hinüberweiſe, wie die venetianiſche Schule, bildet die in das ſechzehnte
Jahrhundert tiefer hineinlaufenden Schlußpuncte dieſer Periode der deut-
ſchen Malerei. Eine ſolche hätte ja nur in einer entſchiedenen, ſchwung-
haften Wendung zu dem ſogenannten Profanen und in einer Läuterung
des Styls zu reinen Formen beſtehen können. Jene Wendung tritt noch
nicht ein, aber vereinzelte merkwürdige Uebergänge, und zwar da, wo
ſpäter die betreffenden Zweige zuerſt aufblühen ſollten: in Flandern und
Holland. Merkwürdiger Weiſe wirft ein und derſelbe Künſtler, der im
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 738. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/246>, abgerufen am 21.02.2025.
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