Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

der sein organisches Bette nicht findet und sich daher seitwärts in phan-
tastisch traumhaften Erfindungen und in einer, freilich nun höchst geist-
reichen, Welt von Arabesken abladet. Dieses wilde Ranken haben wir
ähnlich in der späteren romanischen Architektur gefunden. In der Re-
formationszeit werden wir allerdings den Humor sich tiefer in der ge-
schichtlichen Stimmung begründen sehen; hier war er vorerst als allge-
meine Eigenschaft zur Sprache zu bringen.

§. 727.

Der neue Geist legt sich auch hier zuerst in die aus dem Alterthum
überlieferten Reste plastischer Form und weiß, indem er dieselben in raschem
Fortschritte mit innerem Leben beseelt, eine harmlos liebevolle Gemüthswelt
mit der Rundung und fließenden Weichheit der Form zu verschmelzen, die sich
zum Theil noch auf jene Erbschaft gründet. Die höchste Stufe in dieser Richtung
erreicht die Kölner-Schule. Von jenem zwiespältigen Charakter (§. 726)
ist noch nichts sichtbar. Allein in diesem, trotz der Wärme, die bereits das
Colorit entwickelt, und trotz den ersten Ansätzen bestimmteren Individualisirens
fast körperlos idealen Style, der des fruchtbaren Gegensatzes einer andern, mit
männlicherem Geist in die Wirklichkeit greifenden Schule entbehrt, ist das ächt
Malerische so schwach ausgebildet, daß er von einem folgenden, statt ihm ein
Gegengewicht zu geben, verdrängt wird.

Wir eilen an dem Spätrömischen oder Altchristlichen, der Zeit der
Geltung jener gesunkenen antiken Typen, welche nach Deutschland durch
Carl den Großen verpflanzt wurden, so wie an dem Byzantinischen, das
hier ebenfalls eindringt, mit der kurzen Bemerkung vorüber, daß ein Zug
zum national Individuellen, Porträtartigen, so wie zur Arabeske schon in
dieser frühen Zeit merklich hervortritt, und überblicken die Epoche des raschen
Ansteigens bis in den Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts. Die Fort-
schritte geschahen schneller, als in Italien; jene erste Strömung von Leben
und Seele, von Affect, bewegter Gebärdensprache, Aufmerksamkeit auf
Culturformen, welche in die erstarrten antiken Typen eindringt und den soge-
nannten romanischen Styl gründet, beginnt schon im Anfange des zwölften
Jahrhunderts, während Duccio und Cimabue erst am Ende des dreizehnten
und Anfang des vierzehnten auftreten; die zweite Stufe, neuerdings die
germanische genannt, auf welcher die erschlossene Gemüthswelt des Mittel-
alters die Formen, worin zwar immer noch ein Rest antik plastischen
Gefühls sich erhalten hat, tiefer, inniger beseelt, und welche in Italien
durch die Schule des Giotto in Florenz und die Schule von Siena im
vierzehnten Jahrhundert dargestellt wird, beginnt in Deutschland schon im

der ſein organiſches Bette nicht findet und ſich daher ſeitwärts in phan-
taſtiſch traumhaften Erfindungen und in einer, freilich nun höchſt geiſt-
reichen, Welt von Arabesken abladet. Dieſes wilde Ranken haben wir
ähnlich in der ſpäteren romaniſchen Architektur gefunden. In der Re-
formationszeit werden wir allerdings den Humor ſich tiefer in der ge-
ſchichtlichen Stimmung begründen ſehen; hier war er vorerſt als allge-
meine Eigenſchaft zur Sprache zu bringen.

§. 727.

Der neue Geiſt legt ſich auch hier zuerſt in die aus dem Alterthum
überlieferten Reſte plaſtiſcher Form und weiß, indem er dieſelben in raſchem
Fortſchritte mit innerem Leben beſeelt, eine harmlos liebevolle Gemüthswelt
mit der Rundung und fließenden Weichheit der Form zu verſchmelzen, die ſich
zum Theil noch auf jene Erbſchaft gründet. Die höchſte Stufe in dieſer Richtung
erreicht die Kölner-Schule. Von jenem zwieſpältigen Charakter (§. 726)
iſt noch nichts ſichtbar. Allein in dieſem, trotz der Wärme, die bereits das
Colorit entwickelt, und trotz den erſten Anſätzen beſtimmteren Individualiſirens
faſt körperlos idealen Style, der des fruchtbaren Gegenſatzes einer andern, mit
männlicherem Geiſt in die Wirklichkeit greifenden Schule entbehrt, iſt das ächt
Maleriſche ſo ſchwach ausgebildet, daß er von einem folgenden, ſtatt ihm ein
Gegengewicht zu geben, verdrängt wird.

Wir eilen an dem Spätrömiſchen oder Altchriſtlichen, der Zeit der
Geltung jener geſunkenen antiken Typen, welche nach Deutſchland durch
Carl den Großen verpflanzt wurden, ſo wie an dem Byzantiniſchen, das
hier ebenfalls eindringt, mit der kurzen Bemerkung vorüber, daß ein Zug
zum national Individuellen, Porträtartigen, ſo wie zur Arabeske ſchon in
dieſer frühen Zeit merklich hervortritt, und überblicken die Epoche des raſchen
Anſteigens bis in den Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts. Die Fort-
ſchritte geſchahen ſchneller, als in Italien; jene erſte Strömung von Leben
und Seele, von Affect, bewegter Gebärdenſprache, Aufmerkſamkeit auf
Culturformen, welche in die erſtarrten antiken Typen eindringt und den ſoge-
nannten romaniſchen Styl gründet, beginnt ſchon im Anfange des zwölften
Jahrhunderts, während Duccio und Cimabue erſt am Ende des dreizehnten
und Anfang des vierzehnten auftreten; die zweite Stufe, neuerdings die
germaniſche genannt, auf welcher die erſchloſſene Gemüthswelt des Mittel-
alters die Formen, worin zwar immer noch ein Reſt antik plaſtiſchen
Gefühls ſich erhalten hat, tiefer, inniger beſeelt, und welche in Italien
durch die Schule des Giotto in Florenz und die Schule von Siena im
vierzehnten Jahrhundert dargeſtellt wird, beginnt in Deutſchland ſchon im

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0236" n="728"/>
der &#x017F;ein organi&#x017F;ches Bette nicht findet und &#x017F;ich daher &#x017F;eitwärts in phan-<lb/>
ta&#x017F;ti&#x017F;ch traumhaften Erfindungen und in einer, freilich nun höch&#x017F;t gei&#x017F;t-<lb/>
reichen, Welt von Arabesken abladet. Die&#x017F;es wilde Ranken haben wir<lb/>
ähnlich in der &#x017F;päteren romani&#x017F;chen Architektur gefunden. In der Re-<lb/>
formationszeit werden wir allerdings den Humor &#x017F;ich tiefer in der ge-<lb/>
&#x017F;chichtlichen Stimmung begründen &#x017F;ehen; hier war er vorer&#x017F;t als allge-<lb/>
meine Eigen&#x017F;chaft zur Sprache zu bringen.</hi> </p>
              </div><lb/>
              <div n="5">
                <head>§. 727.</head><lb/>
                <p> <hi rendition="#fr">Der neue Gei&#x017F;t legt &#x017F;ich auch hier zuer&#x017F;t in die aus dem Alterthum<lb/>
überlieferten Re&#x017F;te pla&#x017F;ti&#x017F;cher Form und weiß, indem er die&#x017F;elben in ra&#x017F;chem<lb/>
Fort&#x017F;chritte mit innerem Leben be&#x017F;eelt, eine harmlos liebevolle Gemüthswelt<lb/>
mit der Rundung und fließenden Weichheit der Form zu ver&#x017F;chmelzen, die &#x017F;ich<lb/>
zum Theil noch auf jene Erb&#x017F;chaft gründet. Die höch&#x017F;te Stufe in die&#x017F;er Richtung<lb/>
erreicht die <hi rendition="#g">Kölner</hi>-Schule. Von jenem zwie&#x017F;pältigen Charakter (§. 726)<lb/>
i&#x017F;t noch nichts &#x017F;ichtbar. Allein in die&#x017F;em, trotz der Wärme, die bereits das<lb/>
Colorit entwickelt, und trotz den er&#x017F;ten An&#x017F;ätzen be&#x017F;timmteren Individuali&#x017F;irens<lb/>
fa&#x017F;t körperlos idealen Style, der des fruchtbaren Gegen&#x017F;atzes einer andern, mit<lb/>
männlicherem Gei&#x017F;t in die Wirklichkeit greifenden Schule entbehrt, i&#x017F;t das ächt<lb/>
Maleri&#x017F;che &#x017F;o &#x017F;chwach ausgebildet, daß er von einem folgenden, &#x017F;tatt ihm ein<lb/>
Gegengewicht zu geben, verdrängt wird.</hi> </p><lb/>
                <p> <hi rendition="#et">Wir eilen an dem Spätrömi&#x017F;chen oder Altchri&#x017F;tlichen, der Zeit der<lb/>
Geltung jener ge&#x017F;unkenen antiken Typen, welche nach Deut&#x017F;chland durch<lb/>
Carl den Großen verpflanzt wurden, &#x017F;o wie an dem Byzantini&#x017F;chen, das<lb/>
hier ebenfalls eindringt, mit der kurzen Bemerkung vorüber, daß ein Zug<lb/>
zum national Individuellen, Porträtartigen, &#x017F;o wie zur Arabeske &#x017F;chon in<lb/>
die&#x017F;er frühen Zeit merklich hervortritt, und überblicken die Epoche des ra&#x017F;chen<lb/>
An&#x017F;teigens bis in den Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts. Die Fort-<lb/>
&#x017F;chritte ge&#x017F;chahen &#x017F;chneller, als in Italien; jene er&#x017F;te Strömung von Leben<lb/>
und Seele, von Affect, bewegter Gebärden&#x017F;prache, Aufmerk&#x017F;amkeit auf<lb/>
Culturformen, welche in die er&#x017F;tarrten antiken Typen eindringt und den &#x017F;oge-<lb/>
nannten romani&#x017F;chen Styl gründet, beginnt &#x017F;chon im Anfange des zwölften<lb/>
Jahrhunderts, während Duccio und Cimabue er&#x017F;t am Ende des dreizehnten<lb/>
und Anfang des vierzehnten auftreten; die zweite Stufe, neuerdings die<lb/>
germani&#x017F;che genannt, auf welcher die er&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;ene Gemüthswelt des Mittel-<lb/>
alters die Formen, worin zwar immer noch ein Re&#x017F;t antik pla&#x017F;ti&#x017F;chen<lb/>
Gefühls &#x017F;ich erhalten hat, tiefer, inniger be&#x017F;eelt, und welche in Italien<lb/>
durch die Schule des Giotto in Florenz und die Schule von Siena im<lb/>
vierzehnten Jahrhundert darge&#x017F;tellt wird, beginnt in Deut&#x017F;chland &#x017F;chon im<lb/></hi> </p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[728/0236] der ſein organiſches Bette nicht findet und ſich daher ſeitwärts in phan- taſtiſch traumhaften Erfindungen und in einer, freilich nun höchſt geiſt- reichen, Welt von Arabesken abladet. Dieſes wilde Ranken haben wir ähnlich in der ſpäteren romaniſchen Architektur gefunden. In der Re- formationszeit werden wir allerdings den Humor ſich tiefer in der ge- ſchichtlichen Stimmung begründen ſehen; hier war er vorerſt als allge- meine Eigenſchaft zur Sprache zu bringen. §. 727. Der neue Geiſt legt ſich auch hier zuerſt in die aus dem Alterthum überlieferten Reſte plaſtiſcher Form und weiß, indem er dieſelben in raſchem Fortſchritte mit innerem Leben beſeelt, eine harmlos liebevolle Gemüthswelt mit der Rundung und fließenden Weichheit der Form zu verſchmelzen, die ſich zum Theil noch auf jene Erbſchaft gründet. Die höchſte Stufe in dieſer Richtung erreicht die Kölner-Schule. Von jenem zwieſpältigen Charakter (§. 726) iſt noch nichts ſichtbar. Allein in dieſem, trotz der Wärme, die bereits das Colorit entwickelt, und trotz den erſten Anſätzen beſtimmteren Individualiſirens faſt körperlos idealen Style, der des fruchtbaren Gegenſatzes einer andern, mit männlicherem Geiſt in die Wirklichkeit greifenden Schule entbehrt, iſt das ächt Maleriſche ſo ſchwach ausgebildet, daß er von einem folgenden, ſtatt ihm ein Gegengewicht zu geben, verdrängt wird. Wir eilen an dem Spätrömiſchen oder Altchriſtlichen, der Zeit der Geltung jener geſunkenen antiken Typen, welche nach Deutſchland durch Carl den Großen verpflanzt wurden, ſo wie an dem Byzantiniſchen, das hier ebenfalls eindringt, mit der kurzen Bemerkung vorüber, daß ein Zug zum national Individuellen, Porträtartigen, ſo wie zur Arabeske ſchon in dieſer frühen Zeit merklich hervortritt, und überblicken die Epoche des raſchen Anſteigens bis in den Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts. Die Fort- ſchritte geſchahen ſchneller, als in Italien; jene erſte Strömung von Leben und Seele, von Affect, bewegter Gebärdenſprache, Aufmerkſamkeit auf Culturformen, welche in die erſtarrten antiken Typen eindringt und den ſoge- nannten romaniſchen Styl gründet, beginnt ſchon im Anfange des zwölften Jahrhunderts, während Duccio und Cimabue erſt am Ende des dreizehnten und Anfang des vierzehnten auftreten; die zweite Stufe, neuerdings die germaniſche genannt, auf welcher die erſchloſſene Gemüthswelt des Mittel- alters die Formen, worin zwar immer noch ein Reſt antik plaſtiſchen Gefühls ſich erhalten hat, tiefer, inniger beſeelt, und welche in Italien durch die Schule des Giotto in Florenz und die Schule von Siena im vierzehnten Jahrhundert dargeſtellt wird, beginnt in Deutſchland ſchon im

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/236
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 728. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/236>, abgerufen am 21.11.2024.