Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

halb des italienischen, plastisch-malerischen Styls hinstellt. Die wesentlich
Charakterbezeichnenden, Porträt-artigen Züge des einzelnen Menschen
können mit musterhafterer Aussonderung der unwesentlichen, zufälligen,
die Großheit des Styles störenden Züge nicht in den Kreis des Schönen
hereingezogen werden. Hierin unterstützt auch ihn das eigentliche Porträt,
das er mit demselben Geiste stylisirt und doch, wie es der Zweig verlangt,
in die nähere, empirische Aehnlichkeit hereinführt. Die Farbe hat er in jener
Wärme der Seelengluth von seinem Meister übernommen und führt sie
im Bildniß bis zur Vollendung venetianischen Colorits heraus; dieß jedoch
nur im Einzelnen, denn auf diesem Punct öffnet sich ein neuer Weg, den
er nach seiner Richtung nicht bleibend einschlagen konnte.

§. 725.

1.

Die italienische Malerei tritt mit einer bedeutenden Entwicklung noch
über die Zeitgrenze des ausgehenden Mittelalters hinaus. Die Manier dringt
ein, in der Nachahmung M. Angelo's als Schwulst, mit Correggio als falsche
2.Grazie nervös erregter Empfindsamkeit. Aber neben dem Verfall entbindet sich
eine neue Macht: die ächt malerische Schönheit des Helldunkels durch Cor-
reggio
, des zu seiner spezifischen Magie erhobenen Colorits durch die vene-
tianische
Schule. Doch die Consequenz des streng malerischen Prinzips des
indirecten Idealismus wird hieraus nicht gezogen; auch die venetianische Schule
bewahrt auf Grund der paduanischen Vorstudien den Adel der Form und bleibt
bei den mythischen Stoffen, an welche sie trotz der erhöhten Gewalt, mit der
es hervorbricht, auch jetzt, und zwar nur um so äußerlicher, das allgemein
Menschliche und Geschichtliche knüpft.

1. Weit in das sechzehnte Jahrhundert müssen wir hier herein-
rücken; wir treten auf die Brücke, die zum germanischen Stylprinzip und
zu der modernen Zeit herüberführt, aber ihre Pfeiler sind, so weit wir
gehen, noch vom Mittelalter und vom italienisch plastischen Geiste gebaut.
Der Verfall in Manier, den wir zuerst in das Auge fassen, hat freilich
in seinem innersten Wesen ächt moderne, subjective Bewußtheit, Prahlerei
der Virtuosität zum Grunde, die eitel über dem ausgehöhlten Inhalte
schwebt. In der Geschichte der Phantasie stellten wir diese Erscheinung
in die Vorstufe des modernen Ideals (§. 473), indem wir die Rücksicht
auf die darin liegende Stimmung zum Prinzip der Anordnung machten.
Hier aber berücksichtigen wir zunächst mehr die Stoffe, dann eine gewisse
Seite der Stylformen und ziehen daher diese geschichtliche Wendung der
Kunst noch zum Mittelalter. Es besteht nämlich der Widerspruch, daß
diese Bewußtheit noch in der Stoffwelt des Mittelalters sich bewegt und

halb des italieniſchen, plaſtiſch-maleriſchen Styls hinſtellt. Die weſentlich
Charakterbezeichnenden, Porträt-artigen Züge des einzelnen Menſchen
können mit muſterhafterer Ausſonderung der unweſentlichen, zufälligen,
die Großheit des Styles ſtörenden Züge nicht in den Kreis des Schönen
hereingezogen werden. Hierin unterſtützt auch ihn das eigentliche Porträt,
das er mit demſelben Geiſte ſtyliſirt und doch, wie es der Zweig verlangt,
in die nähere, empiriſche Aehnlichkeit hereinführt. Die Farbe hat er in jener
Wärme der Seelengluth von ſeinem Meiſter übernommen und führt ſie
im Bildniß bis zur Vollendung venetianiſchen Colorits heraus; dieß jedoch
nur im Einzelnen, denn auf dieſem Punct öffnet ſich ein neuer Weg, den
er nach ſeiner Richtung nicht bleibend einſchlagen konnte.

§. 725.

1.

Die italieniſche Malerei tritt mit einer bedeutenden Entwicklung noch
über die Zeitgrenze des ausgehenden Mittelalters hinaus. Die Manier dringt
ein, in der Nachahmung M. Angelo’s als Schwulſt, mit Correggio als falſche
2.Grazie nervös erregter Empfindſamkeit. Aber neben dem Verfall entbindet ſich
eine neue Macht: die ächt maleriſche Schönheit des Helldunkels durch Cor-
reggio
, des zu ſeiner ſpezifiſchen Magie erhobenen Colorits durch die vene-
tianiſche
Schule. Doch die Conſequenz des ſtreng maleriſchen Prinzips des
indirecten Idealiſmus wird hieraus nicht gezogen; auch die venetianiſche Schule
bewahrt auf Grund der paduaniſchen Vorſtudien den Adel der Form und bleibt
bei den mythiſchen Stoffen, an welche ſie trotz der erhöhten Gewalt, mit der
es hervorbricht, auch jetzt, und zwar nur um ſo äußerlicher, das allgemein
Menſchliche und Geſchichtliche knüpft.

1. Weit in das ſechzehnte Jahrhundert müſſen wir hier herein-
rücken; wir treten auf die Brücke, die zum germaniſchen Stylprinzip und
zu der modernen Zeit herüberführt, aber ihre Pfeiler ſind, ſo weit wir
gehen, noch vom Mittelalter und vom italieniſch plaſtiſchen Geiſte gebaut.
Der Verfall in Manier, den wir zuerſt in das Auge faſſen, hat freilich
in ſeinem innerſten Weſen ächt moderne, ſubjective Bewußtheit, Prahlerei
der Virtuoſität zum Grunde, die eitel über dem ausgehöhlten Inhalte
ſchwebt. In der Geſchichte der Phantaſie ſtellten wir dieſe Erſcheinung
in die Vorſtufe des modernen Ideals (§. 473), indem wir die Rückſicht
auf die darin liegende Stimmung zum Prinzip der Anordnung machten.
Hier aber berückſichtigen wir zunächſt mehr die Stoffe, dann eine gewiſſe
Seite der Stylformen und ziehen daher dieſe geſchichtliche Wendung der
Kunſt noch zum Mittelalter. Es beſteht nämlich der Widerſpruch, daß
dieſe Bewußtheit noch in der Stoffwelt des Mittelalters ſich bewegt und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0226" n="718"/>
halb des italieni&#x017F;chen, pla&#x017F;ti&#x017F;ch-maleri&#x017F;chen Styls hin&#x017F;tellt. Die we&#x017F;entlich<lb/>
Charakterbezeichnenden, Porträt-artigen Züge des einzelnen Men&#x017F;chen<lb/>
können mit mu&#x017F;terhafterer Aus&#x017F;onderung der unwe&#x017F;entlichen, zufälligen,<lb/>
die Großheit des Styles &#x017F;törenden Züge nicht in den Kreis des Schönen<lb/>
hereingezogen werden. Hierin unter&#x017F;tützt auch ihn das eigentliche Porträt,<lb/>
das er mit dem&#x017F;elben Gei&#x017F;te &#x017F;tyli&#x017F;irt und doch, wie es der Zweig verlangt,<lb/>
in die nähere, empiri&#x017F;che Aehnlichkeit hereinführt. Die Farbe hat er in jener<lb/>
Wärme der Seelengluth von &#x017F;einem Mei&#x017F;ter übernommen und führt &#x017F;ie<lb/>
im Bildniß bis zur Vollendung venetiani&#x017F;chen Colorits heraus; dieß jedoch<lb/>
nur im Einzelnen, denn auf die&#x017F;em Punct öffnet &#x017F;ich ein neuer Weg, den<lb/>
er nach &#x017F;einer Richtung nicht bleibend ein&#x017F;chlagen konnte.</hi> </p>
              </div><lb/>
              <div n="5">
                <head>§. 725.</head><lb/>
                <note place="left"> <hi rendition="#b">1.</hi> </note>
                <p> <hi rendition="#fr">Die italieni&#x017F;che Malerei tritt mit einer bedeutenden Entwicklung noch<lb/>
über die Zeitgrenze des ausgehenden Mittelalters hinaus. Die Manier dringt<lb/>
ein, in der Nachahmung M. Angelo&#x2019;s als Schwul&#x017F;t, mit Correggio als fal&#x017F;che<lb/><note place="left">2.</note>Grazie nervös erregter Empfind&#x017F;amkeit. Aber neben dem Verfall entbindet &#x017F;ich<lb/>
eine neue Macht: die ächt maleri&#x017F;che Schönheit des Helldunkels durch <hi rendition="#g">Cor-<lb/>
reggio</hi>, des zu &#x017F;einer &#x017F;pezifi&#x017F;chen Magie erhobenen Colorits durch die <hi rendition="#g">vene-<lb/>
tiani&#x017F;che</hi> Schule. Doch die Con&#x017F;equenz des &#x017F;treng maleri&#x017F;chen Prinzips des<lb/>
indirecten Ideali&#x017F;mus wird hieraus nicht gezogen; auch die venetiani&#x017F;che Schule<lb/>
bewahrt auf Grund der paduani&#x017F;chen Vor&#x017F;tudien den Adel der Form und bleibt<lb/>
bei den mythi&#x017F;chen Stoffen, an welche &#x017F;ie trotz der erhöhten Gewalt, mit der<lb/>
es hervorbricht, auch jetzt, und zwar nur um &#x017F;o äußerlicher, das allgemein<lb/>
Men&#x017F;chliche und Ge&#x017F;chichtliche knüpft.</hi> </p><lb/>
                <p> <hi rendition="#et">1. Weit in das &#x017F;echzehnte Jahrhundert mü&#x017F;&#x017F;en wir hier herein-<lb/>
rücken; wir treten auf die Brücke, die zum germani&#x017F;chen Stylprinzip und<lb/>
zu der modernen Zeit herüberführt, aber ihre Pfeiler &#x017F;ind, &#x017F;o weit wir<lb/>
gehen, noch vom Mittelalter und vom italieni&#x017F;ch pla&#x017F;ti&#x017F;chen Gei&#x017F;te gebaut.<lb/>
Der Verfall in Manier, den wir zuer&#x017F;t in das Auge fa&#x017F;&#x017F;en, hat freilich<lb/>
in &#x017F;einem inner&#x017F;ten We&#x017F;en ächt moderne, &#x017F;ubjective Bewußtheit, Prahlerei<lb/>
der Virtuo&#x017F;ität zum Grunde, die eitel über dem ausgehöhlten Inhalte<lb/>
&#x017F;chwebt. In der Ge&#x017F;chichte der Phanta&#x017F;ie &#x017F;tellten wir die&#x017F;e Er&#x017F;cheinung<lb/>
in die Vor&#x017F;tufe des modernen Ideals (§. 473), indem wir die Rück&#x017F;icht<lb/>
auf die darin liegende <hi rendition="#g">Stimmung</hi> zum Prinzip der Anordnung machten.<lb/>
Hier aber berück&#x017F;ichtigen wir zunäch&#x017F;t mehr die Stoffe, dann eine gewi&#x017F;&#x017F;e<lb/>
Seite der Stylformen und ziehen daher die&#x017F;e ge&#x017F;chichtliche Wendung der<lb/>
Kun&#x017F;t noch zum Mittelalter. Es be&#x017F;teht nämlich der Wider&#x017F;pruch, daß<lb/>
die&#x017F;e Bewußtheit noch in der Stoffwelt des Mittelalters &#x017F;ich bewegt und<lb/></hi> </p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[718/0226] halb des italieniſchen, plaſtiſch-maleriſchen Styls hinſtellt. Die weſentlich Charakterbezeichnenden, Porträt-artigen Züge des einzelnen Menſchen können mit muſterhafterer Ausſonderung der unweſentlichen, zufälligen, die Großheit des Styles ſtörenden Züge nicht in den Kreis des Schönen hereingezogen werden. Hierin unterſtützt auch ihn das eigentliche Porträt, das er mit demſelben Geiſte ſtyliſirt und doch, wie es der Zweig verlangt, in die nähere, empiriſche Aehnlichkeit hereinführt. Die Farbe hat er in jener Wärme der Seelengluth von ſeinem Meiſter übernommen und führt ſie im Bildniß bis zur Vollendung venetianiſchen Colorits heraus; dieß jedoch nur im Einzelnen, denn auf dieſem Punct öffnet ſich ein neuer Weg, den er nach ſeiner Richtung nicht bleibend einſchlagen konnte. §. 725. Die italieniſche Malerei tritt mit einer bedeutenden Entwicklung noch über die Zeitgrenze des ausgehenden Mittelalters hinaus. Die Manier dringt ein, in der Nachahmung M. Angelo’s als Schwulſt, mit Correggio als falſche Grazie nervös erregter Empfindſamkeit. Aber neben dem Verfall entbindet ſich eine neue Macht: die ächt maleriſche Schönheit des Helldunkels durch Cor- reggio, des zu ſeiner ſpezifiſchen Magie erhobenen Colorits durch die vene- tianiſche Schule. Doch die Conſequenz des ſtreng maleriſchen Prinzips des indirecten Idealiſmus wird hieraus nicht gezogen; auch die venetianiſche Schule bewahrt auf Grund der paduaniſchen Vorſtudien den Adel der Form und bleibt bei den mythiſchen Stoffen, an welche ſie trotz der erhöhten Gewalt, mit der es hervorbricht, auch jetzt, und zwar nur um ſo äußerlicher, das allgemein Menſchliche und Geſchichtliche knüpft. 1. Weit in das ſechzehnte Jahrhundert müſſen wir hier herein- rücken; wir treten auf die Brücke, die zum germaniſchen Stylprinzip und zu der modernen Zeit herüberführt, aber ihre Pfeiler ſind, ſo weit wir gehen, noch vom Mittelalter und vom italieniſch plaſtiſchen Geiſte gebaut. Der Verfall in Manier, den wir zuerſt in das Auge faſſen, hat freilich in ſeinem innerſten Weſen ächt moderne, ſubjective Bewußtheit, Prahlerei der Virtuoſität zum Grunde, die eitel über dem ausgehöhlten Inhalte ſchwebt. In der Geſchichte der Phantaſie ſtellten wir dieſe Erſcheinung in die Vorſtufe des modernen Ideals (§. 473), indem wir die Rückſicht auf die darin liegende Stimmung zum Prinzip der Anordnung machten. Hier aber berückſichtigen wir zunächſt mehr die Stoffe, dann eine gewiſſe Seite der Stylformen und ziehen daher dieſe geſchichtliche Wendung der Kunſt noch zum Mittelalter. Es beſteht nämlich der Widerſpruch, daß dieſe Bewußtheit noch in der Stoffwelt des Mittelalters ſich bewegt und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/226
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 718. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/226>, abgerufen am 21.11.2024.